STATUT
§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.
Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.
Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.
§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.
§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.
§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.
Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.
Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021
Marie Luise Knott
Johann-Heinrich-Merck-Preisträgerin 2024
Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht den Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay 2024 an die Essayistin und Kritikerin Marie Luise Knott. In ihrem weit gespannten Werk nutzt sie die Kunst der minutiösen Lektüre zur Freilegung der politischen und sozialen Energien sowie der Migrationserfahrungen, die in die Literatur wie in die theoretische Reflexion eingehen.
Aus der Jury-Begründung
Der Preis ist mit 20.000 Euro dotiert und wird am 2. November 2024 in Darmstadt verliehen. Die Veranstaltung ist öffentlich. Eintrittskarten können über das Staatstheater Darmstadt erworben werden. Der Vorverkauf beginnt circa 3 Wochen vorher. Wir informieren Sie gern über unseren Newsletter.
Der Preis wird vom Wissenschafts- und Technologieunternehmen Merck finanziert.
Germanist
Geboren 21.10.1922
Gestorben 29.4.2024
Mitglied seit 1977
... dessen Bücher und Kritiken geprägt sind von der Freiheit des Essays, tragend, zweifelnd, neugierig, offen für Widerspruch und Revision.
Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann
Vizepräsidenten Elisabeth Borchers, Norbert Miller, Ivan Nagel, Beisitzer Iso Camartin, Eckhard Heftrich, Hans Wollschläger
Quer gegen die Wahrheiten des Augenblicks
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Gäste, mein freundlicher Laudator ist ein erfahrener Leser der Weltliteratur, und ich bin glücklich und beschämt, daß er zu Zeiten die Muße fand, einige meiner Rezensionen und Essays in seine Lektüre aufzunehmen, um mir auf die Spur zu kommen, die ich so gerne verwische. Er kennt mich jetzt besser als ich das selbst vermöchte, und er wird mit mir gewiß übereinstimmen, wenn ich sage, daß die hochverehrte Akademie für Sprache und Dichtung diesmal einen Johann-Heinrich-Merck-Preisträger gewählt hat, der sich selbst als eine Art Winkelexistenz begreift, den deutschen Schauplätzen ferne, zumindest elf von zwölf Monaten, und in vergangenen Jahren eher als transatlantischer Schulmeister in Seminaren und Klassenzimmern engagiert, als in jenen öffentlichen Auseinandersetzungen, die den Zeitgeist definieren. Die Folgen der neueren Geschichte kenne ich zur Genüge, aber ihren berühmten Männern und Frauen bin ich selten begegnet, mit Ausnahme des amerikanischen Expräsidenten Herbert Hoover, der allerdings mit meiner Tätigkeit gar nicht zufrieden war. Das kam so ...: Nach meiner Ankunft in New York arbeitete ich in einem feudalen Herrenklub, Ecke Fünfte und Einundfünfzigste Straße, als wohlbestallter Liftboy in einer bordeauxroten Uniform mit goldenen Tressen, aber im Lift des Hintertraktes, der mit einer Kurbel und viel Augenmaß bedient werden mußte und nicht mit einfachen Knöpfen, und dieser Lift diente noch dazu, die berühmten Gentlemen aus dem Dampfbad unten in ihr Zimmer oben zu befördern. Einer von ihnen war eben Mr. Hoover, der sich meiner Beförderungskunst anvertraute und mich so verwirrte, daß ich übers Ziel schoß und der Lift zwischen zwei Stockwerken öffnete, ehe ich ihn, noch warm und dampfend wie eine aufgewärmte Semmel und im Bademantel, im richtigen Stockwerk ablieferte. Die historischen Worte, die er damals an mich richtete, will ich gar nicht wiederholen, um meine internationalen Beziehungen nicht zu trüben.
Nein, allen Ernstes; ich bin heute nicht weniger verwundert als damals, und weiß nicht, ob daran der Jetlag allein schuld ist, oder der willkommene Entschluß der Akademie, mich aus meinem Spitzwegwinkel in der Yale Bibliothek zu entfernen und mich mit einem Male in die Mitte eines Theaters zu stellen und noch dazu bei ausverkauftem Haus. Ich wollte nicht immer ein Einzelgänger sein, aber ich lernte früh, daß ich selten von mir sagen konnte, ich gehöre zu einer Gruppe von Alters- und Zeitgenossen, deren Gedankenwelt, nach Ort und Epoche, ganz die meine wäre; und selbst wenn ich mich mit dieser und jener Attitüde solidarisch fühlte, ergab sich im nächsten Augenblick der Ernüchterung, daß ich mich getäuscht hatte. Meine Affären waren, im Zeitalter genauer bürokratischer Normen, ein wenig kompliziert; mein Vater war aus einer Südtiroler Familie und ladinischer Herkunft, und meine Mutter eine tschechische Jüdin aus der böhmischen Provinz, und die beiden mußten einander nicht lange in der alten K. und K. Monarchie suchen, um einen multikulturellen Sohn in die Welt zu setzen, damals und noch lange politisch höchst inkorrekt. Ich lernte viel über mich selber, als ich unlängst in einer ORF-Reportage aus Sarajewo einen schwarzen Doktor aus Nigerien sah, den es dorthin verschlagen hatte, und der ein wenig selbstironisch beteuerte, »I am a complete Bosnian«. Meine Erfahrungen waren lehrreich, denn es stimmte immer irgend etwas nicht, politisch oder national. Kaum hatte ich meine Heimatstadt Prag nach dem kommunistischen Putsch verlassen und war durch die böhmischen Wälder marschiert, da saß ich auch schon in einem Münchner Café mit Hans Werner Richter beisammen, wir sprachen, wies sich gehörte, über Politik und Literatur, ich glaubte die Prüfung als Antifaschist bestanden zu haben, da ergab sich aber, daß ich bei einem amerikanischen Sender arbeitete, und das war nicht comme il faut, und wir tranken keinen Kaffee mehr. Zu fast gleicher Zeit erschien in der Münchner Sudetendeutschen Zeitung, dem Organ der Landsmannschaft, ein Artikel mit der Überschrift »Renegat Demetz beim Sender Freies Europa«, und ich wußte nicht recht, ob ich mich geschmeichelt fühlen sollte, weil man dem eben entflohenen Studenten überhaupt Aufmerksamkeit schenkte, oder wütend, weil mir jemand vorschreiben wollte, wohin ich eigentlich gehörte. So zog es mich in die Vereinigten Staaten, weil es dort einfacher war, »to be a complete Bosnian,« und wenn Amerika nicht schon da gewesen wäre, so hätte ich es für mich erfinden müssen.
Ich ertappte mich bald dabei, daß ich eine schiefe oder gar schielende Optik entwickelte, ein wenig quer und gegen die akzeptierten Wahrheiten des Augenblicks. Einer wie ich hatte, in seiner schielenden Optik, gar keine andere Wahl als in der Literatur, oder in den Literaturen, nach Elementen zu suchen, die Parteimanipulationen und schrecklichen Vereinfachungen einigen Widerstand entgegensetzen. Der Liberale als Formalist fand sie in der Organisation des Materials eher als in der Priorität von Bedeutungen, die sich die Interpreten im Dienste wechselnder Interessengruppen zunutze machen wollten. Meine Erfahrungen mit den Nationalsozialisten und den späteren Anwälten des Sozialistischen Realismus, und auch der Forderung dieser und jener Nation, so und nicht anders in der Literatur ergriffen zu werden, trugen dazu bei, meine Allergie gegen die prinzipielle Bedeutung von Bedeutungen zugleich mit meinem Interesse an jenen formalen Arrangements zu steigern, in welchen alle jene Worte, die wir sonst in sorgloser Alltäglichkeit benutzen, neue und überraschende Verbindungen eingehen. Zugegeben: wer wollte ein silben- und formstechender Philologe solcher Art sein, wenn er/sie die Möglichkeit hätte, im literarischen Text nach den Geheimnissen des Unbewußten zu graben, die Welt, oder zumindest das bürgerliche Theater, eingreifend zu verändern, oder sich zumindest als Guru im Überbau nützlich zu machen? Seelenforscher, Weltveränderer und Metaphysiker nehmen nicht gerne zur Kenntnis, daß alle Worte, an denen in der Literatur Bedeutung haftet oder ihnen angeklebt wird, immer in bestimmten Prägungen und Architekturen erscheinen, die unmittelbaren Aussagen, wenn es solche überhaupt gibt, bremsen, modifizieren, verwandeln. Es ist einfacher, sich auf den emanzipatorischen Schiller zu berufen als auf den Ästhetiker, der über jene Aktivisten und Philosophen klagte, die ein Kunstwerk erst zerstören müssen, um daran ihre Freude zu haben.
Seit mehr als zwanzig Jahren lese ich Susan Sontags Essay gegen Interpretation mit aufrichtigem Respekt und stimme doch nicht ganz mit ihr überein. Sie fordert, wir müßten den Eros gegen die Hermeneutik mobilisieren, aber die Ansprüche des Eros gegen die Interpretation öffnen eine falsche Alternative. Die beiden waren ja jahrhundertelang, in Seminarien und Studierstuben, enge verbündet (wenn sie einander nicht gegenseitig genährt hatten), und Friedrich Daniel Schleiermacher, der romantische Gesetzgeber einer erotischen Hermeneutik, ist Susan Sontag leider entgangen. Ihre ersten Gründe, die sie dazu bewegen, falsche Alternativen zu konstruieren, sind durchaus legitim. Sie argumentiert ja, wie es die Petrograder Formalisten taten, daß der industrielle Alltag unsere Sensibilitäten mit Masse und Redundanzen bedroht und zerstört, und sie betont zurecht, daß die Hermeneutik die sinnliche Erfahrung des Literaturtextes zuallererst voraussetzt. Die Erfahrung der Literatur, nicht die Interpretation, belebt unsere Sensibilitäten und lehrt uns, mehr zu sehen, mehr zu hören, und unsere Aufmerksamkeit auf die »Durchsichtigkeit der Artefakten« zu richten. Sie mag ein Aspekt, so füge ich hinzu, jene resplendentiae formae sein, jener strahlenden Form, die Albertus Magnus rühmt.
Es gibt Augenblicke, da wollte ich lieber ein Musikrezensent oder Kritiker der graphischen Künste sein als ein Leser linguistischer Artikulationen. Solche Kritiker, so stell’ ich mir vor, haben geringere Schwierigkeiten, die Reinheit ihres Objekts zu erkennen, denn ihre Materialien, ob nun Lehm, Stein, oder gewisse Schwingungen der Luft, haben außerhalb der arrangierten Formen und ohne von einem kompositorischen Griff erfaßt zu sein, keinen Sinn. Der Literaturkritiker, der den von den Worten in den Text geschmuggelten Bedeutungen nicht zum Opfer fallen will, kann sich gar nichts anderes wünschen, und wäre das noch so wunderlich, als eine Literatur ganz ohne Worte. Die Frage ist, ob wir im Namen unserer emanzipatorischen Forderungen, die sich allerdings an Inhalten festkrampfen, nicht allzu viele Potentialitäten der jouissance oder der Lust des Intellektes, wie sie Roland Barthes nannte, ignorieren und unterdrücken, und ich kehre deshalb gerne zu jenen Autoren der historischen Avant-Garde zurück, welche die Fixation auf Bedeutungen für eine kleinbürgerliche Infektion hielten. Nichts freute mich mehr, als in Adolf Endlers eben erschienenen Sudelbüchern über den Prenzlauer Berg zu lesen, daß man dort im Widerstand gegen die Kulturbehörde die Avantgarde der zwanziger Jahre studierte und in neuen Variationen probte – zu ungefähr gleicher Zeit, da ich meinen amerikanischen Studenten (etwa viertausend Meilen von Berlin-Mitte entfernt) erklärte, welche Tugenden die avantgardistischen »Freien Worte,« ganz ohne Syntax, und die verbalen Collagen besäßen. Also nicht Derrida, denn es geht nicht um Erkenntnistheoretisches, sondern Kurt Schwitters, der mit der artistischen Möglichkeit spielte, Kompositionen mit Worten herzustellen, die im neuen Zusammenhang ihrer gewohnten Bedeutung verlustig gehen, und Kompositionen bilden, die unsere hermetischen Neigungen abgleiten lassen oder sie nicht bestätigen wollen. Sie verweigern sich, lächelnd, aber mitleidslos, jedem Versuch, die arrangierten Worte zu verstehen oder mißzuverstehen, sich einer parteilichen Reklamation zu unterwerfen, und demonstrieren die Brüchigkeit aller Interpretationen. Der Mensch ist ein hermeneutisches Wesen, das nach Bedeutungen hungert, aber es wäre besser, wenn er auch, in der Literatur, seinen Augen, seinem Ohre, seinem Gehöre und seiner Haut vertraute.
Nun aber ist es hoch an der Zeit, Ihnen allen meinen Dank auszusprechen und zu sagen, wie es mich freut, aus meinem Bibliothekswinkel für einen Augenblick ins Rampenlicht geraten zu sein und den Johann-Heinrich-Merck-Preis entgegen nehmen zu dürfen. Ich danke Herrn Reinhard Baumgart, der sich die außerordentliche Mühe nahm, meine verstreuten Beiträge und Aufsätze zu finden und zu lesen, und ich glaube zu wissen, daß wir einander, nach einer Begegnung vor Jahrzehnten, nie ganz aus den Augen verloren und daß in seiner freundlichen Laudatio auch die Erinnerung an jene ferne, aber produktive Epoche deutschen literarischen Lebens gegenwärtig war, in welchem die Gegensätze und Konflikte noch so einfach schienen. Ich danke der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, ihrem Präsidenten und ihrem Sekretär, den ich, widersprüchlich genug, häufiger in Klagenfurt als in Darmstadt sehe, und ich will nicht schließen, ohne (hier bin ich mir der Zustimmung meines Laudators gewiß) den Namen des Akademiemitgliedes Hans Paeschke zu nennen, der sich in frühesten Zeiten meiner annahm. Er war einer der ersten, der mich ermutigte, kleine Beiträge für den Merkur zu liefern, und obgleich er lieber alles selber geschrieben hätte, lernte ich in vielen Gesprächen in der Münchner Ainmillerstraße, wie man Kritiken schreibt. Ihnen allen, und ihm, danke ich auf das herzlichste.