STATUT
§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.
Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.
Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.
§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.
§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.
§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.
Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.
Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021
Literaturwissenschaftler und Schriftsteller
Geboren 17.7.1960
Mitglied seit 2002
Michael Maar, dem ernsten Kritiker und Essayisten, der in einer Epoche des immer mehr verkommenden öffentlichen Sprechens die Tradition der großen Darlegungssprache fortführt...
Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann
Vizepräsidenten Elisabeth Borchers, Norbert Miller, Ivan Nagel, Beisitzer Iso Camartin, Eckhard Heftrich, Hans Wollschläger
Der Gnom in der Kathedrale
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Im Portal einer großen Kathedrale in Frankreich, dem Buchhändler-Portal in Rouen, versteckt sich eine kleine liegende Gestalt, ein nur wenige Zentimeter großes Männchen. Es stützt den Kopf in die Hand, die Hand preßt sich fest gegen den Wangenknochen, wodurch sich die Haut unter dem Auge in Falten legt. Sein Ausdruck ist gelangweilt und es schaut verschlagen, mit einem Stich ins Bösartige. Dieser unschöne Gnom, der eine kleine Lücke in der Figurenwand des Portals ausfüllt, blieb dort unbeachtet, verloren unter vielen hundert ähnlichen Figuren, bis der Kunstkritiker John Ruskin kam, der ihn mehrere Tage lang abzeichnete und seinen unbekannten Schöpfer pries.
Nach Ruskins Tod fühlt sein Verehrer Marcel Proust den dringenden Wunsch, die kleine Figur zu sehen. Er pilgert dem Verstorbenen nach und macht sich auf die Suche. Vor dem Portal begreift er, daß es unmöglich ist, in diesem übermenschlichen Volk ein so kleines Wesen zu entdecken, doch da, durch Zufall findet er es doch und erkennt es gleich an dem schiefen Blick, den es ihm aus seiner winzigen Pupille zuwirft. Proust ist bewegt und schreibt über das Wunder der Auferstehung, das dem kleinen Ungeheuer, das ewigem Vergessen anheimgegeben schien, so triumphal zuteil wurde wie den in seiner Nähe sich rekelnden Toten, die der Trompetenstoß des Erzengels weckt.
Meine Damen und Herren: das grimmige Männchen des Buchhändler-Portals ist ein Memento für jeden Leser – und als solcher, als Leser, möchte ich hier zu Ihnen sprechen und der Akademie wie meinem Laudator für die hohe Ehre danken, mit der sie ein Werk bedacht haben, das sich zuerst als das eines Lesers verstanden wissen will. Für den Leser nun ist das von Proust verklärte Steinmännchen eine Mahnung und eine Erinnerung an seine Pflichten. Von ihm, dem Leser, hängt es ab, ob die Kathedralen zu großen Gräbern werden oder nicht. Überall in den Werken der Literatur wimmelt es von Gnomen, von Randfiguren, von unscheinbaren Details, die darauf warten, nicht überlesen und aus ihrem Interimstod gerissen zu werden.
Die Kunst ist nichts ohne ihre Details. Diese Details aber leben nur, solange sie wahrgenommen werden und in ihrer Funktion gewürdigt. Der kleine Griesgram hatte keine andere, als jene Lücke des Portals zu füllen, und doch ist er in seiner Eigenart ein kurioser in Stein erstarrter Gedanke; ein Gedanke, der Jahrhunderte, nachdem er gefaßt wurde, einen fremden Gedanken anstoßen konnte.
Wie nun die Kathedrale von Figuren und Figürchen übervölkert ist, so gibt es auch in der Literatur ein Gedränge von Haupt- und Nebengedanken. Und wie dort manche Figuren in so schwindelnder Höhe stehen, daß auch ein Ruskin sich die Flügel des Erzengels hätte leihen müssen, um sie abzeichnen zu können, sind auch in der Literatur die höchsten Gedanken vielleicht diejenigen, die sich dem Blick für lange Zeit entziehen. Es gibt hier keine Gesetze, aber wenn es eines gäbe, dann wäre es dieses: daß der Leser fast immer unterschätzt, wieviel sich der Autor gedacht hat. Ein Roman wie Der Zauberberg ist in einer guten Woche zu lesen. Sein Autor schrieb an ihm ein gutes Jahrzehnt. Der Leser wird sich nie klar genug machen, was dieser Unterschied bedeutet, wie er sich überhaupt nie klar genug macht, welche Gedankenströme fließen müssen, bis den Worten ein Bett ausgehoben ist. Er macht sich nicht klar, daß er zwar Buch für Buch liest, der Autor aber Silbe für Silbe schreibt. Und noch über diesen Silben schwebt ein Mehrgedachtes, das sich nicht ganz in ihnen niederschlägt. Der Schriftsteller Nicholson Baker klagt in seinem Romanessay U and I, er habe mit Entsetzen lernen müssen, daß mindestens die Hälfte der inneren fluiden Intelligenz beim Transport ins Geschriebene verlorengehe. Berühmt ist aber auch der Satz seines Lehrers Nabokov, der gesagt hat: »ich weiß mehr, als ich in Worten ausdrücken kann, und das wenige, was ich ausdrücken kann, wäre nicht ausgedrückt worden, hätte ich nicht mehr gewußt.«
Aus all diesen ausgesprochenen und wortlosen Gedanken und Gesten schließt sich dann das Bild zusammen, in dem uns Lesern das verborgene wahre Ich des Autors gegenübertritt, das Proustsche »autre moi«, jenes innere Ich, das er selbst nur flüchtig kennt und das keine andere Möglichkeit hat, den Körpermauern seines Trägers zu entkommen, als die der Verwandlung in die Kunst. Was soll uns Lesern aber dieses fremde innere Ich?
Das genau ist die Frage bei der ästhetischen Angelegenheit des Lesens, die ins Ethische zu spielen beginnt. Die Leistung und das Glücksversprechen der großen Literatur bestehen ja unter anderem darin, daß sie uns Fremdes vertraut macht und Vertrautes wieder fremd; daß das Fremde und das Vertraute ihre Plätze tauschen können wie die Kirchtürme von Martinville, denen der kleine Marcel in der Kutsche entgegenführt. Diesem Versprechen der Literatur liegt aber auch eine stille Forderung zugrunde.
Sie verlangt vom Leser, daß er Fremdes überhaupt wahrhaben will. Sie verlangt nicht mehr, aber auch nichts Geringeres als Interesse am Nicht-Ich. Von diesem Interesse hängt es letztlich ab, ob wir als Leser taugen oder nicht. Die Leser, die in jedem Buch immer wieder nur sich selbst vorfinden, mögen ihre Freude dabei haben. Aber sie sind der Schrecken und die natürlichen Feinde der Steinmännchen. Denn wo sie lesen, fällt kein Blick ab auf die Winzigkeit am Rand. Wo sie lesen, heißt es für die Gnome weitersterben.
Die guten Leser lernen, gelegentlich von sich abzusehen. Sie gehen mit ihrem Ich nicht hausieren. Egoisten sind sie deshalb noch oft genug. Jene schlechten Leser aber sind es immer.
Meine Damen und Herren: lassen wir die Steinschmoller überleben und danken wir den großen Autoren, daß sie uns die Schulen des Lesens geöffnet halten.