Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Klaus Theweleit

Kulturtheoretiker, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller
Geboren 7.2.1942

... für seine weit ausgreifenden kulturpsychologischen Essays, deren Ausgangspunkt das Verhältnis der Geschlechter ist, durch das die alten Themen der Liebe, des Todes und der Kunst in verblüffend neuer Konfiguration erscheinen...

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Klaus Reichert
Vizepräsidenten Peter Hamm, Uwe Pörksen, Ilma Rakusa, Beisitzer Friedrich Christian Delius, Heinrich Detering, Harald Hartung, Joachim Kalka, Peter von Matt

Auflösung festgefügter Schreibformen

Liebes Auditorium,
ich vermute Sie zuerst einmal aufgeteilt in die, die Johann Heinrich Merck bestens kennen und die, denen der Name wenig sagt: wollten Sie sich kurz in der Bibliothek informieren, würden Sie schnell erfahren, daß Merck, Literaturkritiker und Essayist, 1771/2 Redakteur der Frankfurter Gelehrten Anzeigen, ein Freund und Weggefährte Wielands, Herders, Schleiermachers und ganz besonders Goethes war − Goethe, der in seinem Tagebuch den Freund »Mercken« einmal aus allen Menschen hervorhob mit der Formulierung, daß »er der einzige Mensch ist, der ganz erkennt, was ich tu und wie ichs tu«. Das höchste Lob, also. Das war am 13. Juli 1779, Goethe war dreißig Jahre alt, auf dem Gipfel seines Werther-Ruhms; Merck war achtunddreißig, und neben seinem literarischen Wirken angestellter Kriegskassenverwalter am darmstädtisch-hessischen Hof.
Später im Leben, auf Grund persönlicher Querelen und wie immer auch aus unerfindlichen Gründen, hat Goethe Merck einen Mephisto genannt, und ihn schließlich sogar in Dichtung und Wahrheit zu dem Mephisto promoviert. Informiert man sich darüber genauer in der ausführlichen Merck-Biographie von Walter Schübler, erfährt man, daß es eine recht unverdiente Zuschreibung ist, die Goethe dem einst geliebten Jugendfreund damit angehängt hat; aber eine sehr haltbare. Selbst in einer Fußnote in Walter Benjamins Kunstwerk-Aufsatz findet man Merck als »Vorlage« des goetheschen Faust-Mephisto verzeichnet.
Aber nicht nur der Namensgeber des Preises, auch die Reihe der früheren Preisträger hat mich beschäftigt. Unter diesen besonders zwei, an deren Ausführungen ich etwas anknüpfen möchte. Ich spreche aus einem Dreieck heraus, gebildet von Johann Heinrich Merck, Peter Rühmkorf und Friedrich Dieckmann, genauer: deren Dankesreden zum Preis aus den Jahren 1976 und 2001.


Peter Rühmkorf fand sich in einer Zwickmühle: warum bekam er, der fanatische Lyriker, den Merck-Preis für literarische Kritik und Essay? Zwar war er durchaus Kritiker und Essayist, jedoch nur in einem kleineren Teil, dem allerdings broterwerbenden Teil seiner Person. Diesen stellte Rühmkorf vor unter dem Titel: Schreibmaschinist. Aufgabe dieses Prosamanns sei es, »eine systematisch verunklärte Gesellschaft zu entnebeln und zu drainieren«, die kritische Aufgabe also; die Merck-Seite der eigenen Produktion. Der Lyriker, der mit dem Schreibmaschinisten in einer Art Wohngemeinschaft lebe, leiste sich demgegenüber Rauschzustände, stelle seine Krankheiten aus, halte sie auch noch für »objektive Zeitanzeiger«, ein asozialer Depressionsartist. In einem heftigen Tanz der Worte, der in seiner Schwindelbewegung klarstellte, daß es die Poesie sei, »die sich trotz allem für die eigentliche und wesentliche Produktivkraft hält«, löste Rühmkorf das Dilemma, indem er um die Erlaubnis bat, das Preisgeld zu Hause bei sich in Hamburg weiterzugeben bzw. umzuwidmen an den daheimgebliebenen Poeten, daß der nicht weiter verwildere zum verbiesterten Desperado. Eine schöne, eine schön verrückte Rede.
Mir geht es mit dem Preis ein bißchen ähnlich, was die Idee der Preis-Umverteilung angeht. Zwar gibt es Essaybände von mir, aber ob Männerphantasien, Buch der Könige oder Pocahontas »Essays« sind, weiß ich nicht. Ich weiß aber auch nicht genau, was sie sonst wohl wären. Eine klare Autor-Figur, wie Rühmkorf den Lyriker, kann ich nicht anbieten als Preisträgeralternative. Schreibe ich historische Untersuchungen? Ja; aber im strengen Sinn: nein. Sie sind zu erzählerisch. Schreibe ich eine Art Romane? Manche sagen: schon eher; aber im strengen Sinn: nein. Sie bauen sich nicht um Handlungen; und sind auch zu wissenschaftlich. Als Wissenschaft aber nicht recht verortbar. Bis heute wissen Buchhändler nicht, wo sie die Männerphantasien hinstellen sollen, zur Faschismustheorie, zur Genderforschung, zur Psychoanalyse, oder sonstwo. Ein Kritiker in der Zeit nannte meine umfangreicheren Sachen einmal Theorieromane. Das kommt ihrer Anlage vielleicht näher. Aber dann sind sie ja auch noch Bücher, die in lang angelegten Bildersträngen sprechen. Manche Leser sehen eher eine Art geschriebenen Film in dem, was ich mache. Andere wieder betonen die Sounds, den Klang und den Fluß der Sprache. Eine Art kritischer Prosagesang; gewiß, das sollen die Texte auch sein. Einen bezeichnenden Ausdruck fand dies Zuordnungsdilemma in der Reaktion der Kritik auf das Buch der Könige 2x + 2y 1995. Es wurde gleichzeitig platziert auf den Bestenlisten für Sachbuch und für Belletristik; ein Teil der Kritiker hatte es als »schöne Literatur« gelesen; ein anderer als kunsttheoretische Untersuchung zum Thema Kunst und Macht.
Die Kritiker wissen es also auch nicht, welche Sorte Autor sie an mir haben. Mir wäre es lieb, man nähme dies als Indiz für das Überholte überkommener Autor-Klassifizierungen. Johann Heinrich Merck hat sich, so Rühmkorf, »ständig im Widerspruchsfeld zwischen Kunsttheorie und Kunstproduktion bewegt«; im Feld der »heimlichen dialektischen Verklammerungen von Produktion und Programmatik, Aufklärung und Ausdruck, Theorie und Darstellung.« Genau das warf Goethe ihm vor: daß er sich nicht klar für die Seite der Kunstproduktion entschiede. Während es für mich zu den Schreibvergnügen zählt, die Gegensatz-Paarbildungen solcher Widerspruchsfelder und deren heimliche Dialektiken hinfällig zu machen, Grenzziehungen wie die zwischen Sachbüchern und belletristischen Büchern also zum Verschwinden zu bringen. Kritik, Wissenschaft, schöne Literatur gehen bei avancierteren Autoren seit längerem ineinander über. Ein schönes Beispiel dafür sind selbstverständlich die Arbeiten von Alexander Kluge; der dazu den Vorzug hat, Filme nicht nur zu schreiben, sondern auch zu machen.
Da ich also definitiv nicht weiß, wie jener Teil oder jene Teile von mir zu benennen wären, an die ich den Preis um-adressieren könnte, bleibt mir nur der umgekehrte Weg, ihn im Namen aller meiner Autor-Partialitäten zu empfangen. Ich gebe also meiner Mehrfachfreude Ausdruck. Dies umso mehr, wenn ich bedenke, vor welche Schwierigkeiten dies Zuordnungsproblem die Mitglieder der Jury gestellt haben muß, die mich als diesjährigen Empfänger gerade dieses Preises gewollt und durchgesetzt haben. »Ich« habe auch keine Sekunde gezögert, mich über den Preis richtig zu freuen. Schließlich definiere ich mich im Alltag nicht als Konglomerat diverser Autorensorten, sondern als Mensch in Familien- und Freundesbeziehungen. Meine Frau liest und kritisiert alle meine Sachen, bevor sie erscheinen. Das heißt, sie verändert sie, aber nicht, indem sie sie tippt. Sie hat eigene berufliche Wege. Dafür geht unsere Art und Weise, zusammen zu leben, in die Schreibweise der Texte ein. Zum Auflösen festgefügter Schreibformen gehört eine Auflösung gesellschaftlicher Beziehungsmuster; so habe ich es jedenfalls immer empfunden. Dazu gehört auch die Veränderung der üblichen Beziehungsmuster von Autor und Verlag.

Friedrich Dieckmann bemerkt in seiner Dankrede im Jahr 2001, daß nur wenige Preisträger sich zur Person Johann Heinrich Mercks geäußert haben – aber alle Büchnerpreisträger zu Büchner. Dem wollte er abhelfen. Er hat dies so akribisch und präzise getan, daß auf der Biographie-Ebene wenig hinzuzufügen bleibt. Ein neues Licht hat Dieckmann dabei auf den Suizid von Johann Heinrich Merck geworfen; ein Licht, von dem mir scheint, daß man seinen Kegel noch etwas anders einstellen kann, als Dieckmann dies tat.
Worum geht es? Um Mercks letzte Lebensjahre. Er schien von verschiedenen Lebensunglücken zerstört; vier der sieben Kinder, die seine Frau Louise geboren hatte, waren früh gestorben; die meisten Freundschaften zerbrochen. Die Gründung einer Baumwollspinnfabrik verlief desaströs. Seine Arbeit als Kriegskassenverwalter des Fürsten war trist. Und er war krank. Sein allgemeiner Zustand wird von den Zeitgenossen als der einer »Melancholie« beschrieben; das ist das damals übliche Wort für schwere Depression, wenn nicht Schlimmeres.
Im Januar 1791 schickte der Darmstädter Landgraf Ludwig X. seinen maladen Kriegskassenverwalter nach Paris mit der Aufgabe, die Chancen der Gegenrevolution zu erkunden. Merck findet nicht nur keine Anzeichen für eine Contre-Revolution in Paris; er wird vielmehr zum feurigen Anhänger der Revolution. Er hat das vorher schon geahnt, wenn er nach Hause schreibt, Paris überträfe alle seine Erwartungen, an Gesinnung, an Größe der Bilder, an »Durst nach Wahrheit, Tugend, Menschengefühl.« An Wieland schreibt er, »daß die Constituzion steht und unwandelbar stehen wird.« Jacques-Louis David, der Maler der Revolution, führt Merck − der in Dresden anderthalb Jahre an der Kunstakademie studiert hat und auch ein versierter Kunstkritiker ist − in den Jakobinerclub ein. David schreibt an Merck: »Ich bin beglückt, daß Sie, aus Liebe zur Freiheit, oder besser gesagt, aus Liebe zur Menschheit, die Grundsätze, zu denen sich Jakobiner bekennen, verbreiten werden, und zwar in Ihrer Heimat.«
Zurück in dieser Heimat findet Merck mehr als nur Anzeichen für eine Gegenrevolution. Am Darmstädter Hof versammeln sich im Juni 1791 die Häupter der französischen Adelsemigration, unter ihnen der Graf von Artois, der Bruder Ludwigs XVI. Unterstützt von Leopold, dem Kaiser von Österreich, nimmt der Aufmarsch der Contre-Revolution Gestalt an. Merck steht es bevor, binnen kurzem gegen seine Jakobinergenossen nach Frankreich einzumarschieren, als Kriegskassenverwalter seines Fürsten. Er erschießt sich am Ende dieses Monats.
Hier setzt Dieckmann seinen Akzent. Näherliegend als der Suizid aus Depression, Krankheit, drohender Armut, die die Biographen geltend machen, sei »die Annahme, daß der Konflikt zwischen Jakobinerverpflichtung und Kriegskassenverwaltung sich ihm in sich zuspitzender Lage als unlösbar darstellte.« Das scheint plausibel − besonders wenn man berücksichtigt, daß Mercks allgemeiner Zustand sich durch seinen Parisaufenthalt sehr gebessert hatte. Mit der Begeisterung für die Revolution kam der Lebensmut zurück. Auch Mercks finanzielle Lage hatte sich 1791 entspannt. Durch günstige Verkäufe konnte er ein Darlehen zurückzahlen, das er von Carl August, dem Herzog von Sachsen-Weimar (von Goethes Herzog also) erhalten hatte im Moment der höchsten Not.
In der Tat eine grausame Klemme: abhängiger Angestellter eines Feudalherrn zu sein; mit Fürstenkrediten eigene finanzielle Pleiten überbrücken zu müssen; aber der französischen Revolution anzuhängen und gezwungen zu sein, kriegerisch gegen die Republik vorzugehen: Merck am Schreibtisch mit dem Bild vor Augen, wie er in Paris seinem geliebten Maler David gegenübertritt – als Zahlmeister von dessen Erschießungskommando. Eine Horrorszene. Eh ihm diese Vorstellung das Herz bricht, schießt er es sich lieber weg.
Nehmen wir an, dies sei, wie Dieckmann meint, das auslösende Moment gewesen für Mercks Schuß − dann wäre dies ein politischer Tod einer Sorte, die es eben erst zu geben begann in der europäischen politischen Welt. »Mercks Preis« hat Dieckmann seinen Text überschrieben. Nicht Preis, den jemand bekommt, sondern Preis, den jemand zu zahlen hat. Es wäre der Preis für jene Koppelung, die in eben diesem historischen Moment Ende des 18. Jahrhunderts in aufklärerischen Köpfen erfunden wird: der Preis für die Koppelung der eigenen individuellen Existenz mit den politischen Großereignissen der Zeit: zu sterben also für ein Abstraktum; für die Ideen und Ziele der französischen Revolution, so wie im 20. Jahrhundert so viele gestorben sind für die Ideen und Ziele der kommunistischen Revolutionen; und niemand kann sagen bis heute, ob das nicht alles ein bißchen sinnlos war.
Merck hätte, wie andere Zeitgenossen mit einem kühleren Kopf, ja abwarten können und darauf rechnen, daß der Graf von Artois nicht sehr weit kommen würde mit seinen royalistischen Truppen in Frankreich. Genau das geschah. Bis 1796 ziehen immer wieder royalistische Truppen gegen die Revolution ins Feld; Paris erreichen sie nie. Und noch ein, zwei Jahre weiter hätte Merck dann etwas ganz anderes erlebt; nämlich wie seine ideale französische Revolution sich selbst erledigt; sich selbst wegschwemmt im eigenen Blut. Er hätte darüber schreiben können, wie es später sein Ex-Freund Goethe macht. Goethe, der kühlere, hört ein Jahr nach Mercks Tod, mit seinem Herzog unterwegs in Frankreich gegen die Revolution, aus einem Kanonenfieber die Töne einer neuen Epoche der Weltgeschichte. Er war dabei und hat das so notiert; wenn auch erst 30 Jahre später veröffentlicht. Und widmet da den Vereinigten Staaten, die sich im 4. Jahrzehnt ihres Zustands unter einer freien Constituzion befinden, die Gedichtzeile Amerika, du hast es besser.
An einer anderen Krümmung des Freiheitsplans sieht der Professor Hegel in Jena den Weltgeist zu Pferde, einen postrevolutionären kleinwüchsigen Franzosen, am Fenster seiner Studierstube in Jena vorübergleiten. Hegel, ein weiteres Exemplar der neuen sich selbst erfindenden Kaste der individuellen Weltlagen-Bedenker mit allgemeinem Geltungsanspruch, ist berührt, und notiert das so. Auch Friedrich Schiller und Ludwig van Beethoven diktieren ihre allhumane Brüder-Arie ins Notizbuch bzw. ins Gesangsbuch der weltgeschichtlichen Generalabläufe.
Der Weltgeist nach Noten und der Einzelgeist in Nöten gewöhnen sich dann daran, sich in fortlaufenden kategorischen Imperativen, immer neuen qualitativen Sprüngen, in Monsterchören und diversen weiteren unerhörten Salti mortali der Kritik und der Essayistik unaufhörlich über die Grabesränder verschlingender Zeitläufe dialektisch hinwegzuretten... but John Henry’s Body Lies Modering In The Ground... hat er sich vielleicht etwas vorschnell aus dem Spiel geschossen?
Und: verlohnt es denn das Pulver? Wegen eines revolutionären Malerfreunds in Paris? Wie ist es dem Maler David überhaupt ergangen? Jacqes-Louis David, die große Kunstnummer der Großen Revolution der Grand Nation −: als Mitglied des Nationalkonvents leitete er die großen Feste und organisierte die staatlichen Kunstmaßnahmen. In politischen Märtyrerbildern (Jean-Paul Marat u.a.) feierte er die Helden der Revolution. »Nach dem Sturz Robbespierres wurde er angeklagt und entging knapp dem Tode«, sagt das Lexikon. Napoleon, den er bewunderte, macht ihn zum Hofmaler; David verherrlicht die Geschichte des Kaiserreichs (Napoleon auf dem St. Bernhard, Kaiserkrönung, Verteilung der Adler). Als nach Napoleons Ende die Bourbonen auf den Königsthron nach Paris zurückkehren, muß David, der im Konvent für den Tod Ludwigs XVI. gestimmt hatte, das Land verlassen. Achtundsechzigjährig emigriert er nach Brüssel. Dort verbringt er als europäisch hochverehrter Malerfürst sein letztes Jahrzehnt. Und verkauft zwei seiner Napoleonbilder tatsächlich 1819 für 100.000 Francs an die Bourbonen, die ihn ebenfalls bewundern. Er stirbt 1825, mit 77 Jahren; den Darmstädter Jakobinerfreund Merck hat er um 34 Jahre überlebt. Ob er zuweilen an ihn gedacht hat, den idealistischen Deutschen − keine Ahnung.
Wie so vielen andern Franzosen, die »aus Liebe zur Freiheit« und aus »Liebe zur Menschheit« 1789 zu Aufrührern geworden waren, war es David gelungen, den revolutionären Elan der Jakobinertage auf die Verehrung des revolutionären Elans des Großen Korsen zu übertragen. Dazwischen liegt die etwas unpräzise aber umso bedeutsamere Formel »wurde angeklagt und entging knapp dem Tode«. Wie macht man das, knapp dem Tode entgehen. Die Formulierung legt ja nahe, daß es sich um eine Aktivität handelt dabei. Manche bekommen die nicht hin.
Liegt es etwa an den Formen? Liegt es daran, daß man mit »Essay und Kritik« einfach nicht so lange durchhält wie als hochdekorierter Hersteller großer Historiengemälde? Wer in Romanen denkt oder in vergleichbaren Großentwürfen der Menschengesellschaft − lebt einfach länger? Wie die Reihe der Goethes und Thomas Manns zu beweisen scheint gegenüber der Reihe der Büchner, Mercks oder auch Walter Benjamins. Wird man nicht recht alt, wenn man nicht auch etwas Roman-Talent hat im Zeilenfall des eigenen Lebens? Fragen!
Auf jeden Fall zu lernen gewesen wäre hier, aus den Ereignissen der Jahre 1791 bis 1804: man soll sich nie aus politischen Gründen erschießen, und auf keinen Fall zu schnell. Die Berechnungsparameter werden alle naslang geändert; sowohl für das, was als »Revolution« jeweils gilt, was als »Freiheit« gilt und was nicht, wie auch die Parameter geändert werden für die Zins- und Rentenberechnung oder die anderen Dinge des Lebens. Goethe bemerkt im Alter von 75 Jahren altklug zu Eckermann, »die menschlichen Dinge haben alle 50 Jahre eine andere Gestalt«. Daß immer noch eine Wendung kommt, in der alles umgeschrieben wird oder werden kann: es wäre auch Mercks Erfahrung geworden, hätte er durchgehalten bis zum Sechzigsten.
Ob er es hätte wissen wollen? Weiß ich nicht.