STATUT
§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.
Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.
Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.
§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.
§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.
§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.
Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.
Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021
Literaturwissenschaftler und Journalist
Geboren 26.9.1932
Gestorben 4.8.2021
Mitglied seit 2011
Karl Heinz Bohrer, der als Essayist und Kritiker seine Umwelt, die Literatur und die schönen Künste mit sinnlichem Intellekt wahrnimmt...
Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Peter de Mendelssohn
Vizepräsidenten Karl Krolow, Horst Rüdiger, Dolf Sternberger, Beisitzer Gerhard Storz, Bernhard Zeller, Eva Zeller
Was wir übersehen: diese schöngeistige Flaute? Den warmen Teich, dieses stehende Gewässer, in dem die wenigen Hechte von vollmundigen Karpfen gefressen werden? Diese literarischen Scheingefechte, wo man in blanker Entrüstung noch lügt und der Ausgang längst feststeht, geregelt durch die Regeln der Institution? Diese aufgeräumte Betulichkeit, so als ob nichts wäre. Ist was? Nein, es ist nichts. Das übersehen wir: nicht als eine Stimmung, nicht als eine Maßnahme nur: Nein, diese laue Suppe schwappt auch dort über, wo sie längst hätte verdunsten müssen, wenn die Chemie noch stimmte: bei der literarischen Kritik, beim diagnostischen Essay. Beide Formen, ursprünglich die aggressiver Unterscheidung oder angestrengten Versuchs, gilt schon seit längerer Zeit nicht mehr wieder zu erkennen. Aus dem Scharfsinn des ästhetischen Urteils, wie ihn die romantische Kritik erfand, wurde schöngeistige Assoziation oder pedantische Belehrung. Aus der Waghalsigkeit, dem Vorstoß des Essays, diesem Versuch und dieser Selbstentblößung, wurde kulturgehorsame Betrachtung, das schöne Deutsch ohne strategische Absicht und eine harmonische Rhetorik, die sich bloß selbst ausstellt, aber nichts mehr erkennt. Haben die Schöngeister, die Schulmeister, die Kulturgehorsamen Kritik und Essay entstellt, indem sie beides nicht als Mittel schmerzender Unterscheidung, sondern als Mittel der Anpassung an das, was ist, benutzen, wie Dressmen dabei dem Publikum zulächelnd? Wenn sie aggressiv sind, leugnen sie das Unvorhergesehene, wenn sie ironisch werden, bestätigen sie die Konvention, wenn sie Gründe anführen, löschen sie die Phantasie aus. Warum? Der Mangel, an dem sie leiden, ist ein chronisches Zuviel, ein Zuviel an Behagen in diesem Karpfenteich, in dem die Hechte sterben. Ihr Zuwenig aber ist das eigentliche Element, das Kriterium der richtigen Chemie von Kritik und Essay, die umgeschlagen sind wie faules Wasser. Nennen wir dieses notwendige Element einmal Haß. Wieso Haß? Wir sprechen vom Haß nicht als Zustand, sondern als Mittel, als konstruktive Destruktion, vom Haß aus häretischer Vorstellungskraft, die beim besten Willen nicht übereinstimmen kann. Wir sprechen vom Haß als polemischem Schmerz. Jetzt, nicht morgen. Wir müssen an dieser Stelle anhalten, den Vorschlag zum Haß erläutern und sagen: auch der Haß ist etwas längst Erprobtes, ein Mittel künstlerischer und gedanklicher Konzentration seit langer Zeit. Man muß an William Blakes Haß erinnern, als er einer Epoche, die wie unsere daran ging, die Revolution nur noch zu karikieren, seine »Sprichwörter der Hölle« entgegenhielt, wohl wissend, daß »die, welche die Begier unterdrücken, es tun, weil die ihre schwach genug ist, sich unterdrücken zu lassen«. Diese Sprichwörter der Hölle sind noch nicht abgetan im alten Kulturkalender. Sie heißen: »Die Tiger des Zornes sind weiser als die Rosse der Belehrung./Was jetzt bewiesen ist, war einst Phantasie./Die Straße der Ausschweifung führt zum Palast der Weisheit.« Es wäre an einer unromantischen Rückgewinnung von Baudelaires »Les Fleurs du Mal« zu arbeiten, an Carl Sternheims Ausfällen gegen das literarische Juste Milieu und an einer Neufassung von Walter Benjamins »Destruktivem Charakter«. Eine solche historische Litanei des Hasses hätte auszugehen von Sätzen wie diesen: »Das kleinbürgerlichste aller Phänomene, der Klatsch, kommt zustande, weil die Leute nicht mißverstanden werden wollen. Der destruktive Charakter läßt sich mißverstehen: er fördert den Klatsch nicht.« (Benjamin) oder: »Das Wesentliche blieb die literarische Beleuchtung der Belanglosigkeit, Brillanten und Schmocks [...] Passierte trotz Hegel und seiner ›Belauschung des Objekts in seiner vernünftigen Entwicklung‹ doch einmal das ganz Unwahrscheinliche, Unvernünftige, blieb es in Zeitungen unerwähnt.« (Sternheim) Aber solche Rückversicherungen der konstruktiven Destruktion sind als historische noch immer Übungen mit dem heimlich gespannten Netz. Sie werden, so überlegen sie dem konventionellen Essay, der Kritik ohne Verunsicherung auch sind, immer noch verwechselt. Verwechselt als Beiträge zum längst Bekannten. Will sich die Kritik aus dem Haß, der Essay über den Haß gegen solche Absorbierung schützen, dann müssen sie aus einem abermals unabgesicherten, plötzlichen Einfall kommen. Christian Enzensbergers »Versuch über den Schmutz« war eine jener seltenen Unternehmungen, und Paul Feyerabends Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie liefert Waffen, die geschärft werden könnten. Aber zu welchem Ziel, mit welcher Aussicht? So ruft einer, der mit von der Haß-Partie sein will, doch ungläubig ist, dazwischen: Wo bleibt die historische Perspektive? Es gibt Situationen, in denen die Aussicht trübe und die Kategorie »Zukunft« nur noch im Sinne eines schlechten Essayismus berufen werden kann. Wir sind nicht mehr in der hochgemut-zornigen Verfassung wie Hugo Ball, der die Krise der Kritik und des Essays vor fünfzig Jahren bloß als Verrat an der »demokratischen Kirche der Intelligenz« denunzieren konnte. Diese Schwäche an Sehkraft ist ja der historische Grund, auf dem die Wortführer der Tendenzwende so sicher bauen. Diese Sicherheit aber ist eine falsche. Sie beruft sich, wie zu den Zeiten William Blakes, auf pompöse Ideen. Auf Ideen nämlich vom Immergleichen, die sich angeblich als das Wahre erwiesen haben. Die Begierde als das immer Neue wurde daraus entfernt. Dann degeneriert sogar die geschichtsphilosophische Besinnung zum Gerede, die Theorie pervertiert zum Verbotsschild, die literarische Kritik wird zur Vorschrift überkommener kultureller Muster. Die Ideen sind dann die Kerkermeister des plötzlichen Einfalls. Ein letzter Schritt: diese Ideen nebst ihrem Kulturgehorsam sind nicht mehr länger mit Ideen attackierbar. Dieser Kulturgehorsam und dieser Essayismus sind nur attackierbar mit einer Erfahrung, die – ins Sprachliche übersetzt – den Begriff zu scheuen hätte. Begriffe nämlich machen das unbekannte Wort zum längst Bekannten. Wenn es sich so verhält, wenn die Ideen wirklich vorerst verspielt hätten, ist dann an Kritik, an Essay überhaupt noch im Ernst zu denken? Diese beiden Formen der diskursiven Einlassung auf kulturell Vorgegebenes kamen ja bisher nicht ohne Begriffe aus. Friedrich Schlegel löste dieses Dilemma bekanntlich mit seiner berühmten Forderung, daß Kritik wieder Poesie werden müsse. Das war nicht bloß eine Überschätzung der pragmatischen Möglichkeiten, das war auch eine falsche Poetisierung der Geschichte. Susan Sontag löste die immer noch anstehende Frage mit der hinreißend bösartigen Antwort, Kritik sei überflüssig und werde notorisch nur von Leuten ausgeübt, denen notorisch nichts Eigenes einfällt. Das ist eine Wahrheit, die den gordischen Knoten kühn durchschlägt. Aber was ist mit dem Haß? Könnte er für die Durststrecke wirklich ein kritisches und experimentelles Organ werden? Nicht nur die biedere Spruchweisheit, sondern auch der scharfsinnige John Locke wußte: Not macht erfinderisch und der Hunger klug. Die erfinderische Not und der erkenntnisfördernde Hunger bilden zusammen das wölfische Element namens Haß. Und dies gerade dann, wenn uns die Vertreter der neuen Vernunft mit schönen Worten – den Finger auf dem Schlaraffenland, in dem wir alle angeblich bis zum Halse stecken – andauernd sagen: diese Not, dieser Hunger, dieser Haß – das sind Dinge von Gestern. Darauf läßt sich nicht mehr mit dem Kultur-Wissen des alten Essays antworten. Uns Unwissenden fällt vorläufig nur eine Litanei des Hasses ein, mit der wir heute begannen. Es würde ein häretischer Essay daraus, der Essay ohne Ideen, der Katechismus des konstruktiven Hasses, wenn in ihm alle die Sätze stünden, die so viele empfinden, aber nicht ausdrükken können, weil der Haß so kriminalisiert worden ist wie George Orwell einst meinte, daß die Liebe kriminalisiert werden würde. Sein 1984 ist anders da, als er vorhersah: der von ihm nicht vorhergesehene Skandal nämlich ist: nicht die Liebe, der Haß ist kriminalisiert worden. – Ich danke der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung aufrichtig für diese Auszeichnung. Wenn hier vom Haß und wenig vom Dank die Rede war, dann deshalb, weil ich Zweifel habe, ob die mich Auszeichnenden den Essay ohne Ideen wünschen können. Zweifel mehr noch, ob ich es bin, der diesen Essay schreiben kann.