Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Ivan Nagel

Theaterwissenschaftler und Publizist
Geboren 28.6.1931
Gestorben 9.4.2012
Mitglied seit 1986

Ivan Nagels Passion für ästhetische Fragen wird getragen von einem Engagement, das immer wieder klar macht: Wer nur von ästhetischen Fragen etwas versteht, versteht auch von diesen nichts.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann
Vizepräsidenten Walter Helmut Fritz, Hans-Martin Gauger, Hartmut von Hentig, Beisitzer Georg Hensel, Michael Krüger, Lea Ritter-Santini, Guntram Vesper, Peter Wapnewski, Hans Wollschläger, Ehrenpräsident Dolf Sternberger

Liebe oder Zorn

Herr Präsident,
lieber Reinhard Baumgart,
meine verehrten Damen und Herren,
über Johann Heinrich Merck kann ich Ihnen beim besten Willen nichts sagen. Ich bringe trotz einer gewissen Anstrengung, die ich wieder aufgab, weder Liebe noch Zorn für diesen lebhaft eigenwilligen Mann auf. Der Kritiker, der Essayist soll aber nichts angehen, was nicht seine Liebe oder seinen Zorn verdient, nein, ganz anders: Er darf nichts berühren, worum er sich nicht eine wirkliche Liebe, einen wahren Zorn schreibend zu verdienen hofft. Darüber, über eine selbstgesetzte Moral von Kritik und Essay, das heißt über einen Wunschtraum vom Kritiker und Essayisten, will ich ein paar Worte sagen.
Liebe oder Zorn? Die Tageskritik von heute, und sei sie noch so leichtfertig und schlampig, leitet ihren Rechtstitel nicht von Liebe oder Zorn ab, sondern im Gegenteil: von der Gerechtigkeit. Das ist zuviel gewollt und zuwenig gedacht. Denn das Urteil kann, trotz dem mißverstandenen Kant, niemals das angemessene Ziel für Denken und Schreiben sein, wenn es darum geht, sich einer Kunstintention, einem Kunstakt auszusetzen. Genauer besehen, befördert denn auch das Feuilleton nicht die Rezension zum Urteilsspruch, sondern den Rezensenten zum Richter. Wo aber der Kritiker Richter ist, ist der Künstler der Angeklagte, ein mutmaßlicher Verbrecher.
Ich sehe meine vergangene Arbeit als Tageskritiker zu großen Teilen als fragwürdig, als mißraten an. Zu viel darin entsprang dem Antrieb, die Überlegenheit der Reflexion gegenüber der Kunst zu beweisen, Richter über Angeklagte zu sein. Ich war, mochte das im Vergleich mit manchen Kollegen auch anders erscheinen, als Kritiker nicht zu sehr, sondern zu wenig Essayist. Den Essayisten einen Richter zu nennen – solche Dummheit ist noch niemandem eingefallen. Der Unterschied, den ich meine, reicht tief in die Methode, also in die Substanz, dessen, was man als Schreibender tut.
Der Tageskritiker als Richter gibt vor, einen Teil des Gültigen, Allgemeinen, das er weiß und hat, auf ein Werk anzuwenden, welches er damit aus einem Ganzen in ein Teilphänomen verwandelt: Zeichen des Zeitgeists, Aufstieg oder Verfall des Neuen Realismus oder des Neuen Mystizismus, Sie kennen das schon. Kein Urteil gibt es ohne Subsumtion. Der Essayist versucht dagegen, sich mit seiner äußersten Partikularität, seinem eigentümlichsten Teilwesen in ein fremdes Universum einzuschleichen – oder in plötzlicher, paradoxer Umkehrung: alles, was er in seinem Leben nur erfahren, eingesehen hat, sein Ganzes also, ins Beschreiben und Begreifen vielleicht nur des kleinsten Partikels von einem Kunstwerk einzubringen.
Essayist sein wäre somit eine Übung, die an Stetigkeit und Härte dem Training eines Berufssportlers in nichts nachstehen sollte. Der Essayist müßte lernen, seine ganze Kraft, wie jener, in der gegebenen Sekunde einzusetzen. An die Interpretation (Nachbildung in Begriffen) einer musikalischen Phrase, einer lyrischen Zeile, eines Prosasatzes müßte er jegliche Erfahrung und Einsicht wenden, die sich in ihm sedimentiert hat und die er wieder aufsprengt, die in ihm gärt und die er zu klären versucht. Wie er mit zweiundzwanzig Jahren betrunken in einer Nacht vor einer wichtigen Haustür stand, aber der Schlüssel war ihm irgendwo aus der Tasche geglitten – das könnte ihm zum einzigen, unentbehrlichen Schlüssel werden für das Unglücksrefrain von Hugo Wolf: »Besser wär’ er nie geboren«. Wie er mit dreizehn Jahren einen Freund aus der Clique intrigierte, verstoßen ließ, quälte – die ausgegrabene Scham darüber könnte ihm das Glück des Finales der »Entführung aus dem Serail« erklären, in dem selbst der Bösewicht belehrt, nicht aus der Menschheit ausgesperrt wird.
Der Essayist müßte so lang an sich arbeiten, bis seine Jugend oder sein Alter, sein Wille und seine Erlahmung, bis alle Visionen und alle Revisionen seiner Weitsicht verfügbar werden für das Begreifen eines Fremden. Mit Erkundungen seiner Sinnlichkeit und Klärungen seiner Gedanken müßte er sich durchsichtig und leicht und disponibel machen für jene Tonfolge, jene Zeile, jenen Pinselstrich, die seine Liebe verteidigen soll gegen das Vergehen. Schon deshalb herrscht über den Essayisten das Gebot von Liebe oder Zorn, von Verehrung oder Verachtung, von Dank oder Warnung: Sonst wäre sein Sich-verfügbar-Machen nichts als Hurerei.
Wie ich schon zugab, verdanke ich Johann Heinrich Merck leider nichts anderes als den ehrenvollen und wohldotierten Preis für Kritik und Essay. Ich möchte deshalb jenen anderen Autoren danken, denen ich die Forderung, den moralischen Wunschtraum von Kritik und Essay abgeschaut zu haben meine. Adorno, Lukács, Kassner, Wilde schrieben Essays und je einen unübertrefflich besonderen Essay über den Essay. Ihre Essays handeln von dem, wovon Essays handeln: immer von Menschen und ihren Werken, meistens von Künstlern und ihren Kunstwerken. Nur wenn sie einen Essay über den Essay schrieben, sprachen sie manifest über sich selbst.
Sie bekannten, manchmal einander zitierend, daß alle ihre Schriften, die ihnen zu wahren Essays geraten waren, auf eine eigentümliche Weise von ihnen selbst handelten. Und damit hoben sie natürlich auch schon das, was sie soeben dem Leser bekannt hatten, daß nämlich ihre Essays über den Essay am unverhülltesten von ihnen selbst sprachen, wieder auf. Nein, ihre Essays über andere sprechen von ihnen selbst. Nicht Adornos »Der Essay als Form« also, sondern sein wohl nie niedergeschriebener großer Proust-Vortrag handelte von Theodor Wiesengrund Adorno, dem Mann, der die dünne, bleichweiße Haut eines stubenhockerischen Kindes sein Leben lang behielt, um jeden Reiz, jeden Schmerz schärfer und genauer zu fühlen als die Erwachsenen, dem kindlichen Erfahrungsglück und Erfahrungsleid Entwachsenen.
Nicht Georg von Lukács’ »Über Wesen und Form des Essay« im frühen Band Die Seele und die Formen ist selbstoffenbarend, selbstverratend, sondern, wie wir heute wissen, ebendort der Aufsatz über Kierkegaard und Regine Olsen. Er war damals schon autobiographisch und wurde prophetisch für Lukács’ spätere Wandlungen und Erstarrungen: als Traktat über das Verwerfen der »Dichterexistenz«, über das Private als bloße Stufe, nein Trittbrett zum gedachten, geglaubten Absoluten – und schließlich über die letzte, unentwirrbare Zweideutigkeit von Treue und Verrat, die nun aufs Politische Übergriff. – Weiter: Rudolf Kassner, der im schwermütigen Suchen und Tasten so wunderbar Entschlossene, sprach seine Utopie von heller Redlichkeit des Geistes nicht im programmatischen Essay über den Dichter und den Platoniker aus – sondern als er über Diderot schrieb, über die kühne Unsicherheit des Suchenden, über die Klarsicht des Irrenden, also über den Versuch, also doch wieder über den Essay.
Schließlich, jeder von uns weiß, daß Oscar Wilde nicht in Der Kritiker als Künstler sich preisgab, sondern in der Deutung der Shakespeare-Sonette, The Portrait of Mr. W. H., in der sein Witz zu glühen, sich zu verbrennen begann. Trotzdem möchte ich Ihnen zum Schluß aus seinem Essay über den Essay The Critic As An Artist vorlesen. Wilde kennt nach englischer Art den Begriff »Essayist« nicht. Ich habe in der Übersetzung »Kritiker« für »critic« stehengelassen, eben damit wir in voller Irritation spüren, wie Wilde unseren deutschen richtenden Kritiker vom Essayisten liquidieren läßt kraft eines geradezu extremistischen Glaubens, daß Kunst das einzige sei, was unserer Liebe, Unkunst das einzige, was unseres Zornes wirklich würdig ist. Gilbert, ein Alterego des Dichters, antwortet auf einen Einwand seines Freundes Ernest:

»ERNEST: Ich hätte angenommen, daß die Persönlichkeit ein störendes Element ist.
GILBERT: Nein, sie ist das Element der Enthüllung, der Offenbarung. Wer andere verstehen möchte, muß seine eigene Individualität vertiefen... Jede der Künste besitzt gewissermaßen einen ihr zugehörigen Kritiker. Der Schauspieler ist der Kritiker des Dramas. Er zeigt das Werk des Dichters unter neuen Bedingungen und durch die ihm eigene Methode. Er nimmt das geschriebene Wort – und Aktion, Gebärde und Stimme werden zu Medien der Offenbarung. Der Sänger, der Flötist und Bratschist sind die Kritiker der Musik. Der Radierer eines Bildes nimmt dem Gemälde die leuchtenden Farben, doch zeigt er uns durch die Anwendung eines neuen Materials seine wahre Farbqualität, seine Tönungen und Valeurs, sein Verhältnis zur Fläche, und daher ist er auf seine Weise ein Kritiker des Werkes. Denn ein Kritiker ist jener, der uns ein Kunstwerk in einer Form darstellt, die sich von dem Werk selbst unterscheidet, und die Anwendung des neuen Materials ist so ein gleichermaßen kritisches wie schöpferisches Element... Leute sagen manchmal, ein Schauspieler gebe seinen eigenen Hamlet, nicht den Shakespeares. Tatsächlich gibt es ›Shakespeares Hamlet‹ nicht. Wenn Hamlet etwas von der Definiertheit eines Kunstwerks hat, so hat er zugleich all die Dunkelheit des Lebens.
ERNEST : Der Kritiker wird also als Interpret nicht weniger geben, als er empfängt, und er wird so viel leihen, wie er borgt?
GILBERT: Ja, immer wird er das Kunstwerk in einer neuen Relation zu unserer Zeit enthüllen. Er wird uns immer daran erinnern, daß große Kunstwerke lebendige Dinge sind.«

Gilbert, nein, Wilde fügt noch hinzu: »daß sie die einzigen Dinge sind, die leben«. Dieser Extremismus, diese verrückte »déformation professionnelle« des Essayisten sollte uns nicht amüsieren, sondern erschrecken; denn es ist nicht frivol, sondern moralisch gemeint. Berufsmoral ist der Wunschtraum von einem Beruf. Berufe entstehen aus Wunschträumen, nicht aus öffentlichen Bedürfnissen. Um so staunender und herzlicher danke ich Ihnen für diese öffentliche Auszeichnung, für den Johann-Heinrich-Merck-Preis.