Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Harald Hartung

Lyriker und Literaturwissenschaftler
Geboren 29.10.1932
Mitglied seit 1997

Harald Hartung, dem kundigen und sensiblen Dolmetscher der Poesie...

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Klaus Reichert
Vizepräsidenten Heinrich Detering, Peter Hamm, Ilma Rakusa, Beisitzer Peter Eisenberg, Wilhelm Genazino, Joachim Kalka, Gustav Seibt, Werner Spies, Ulrich Weinzierl

Laudatio von Heinrich Detering
Literaturwissenschaftler, Lyriker und Essayist, geboren 1959

Der souveränste Vermittler lyrischer Weltliteratur

Verehrte Damen und Herren,

Harald Hartung, jahrelang Professor an der Technischen Universität Berlin, Schüler und in vieler Hinsicht Nachfolger Walter Höllerers, dessen Theorie der modernen Lyrik er zusammen mit Norbert Miller fortgeschrieben hat, als Lyrik-Kritiker der FAZ seit vielen Jahren eine Art Institution – dieser Harald Hartung ist ein deutscher, ein europäischer Dichter. Der Bewunderer Larkins und Audens, Eliots und Montales hat sich selbst, mit sehr charakteristischem Understatement, einen »Kritikopoeten« genannt. Bekannt geworden ist er mit Essays, die von Lyrik handeln (nur fast nie von seiner eigenen), und den Anthologien Luftfracht und Jahrhundertgedächtnis, die wunderbare Poesie enthalten (nur nicht seine eigene).
Für seine Gedichte hat Harald Hartung bedeutende Auszeichnungen erhalten, darunter den Würth-Preis für Europäische Literatur 2005. Heute verleiht ihm die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ihren Johann- Heinrich-Merck-Preis für seine Essays. Dieses poetisch-essayistische Doppelwerk könnte Anlass geben, ein altes deutsches Vorurteil ein für alle Mal zu revidieren. Denn dieser Gelehrte ist einer der wichtigsten Lyriker in der gegenwärtigen deutschen Literatur. Und dieser Lyriker ist einer der gelehrtesten Kenner, der scharfsinnigsten Analytiker und sicher der souveränste Vermittler lyrischer Weltliteratur, den wir haben.
Wie die in seinen Essays erörterten poetischen Vorbilder und poetologischen Fragen nicht ohne spürbare Folgen für seine eigene Dichtung geblieben sind, so haben sich aus seinen Arbeiten als Lyriker, als Kritiker und Lehrer Essaybücher ergeben, die unser Nachdenken über moderne Poesie auf eine neue Grundlage gestellt haben. 1975 erschien sein neugieriger Rückblick auf Experimentelle Literatur und Konkrete Poesie, 1985 die Lagebeschreibung Deutsche Lyrik seit 1965, 1996 eine glänzende Porträtgalerie gegenwärtiger Welt-Lyrik von Pound und Pessoa bis zu Brodsky und Walcott in dem umfangreichen Band Masken und Stimmen.
Seine eigenen Gedichte hat Hartung, immerhin schon seit 1957, gesammelt unter so schönen und gewissermaßen halblauten Titeln wie Reichsbahngelände und Arme Kunst, Das gewöhnliche Licht oder Langsamer träumen. Ganz genau und alltäglich klingt das alles, ganz leise und leicht, und dabei geht es um Gedichte auf Leben und Tod. In ihrer gar nicht gewöhnlichen Beleuchtung zeigt sich, was Goethe, in durchaus eigener Sache, einen »realistischen Tic« genannt hat. Manchmal ist Hartung, der Bergmannssohn aus Herne, als »Neorealist« beschrieben worden. Und oft hat er selbst von seinem Bemühen gesprochen, das Wirkliche als Wirkliches zu fassen und Stilisierungen ebenso zu meiden wie die naive Mimesis. So kommen selbstreflexive »Snapshots« zustande wie dieser, der nur fünfmal zehn Silben umfasst: »Ein paar einprägsame Fotos werden / immer geschossen aus solchem Anlaß / etwa an einer Straße wo dann zwei / Männer liegen wovon der eine noch / lebt während das Foto geschossen wird«.
Als Kritiker, als Poetologe und als Poet ist Hartung ein Meister der präzisen Aussparung, der unaufdringlichen Reflexion, ein Lehrer der Lakonie. Die spektakuläre Sprachgeste ist bei ihm die eben deshalb bewegende Ausnahme. Gerade als zeitweise »irony is over« zum Slogan wurde, blieb Hartung ihr höflicher und entschiedener Verteidiger. Ihren subtilsten Ausdruck findet sie in seinem spielerischen und durch das Spiel hindurch wieder ernsthaften Umgang mit Sonetten und Ghaselen – und erst recht in jener Silben zählenden Metrik, die Hartung in seinen poetologischen Essays beschrieben hat und die schwebend die Balance hält zwischen spröde prosaischem Duktus und rhythmischer Akzentuierung. Wie Auden und Sylvia Plath geht der Belesene so zurück hinter das Gleichmaß des Jambenflusses wie hinter die versförmig umbrochene Prosa, gewinnt er dem silbenzählenden Prinzip nuancierteste Ausdrucksqualitäten ab. Zu ihnen gehört auch die Spannung zwischen dem Schema und der Abweichung, die es erst ermöglicht. Diese prosaische Verstechnik enthält in nuce Hartungs Poetik, und sie sagt einiges auch über den Umgang des Lyrik-Kritikers und Essayisten mit dem Gedicht. Sie kreist um die Idee einer verborgenen Ordnung (und der Verborgenheit der Ordnung), einer Schönheit, die sich beinah verlegen ins Unauffällige und Ungefällige kleidet. Ihr Ziel ist die überspielte Tiefe, die auf skeptische Distanz gebrachte und doch nicht aufgegebene Hoffnung, der verlangsamte Traum. Es ist die ironische Resignation, die einen unauflöslichen Restbestand an Renitenz umhüllt (und deshalb auch die letzten Dinge sehr zart berühren kann).
Die Dichtung Harald Hartungs verwirklicht, scheint mir, exemplarisch ebenjene Poetik, die der gleichnamige Essayist proklamiert: »eine Überwindung der sterilen Gegensätze von Artistik und Engagement, hermetischer und offener Poesie oder wie die Gegensatzpaare sonst heißen«. Seit die Ausgabe seiner gesammelten Gedichte im Jahr 2005 Hartung endlich den verdienten Ruhm als Lyriker eingebracht hat, lesen sich darum auch seine poetologischen Essays anders und neu; sie zeigen gewissermaßen ihren doppelten Boden, auch wenn er über seine eigene Arbeit nur ausnahmsweise, dann allerdings auch um so lehrreicher geschrieben hat. »Notizen im Glashaus« lautete schon die Überschrift des Schlusskapitels in seinem Lyrik-Buch von 1985; Untertitel: »(Über) Lyrik schreiben«.
Hatte Hartung schon sein Buch zur deutschen Gegenwartslyrik beendet mit der Doppelperspektive auf das Schreiben von und über Lyrik, so stehen am Ende auch des vorerst letzten Essaybandes Bemerkungen »Über einige Erfahrungen beim Schreiben von Lyrik«: Erinnerungen an die eigenen lyrischen Anfänge, Bekenntnisse zu Lieblingsdichtern wie Ungaretti oder Charles Simic. Nun in erklärtermaßen ganz eigener Sache formuliert Hartung eine leidenschaftliche Verteidigung einer Poesie als genauer Form – in unauffälligen metrischen Regulierungen beispielsweise, die kein Leser bemerken muss und die doch dem Autor jene produktive »Erschwerung der Form« auferlegen, in der die russischen Formalisten einst einen Fundamentalsatz aller Poesie erkannt haben. Das, was Valéry die »errechneten Verse« genannt hat, entfaltet in Hartungs Werkstattbericht einen ganz eigenen poetischen Glanz, in der ironischen Aneignung der Sonettform ebenso wie in Inger Christensens zauberischem Spiel mit mathematischen Prinzipien.
Wo immer der Essayist Hartung über Poesie und Poetik schreibt, da entwickelt der Theoretiker Hartung aus der praktischen Anschauung seine Poetik, und da gibt der gleichnamige Dichter Einblick in seine lyrische Werkstatt. Da zeigt er, wie man Gedichte macht. »Machen oder Entstehenlassen«, heißt eine 2001 gehaltene Rede, die – wen wundert es – das Benn’sche Entweder-Oder als eine Scheinalternative erweist. Tatsächlich hält Hartung Lyrik für lehrbar; der Begriff des »Meisters«, so hat er bemerkt, müsse nicht immer nur an den des Jüngers denken lassen; er verbinde ihn lieber mit dem des Lehrlings. Meisterschaft ist für diesen Meister das Ergebnis eines Handwerks – in jenem Sinne des Wortes, den sein programmatischer Essay im Merkur 1999 proklamierte und der mittlerweile fast schon redensartlich geworden ist. Dabei stammt die Beschreibung der Lyrik als der »Sache der Hände« aus einem Brief Paul Celans an Hans Bender. »Und diese Hände wiederum«, schreibt Celan, und Hartung zitiert ihn, »gehören nur einem Menschen [...] Nur wahre Hände schreiben wahre Gedichte.« Von Menschen ist die Rede und von Wahrheit, und gerade deshalb ist im Augenblick des Schreibens die poiesis zuerst techné. Gerade deshalb geht es, wo immer der lyrische Essayist Hartung auf Wahrheit aus ist, vor allem um die Fügung der Motive, um den Fall der Verse, um das Zählen von Silben. »Dem Romanautor«, liest man in einem seiner Essays, »verübelt niemand, dass er von Thema, Plot und Hauptfiguren redet«, allein der Lyriker soll noch immer »singen, wie der Vogel singt. [...] Selbst Kritiker misstrauen der poetologischen Reflexion, sie hätten sonst nicht das Wort ›Kopflastigkeit‹ erfunden.«
Gerade weil Hartungs Essays mit Vorliebe mit Beobachtungen zu handwerklichen Fragen beginnen, bleiben sie auch dort anschaulich, wo es hinaufgeht in die Höhenlagen ästhetischer Theorie. So führt eine Studie unter dem bescheidenen Titel »Über einige Motive der Droste« gerade deshalb an jenen Punkt, an dem es in diesen Dichtungen um Sein und Zeit geht, weil die Leser-Aufmerksamkeit auf durchaus technische Schreibverfahren gelenkt wird. So spürt ein anderer Text dem Umgang mit Odenmaßen im 20. Jahrhundert nach, bei Georg Britting und Ludwig Greve, und führt damit vor, wie die produktive Auseinandersetzung mit klassischen Formtraditionen möglich sein könnte, ohne in blasse Epigonalität zu verfallen. Und so lässt sich am anderen Ende des Spektrums, in der neusachlichen Poesie des als »Virtuose des Mittleren« verteidigten Erich Kästner, überraschend eine Naturlyrik entdecken, die es in die industrialisierte Metropole verschlagen hat. Über Ernst Meisters Verwandtschaft mit W C. Williams und über die metrische »Atemwende« in Robert Schindels Versen hat Hartung maßgebliche Essays geschrieben. Und für die jüngste deutsche Lyrik von Dirk von Petersdorff bis zu Jan Wagner, von Marion Poschmann bis zu Sabine Scho ist dieser Kritiker der kundigste Begleiter, den man sich wünschen kann – als Leser wie als Autor.
Meine Damen und Herren: Für Harald Hartung ist die so verstandene und betriebene Lyrik längst zu einer Lebensform geworden. Von dieser redend, kann selbst er ausnahmsweise ein großes Wort gebrauchen. »Ich suchte in Formen Halt – und fand in ihnen Freiheit.« Dieser prosaische Satz, gesagt in einer programmatischen Rede, klingt selber fast wie ein Vers. Und er kommt einem Bekenntnis wohl so nahe, wie das bei diesem sonst so diskreten und bekenntnisscheuen Dichter-Kritiker möglich ist. Was da mitschwingt, das haben alle Leser Hartungs in diesen Gedichten und Essays erfahren. Er selber hat es mit einem Wort Ludwig Greves resümiert, im Titel seines jüngsten Essaybandes: Ein Unterton von Glück.