Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Eduard Beaucamp

Kunstkritiker und Publizist
Geboren 15.6.1937

... in dessen Wirken feinstes ästhetisches Empfinden und historisches Bewußtsein eine beispielhafte Balance gefunden haben...

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Klaus Reichert
Vizepräsidenten Peter Hamm, Uwe Pörksen, Ilma Rakusa, Beisitzer Friedrich Christian Delius, Harald Hartung, Joachim Kalka, Peter von Matt, Gustav Seibt, Werner Spies

Schwierigkeiten und neue Möglichkeiten der Kunstkritik

Ich danke der Deutschen Akademie sehr herzlich für diesen ehrenvollen Preis, den die Lobrede von Gustav Seibt nun gekrönt hat. Besonders dankenswert ist, daß die Akademie damit ihr Augenmerk auf die Kunstkritik richtet, die sich heute in mancher Hinsicht schwerer behauptet als die Literatur-, die Musik- und die Medienkritik. Über Kunst wird heute mehr als je zuvor geschrieben und gesendet, neue Zeitschriften und junge Szenen-Blätter schießen aus dem Boden. Katalogbücher überfluten den Markt und landen schnell und gezielt bei den preiswerten Bouquinisten. Doch in allen diesen Publikationen, Produkten des Betriebs, ist die eigentliche Kunstkritik, die rückhaltlose und methodische Auseinandersetzung mit Kunstwerken, das Hantieren mit Urteilen und Kriterien, das Bewerten, Einordnen und Verreißen aus dem Blick geraten.
Ich benutze diese kleine Dankesrede gerne dazu, von den Schwierigkeiten, aber auch den neuen Möglichkeiten und Freiheiten der Kunstkritik zu erzählen. Die Schwierigkeiten haben vornehmlich mit dem Bedeutungswandel von Kunst zu tun, mit ihrer Entertainment- und Hofnarrenrolle in der arrivierten Freizeitgesellschaft. Die stürmischen Zeiten, als die Kritiker eingeschworene und unerschrockene Verbündete, ja womöglich sogar Präzeptoren der Avantgarden waren, sind in die Historie und in die Legende entrückt. Es war einmal, und zwar spätestens seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, wenn nicht seit der Aufklärung, da war die engagierte Kritik der verläßlichste Partner der jeweils fortschrittlichen Gegenwartskunst und teilte ihre Abenteuer und Expeditionen. Sie begleitete sie, zumal in den Turbulenzen des zwanzigsten Jahrhunderts, streitbar, werbend und kommentierend, und gab ihr Impulse, Stichworte und Ideen.
Die Moderne verdankt, das sei nicht vergessen, ihre Durchsetzung zu einem guten Teil einer kämpferischen Kunstkritik. Freilich waren die Bahnbrecher eher Apologeten als Kritiker. Mit fast jeder Kunstrichtung, mit all den zum Schluß inflationären Kunst-Ismen vom Impressionismus bis zum Konzeptualismus haben sich Kritikernamen verbunden und verewigt. Am etwas bitteren Ende, und damit sind die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts gemeint, drängelten sich förmlich die Stichwortgeber. Fast jeder bessere Kritiker oder Kunstbetriebsaktivist, der auf sich hielt, fühlte sich zum Geburtshelfer und Richtungsweiser berufen – mit dem Ergebnis, daß wir heute auf viele Sackgassen und eine veritable Schutthalde von Stichworten, Verkehrschildern, Tendenzbenennungen und Schulnamen zurückschauen, die heute schon Begriffsmüll darstellen.
Mit dem Ende des Avantgardismus, mit der Spät- oder Postmoderne haben sich die Kunst und die Kunstkritik sehr schwer getan. Zu verkraften war nicht weniger als ein Glaubensentzug, ein Weltbild- und Utopieverlust. Die Fallhöhe vom radikalen Weltveränderungsanspruch der Avantgarden zu den Niederungen des Unterhaltungsgewerbes, der Marktgängelung von Kunst und ihrer Benutzung für Geldwäsche- und Spekulationsgeschäfte ist schwindelerregend. Der theoretische Elan und die utopische Phantasie sind vollkommen erlahmt. Die Künstlerbünde, die auch Selbsthilfegruppen darstellten, zerfielen. Heute erscheint die Kunstszene diffus, wetterwendisch, opportunistisch, leider auch marktläufig und erfolgssüchtig. Jeder Akteur versucht auf eigene Faust Boden unter die Füße zu bekommen, sich auf seinem Ego-Trip zu behaupten und irgendwie am großen Erfolg auf dem Markt zu partizipieren.
Auch das Bündnis der Künstler und Kritiker ist zerfallen. Die Artisten suchen nach lebenstüchtigeren und erfolgversprechenden Partnern – als da sind Händler, Öffentlichkeitsagenten, Sammler, Sponsoren, Kuratoren und Leute der Museumsbranche. Die Zweckbündnisse machen einige wenige Glückspilze verblüffend schnell zu Szenen-Stars und Kunstmarkt-Champions, die mit oft halbgaren Produkten absurde Preise erzielen. Unser kapitalistischer Marktzirkus, angetrieben von unvorstellbar großen und frei vagabundierenden Geldmassen, die nach diskreter Anlage suchen, macht mit seinen Zaubertricks aus Adepten im Handumdrehen Künstler von Weltgeltung, die auf Auktionen sogar berühmte Alte Meister zu Zwergen degradieren. Auf dem Markt ist der Kunstverstand verlorengegangen. Ein Stück Barbarei breitet sich aus. Viele Künstler gefallen sich dabei in der Rolle von Bütteln der Spekulation, profitieren von dieser Dressur, und das ahnungslose Publikum will es gar nicht merken, daß hier Kunst nur noch Vorwand ist für ein Roulette-Spiel.
Dies gewinnträchtige Spiel aber kommt ohne Kunstkritik und intellektuelles Beiwerk aus. Kritiker sind allenfalls als Mitspieler und Helfershelfer willkommen. Sie sollen heute allen Gesellschaftsgruppen dienen: den Künstlern als Karrierehelfer, dem Massenpublikum als unterhaltsame Vermittler und Appetit-Anreger, den Veranstaltern als Public-Relations-Instrument und dem Markt als Animateure und Verführer. Heute sind viele Kunstpublizisten oft wahre Virtuosen der Vielseitigkeit und bedienen alle Gruppen. Spielverderber sind nicht erwünscht. Die Vordenker und Bahnbrecher von einst sind vielfach übellaunige Skeptiker und Bremser geworden. Ihre Aufgabe besteht heute zunächst einmal in einer Art Selbstkritik. Sie müssen sich darüber klar werden, wo sie im vergesellschafteten und kommerzialisierten Kunst- und Kulturbetrieb stehen, ob sie mitspielen und die angesprochene Rolle des werbenden Vermittlers und Interpreten im vorgegebenen Rahmen übernehmen wollen, oder ob sie nicht versuchen, sich aus einem offensichtlich närrischen Betrieb herauszuhalten und Kunstkritik gleichzeitig als Struktur- und Betriebskritik, ja als Gesellschaftskritik zu betreiben. Tatsächlich häufen sich in letzter Zeit bei jüngeren Kunstkritikern die selbstkritischen Reflexionen. Fruchtbare Unruhe und neue Nachdenklichkeit scheinen sich zu regen.
Meine Damen und Herren, verehrtes Akademiepublikum, ich hätte den schönen Preis nicht verdient, würde ich mich und die Kunstkritik in die Schmoll-, Mecker- und Verliererecke stellen. Ich möchte mich vielmehr zu ungebrochenem Hochmut und einem trotz allem unverwüstlichen Vertrauen in die Zukunft der Kunst bekennen. Solcher Hochmut, zu dem ich auch jüngere Kollegen ermuntere, enthebt uns dem Markttreiben und der trügerischen Wechselwirtschaft. Hochgemut glaube ich, daß die Künstler auch heute mit Kritikern besser fahren würden als mit Spekulanten. Vermutlich liegt es auch am aufgegebenen Bündnis, daß sich die Kunst kaum noch weiterentwickelt, daß sich eine gut hundertjährige Moderne im Kreise dreht und von der Wiederaufführung alter Mythen und einst aufrührerischer Rituale lebt, obwohl sich inzwischen die öffentliche Mentalität und der gesellschaftliche Rahmen grundlegend verändert haben. In dieser Situation ist es symptomatisch, daß ein weithin bekannter und sehr erfolgreicher Maler sich angesichts einer ihm verschlossenen Zukunft zur Wiederholung seines erfolgreichen Frühwerk entschließt: Methodisch malt er es Bild für Bild, Motiv für Motiv nach.
Der Markt verhilft Künstlern heute zu blitzschnellen Welterfolgen, aber läßt sie genauso schnell wieder fallen. Rasche Verfallsdaten, zahllose Entzauberungen, abgebrochene Entwicklungen und Ikarus-Abstürze kennzeichnen die jüngste Kunstgeschichte. Es ist an der Zeit, so glaube ich, am Projekt einer neuen, eigenständigen, weniger marktgefälligen Kunst zu arbeiten, die nicht länger billige Erwartungen und Klischees bedient und vor allem eine anachronistische Genie-Ästhetik verabschiedet. In unseren weltpolitischen und sozialen Umbruchsjahren muß die Kunst von Grund auf neu durchdacht, ja erfunden werden. Und da sind die Kritiker zum Beobachten, Mitdenken und Befördern neuer Ansätze aufgefordert.
Zweifellos hat sich schon manches im Kunstklima geändert. Die sogenannte Postmoderne – ein ratloser Begriff, der immer auch häretisch klingt, – hat uns allen, den Künstlern wie den Kritikern, neue Freiheiten und Möglichkeiten verschafft. Die wichtigste Errungenschaft ist neben der globalen Öffnung der Szene eine neue Freiheit gegenüber der geschichtlichen Kunst. Das Verhältnis ist nicht länger blockiert durch die Fortschrittsideologie, das Überwindungspathos und das Parteigängertum avantgardistischer Ästhetik, die auch die Kunstkritik in die Pflicht genommen hatte. So dürfen wir Kunstkritiker uns heute nach Herzenslust, ohne schlechtes Gewissen und auch ohne akademische Rücksichten auf dem wieder weitgeöffneten historischen Terrain bewegen. Da das Ausstellungsangebot älterer Kunst in den letzten Jahrzehnten gewaltig angeschwollen ist, gehört die Kunstgeschichte heute sogar zum Pflichtpensum der Kunstkritik und regt ihre Phantasie mächtig an.
Es ist eine große Lust, sich mit den Erfahrungen der Moderne und mit zeitgenössischer Sensibilität an die alten, in Wirklichkeit meist quicklebendigen Meister heranzutasten, sie ästhetisch und mental zu erkunden und sprachlich neu zu vermitteln. Solche Zuwendung, manchmal vielleicht sogar Hingabe ist keineswegs mehr Gegenwartsverrat. Sie verbindet sich mit der Hoffnung, auf ästhetische Modelle und verschüttete Möglichkeiten zu stoßen, die Anknüpfungspunkte bieten und sich aktualisieren lassen, um der Gegenwart neue Energien zuzuführen und damit der Kunst aus ihren Sackgassen und Wiederholungsspiralen herauszuhelfen.