Georg-Büchner-Preis

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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Satzung

Präambel

Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.

§ 1

Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.

§2

Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.

§3

Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.

Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.

§4

Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.

Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.

Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.

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Wolfdietrich Schnurre

Schriftsteller
Geboren 22.8.1920
Gestorben 9.6.1989
Mitglied seit 1959

... seine und unsere Welt facettenreich beschrieben und sie in Gedanken und Bildern so aufsässig wie versöhnlich dem Verständnis des Lesers nahegebracht hat.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Herbert Heckmann
Beda Allemann, Peter Benz (Stadt Darmstadt), Herman Dieter Betz (Hessisches Kultusministerium), Ludwig Harig, Geno Hartlaub, Hans Paeschke, Lea Ritter-Santini, Bruno Snell (Ehrenpräsident), Dolf Sternberger (Ehrenpräsident), Bernhard Zeller, Ernst Zinn

Laudatio von Karl Krolow
Schriftsteller, geboren 1915

Wolfdietrich Schnurre, Frankfurter, Berliner, hat von sich einmal gesagt »Mich erklärt mein Name«. Und es gibt ein Buch von ihm, das sich schlicht »Schnurre heiter« nennt und das nennt, was manche seiner Leser seit Jahrzehnten in seinen vielen und vielseitigen Büchern und Bildchen und natürlich auch im nicht nur possierlichen Pudel Ali fanden: sie fanden jemanden, der schnurrig und schnoddrig, lässig und auf die heiterste Weise keck, nicht gleich aggressiv, aber doch mit einem Witz umzugehen wußte, der noch älter war als jener 1952 – wenn ich mich recht erinnere – in die Welt gesetzte bemerkenswerte und bemerkenswert seinen Autor begleitende, die Treue haltende Vierbeiner. Sie begegneten einem, der – gleich nach 1945 – auftauchte, abgebrannt, doch beweglich, und sich so durch die Trümmerlandschaft, auch literarischer Kahlschlag genannt, bewegte.
Der am 22. August 1920 in Frankfurt Geborene und dort Aufgewachsene, war spätestens im denkwürdigen Jahr 1947 »dabei«: dabei nämlich, als sich ein paar Leute, die schreiben konnten, in jener »Gruppe 47« zusammenfanden, mit ein bißchen Glück und Zufall, den man bekanntlich nach Nietzsche nicht um seine Unschuld bringen sollte. War er nun Mitbegründer, Hauptperson? Er war dabei, und er ging auch wieder, als ihm irgend etwas nicht paßte. Differenzen oder auch nicht: man versöhnte sich wieder. Man ließ gelten. Schnurre galt von Anfang an als jemand, und dies ist immerhin bald vierzig Jahre her, und der Mann aus Frankfurt und Berlin war noch nicht einmal dreißig. Die Gruppe machte Literaturgeschichte und Wolfdietrich Schnurre versuchte es mit der ganz individuellen Literaturgeschichte, der eigenen: schon vor einiger Zeit hat man vierzig Titel gezählt, illustriert oder nicht vom Autor illustriert: Schnurre schrieb nicht wenig, bis ihm anderes dazwischen kam: das persönliche Leben, die Krankheit, die individuelle Prüfung, die dazu beitrugen, daß er sehr viel später – datiert aus den Jahren 1976 und 1977, aber 1978 herausgebracht – diese Lebensdokumentation des »Schattenfotografen«, sein größter literarischer Erfolg wurde. »Gelesen bin ich gerettet«, heißt es bei ihm. Und gewiß wurde der »Schattenfotograf« von vielen gelesen. Schnurre gab sich nicht ungern etwas kleiner im Foto, als es in Wirklichkeit war. Ich denke, er untertrieb, wenn er lakonisch sich äußerte »Mir genügen im Grunde die Belegexemplare«. Es gab von jeher auch andere Belege seiner höchst eigenen und eigenwilligen, vergnüglichen Schreibexistenz, mit Schnurre am Schreibtisch, der mitunter wie unter freiem Himmel aufgestellt wirkte.
Schnurre – so wirkte das – nahm sich diese Freiheit, Frechheit, Skurrilität, Wunderlichkeit, aber auch Zartheit, ja, Kindlichkeit in vielen Geschichten, Erzählungen und schließlich auch sogar Romanen, die der Verfasser gern scheel ansah, und über die er sich – als Spezies – unterschiedlich äußerte und wohl seine Gründe hierfür hatte. Lange her, daß »Sternstaub und Sänfte« und die »Aufzeichnungen des Pudels Ali« in den frühen fünfziger Jahren erschienen und fast den Anfang einer langen Produktion machten oder »Als Vaters Bart noch rot war«. Man schrieb 1958. Immer gab es ein schnurrig liebevolles Vater-Sohn-Verhältnis, immerhin bei uns eine Rarität unter Schreibenden. Noch der »Schattenfotograf« ist ein Beweis hierfür. Die Figur des Vaters ist in diesen Aufzeichnungen eine der lebendigsten, vehementesten und zartesten Erscheinungen.
Wolfdietrich Schnurre konnte und kann fabel-haft erzählen, das Wort jetzt in seiner Mehrdeutigkeit genommen. Er konnte »fabelnd denken«, wie man gesagt hat. Mehr noch: er war wirklich ein von unablässiger Neugier getriebener Geschichtenverbreiter. Das Nachkriegsjahrzehnt der Kurzgeschichte sah ihn als einen seiner Meister. Seine geschwinde Erfindungsgabe war verblüffend, noch wenn es wie Bluff oder wie Spaß doch, wie eine spielerische und ins Spiel, ins Sprechen, ins unablässige Reden, ins sublime Gequassel zuweilen verliebte und verlorene Art des Sich-Verständigens aussah. Es waren Kurzgeschichten, gleichsam von der Straßenecke, an der Theke, bei Gelegenheit jedenfalls von sich gegeben.
Von diesen Geschichten allein wäre vieles zu sagen, wie es damals geschah. Denn ein Vierteljahrhundert vergeht schnell, während Schnurre, eine Nachkriegsliteratur lang, dabei blieb, zu tun, was er nicht lassen konnte. Beinahe war das so. Es trifft nicht ganz zu. Es gab diese Unterbrechungen. Es gab diese Herausforderungen, die Tod und Krankheit, Leiden und Sorgen und langsame Genesung hießen, Prüfungen allesamt, während der heitere Schnurre in seine Jahre kam, Gedichte wie »Kassiber« vom Jahre 1956 längst geschrieben waren. Das Aufsässige und das Versöhnliche trafen bei ihm unterdessen immer wieder aufeinander und kamen gut miteinander aus in jenen geschwinden Geschichten, in denen geredet und geredet wurde und auch noch einiges passierte, in Essays dazu, in Hörspielen. Er war bald ein geübter Mann, wenn auch kein gemachter Mann, dem der gehörige und vor allem der materielle Erfolg zu Hilfe kam. So hilfreich ging Leben, ging die Zeit wiederum nicht mit ihm um. Aber Schnurre fand nicht nur Verständige unter den Kollegen und in der Kritik. Er fand Analytiker, die das »Phänomen Schnurre« – wenn ich es einmal so nennen darf – bündig und bis heute erkannten.
Es sind jetzt zwanzig Jahre her, als Marcel Reich-Ranicki einen Essay über ihn schrieb, in dem es hieß: »Er ist kämpferisch und verträumt, aggressiv und verspielt, sachlich und versponnen, brutal und sensibel, hektisch und unterkühlt, rabiat und innig, hitzig und bedächtig. Er liebt harte Linien, aber auch Arabesken [...]. Unbarmherzig und schonungslos in seiner Anklage, kann er auch sentimental und rührselig sein [...]. Er ist der Mann des Faustschlags [...] wie der graziösen Geste, der bestürzenden Direktheit ebenso wie der geheimnisvollen Verschlüsselung, ein mitleidender und ein distanzierter Chroniker.« Dies ist wohl so geblieben. Was hier äußerst gerafft erscheint, verteilt sich bei Schnurre auf manches Buch, manche Überraschung und manche Wiederbegegnung.
Er blieb in manchem Reich-Ranickis »militanter Kauz, poetischer Zeitkritiker«, wenn sich auch Militanz und Kritik in der Literatur seither, vor allem in den frühen siebziger Jahren, verstärkt haben und dieses Wiederzurücknehmen des Einen ins Andere, ins liebenswürdige Gegenteil sich eher verloren haben oder vertrackter geworden sind. Ludwig Rohner hat, als er vor vier Jahren vom »Schattenfotografen« schrieb und auf die kurze Prosa zurückkam, von einer »gespachtelten Prosa« reden können und zitierte früheste Schnurre-Prosa, die den »Kahlschlag« denkbar glaubwürdig werden ließ. Man muß einen Augenblick in solche rapide Kargheit hineingehen, sie sich anhören: »Steh ich in der Küche aufm Stuhl. Klopft’s. Steig ich runter, leg den Hammer weg. Mach auf: Nacht, Regen.« Das hat eine Bündigkeit, die nur in ihrer Kürze vermutlich durchzuhalten war. Zum »Phänomen Schnurre«, zu dem, was er schreiben konnte und wie unvermittelt er es tat, gehört dies wie hingehauen wirkende Handfeste. Er kam wirklich so in die Literatur: ohne Umschweif. Er machte die bekannten Nägel mit Köpfen. Es mußte rasch und real zugehen, deftig, derb und mit jenem »Schuß« Gefühl, das man auch ruhig »Gemüt« nennen kann. Es stand ihm so gut an unter dem von mir so genannten »freien Himmel«, unter dem er sich ungeniert bewegte, ohne ins Hantieren zu geraten, ohne, daß ihm der Atem ausgeht oder besser: diese frankfurtisch-berlinerische Puste!
Diese gleichsam durch die Zähne gepfiffene Prosa war nicht ordinär, sie hatte etwas von einem hingeschmissenen Gefühl, das keine Angst vor der Gefühligkeit haue und knallhart zerfloß, wenn ich’s so ausdrücken darf. Alles war schon vorüber, ehe man ihm auf diese schnelle Art des Weitergebens, des Erzählens bei jedem Wetter und fast allen Umständen mit der kleinsten Reflektion kam, die nicht angebracht gewesen wäre, die nicht ins freche Stilleben, in den geschmetterten und gepfefferten Alltag gepaßt hätten. Gewiß hat sich seit der zitierten Charakterisierung einiges verschoben, vielleicht verändert. Das schwierig zu bewältigende Leben kam ihm dazwischen, während Pudel Ali durchaus legitimer Nachfahr von Schopenhauers Hundefreund blieb, der im Namen seines Herrn Korrespondenzen führte und sie sozusagen für ihn Unterzeichnete, auch wenn der richtige Name darunter zu finden gewesen sein sollte. Was heißt schon alter ego? Es war denkbar große Identifikation zwischen Herr und Hund, und der Hund, der gefällige, selbstbewußte, geschmeidige und unverblümte Ali, war die »Stimme seines Herrn«, eindrucksvoller als jenes Verwandten-Abbild auf der Schallplattenreklame von einst. Ali war noch eine Spur beweglicher als der, der ihn ins Leben gesetzt hatte: das Erfundene lebte dabei durchaus nicht auf Kosten seines Erfinders, sondern denkbar unabhängig bei besagter Bewegungsfreiheit, die Schnurre ihm natürlich seit der Kopfgeburt, der nachdenklichen Geburt, hatte zuteil werden lassen. Man kann sich Pudel Ali auch an der längsten oder gar an der elegantesten Leine nicht vorstellen. Da war von Anfang an Unsichtbarkeit für grobe Augen, und so blieb es, für die anderen.
Schnurres Wesen erleichterte sich so, verspielte sich so zuweilen, ohne sich zu verzetteln. Der Schnörkel kann sogar eine gewisse Strenge haben, obwohl mir nicht bekannt ist, daß Wolfdietrich Schnurre hier streng, gar ge-streng gewesen sein könnte. Dies gelang ihm einfach nicht gegenüber Tieren, Kindern und anderen Kreaturen, die er mochte, die er bevorzugte, in die er sich nicht nur versetzte, sondern die ihm von gleicher Haut, gleichem Haar waren und blieben.
Schnurres Werk kennt Stoffülle, ohne dadurch überfüllt zu wirken. Berlin war solch ein Stoff. Es war wahrscheinlich der wichtigste Stoff, wie die Gegenwart und ihr Panorama, auf die kleine Szene gebracht, bis an den Rand, bis zu sogenannten Randgruppen, für die er später noch im »Schattenfotografen« eine deutliche Vorliebe zeigt: und Vorlieben zeigen heißt, von ihnen erzählen und erzählen.
Der nie abreißende Stoff Berlin hat die Eigenart, das liebevolle und das Querköpfige, das Originelle und das zuweilen Sonderlingshafte, den Typ und alles Nahe und Nächste erzählerisch bei ihm in Schwung gebracht und in diesem Schwung gehalten: es ist mitunter ein Fastnichts, wie gesagt, eine Schrebergärtnerei verschmitzter Art, eine List ohne Arglist und Hinterlist, Zorn, der verrauchte, und so oft etwas, das wie die Bebauung, die literarische Besiedlung einer Öde durch rasche Wörter, durch kurze Prosa aussieht, durch geschmuggelte Gedichte, durch leidenschaftliche Beteiligung, nicht nur, sondern durch ein »Mitmachen« dessen, der das alles beobachtet und gleichsam blitzschnell niederschrieb: – ich kenne das Schreibtempo Schnurres nicht, doch wirkt es durchaus so, noch in der Notizenhaftigkeit und Hast, die über Partien des »Schattenfotografen« liegt: – es ist der ihm nachgesagte »heitere«, oder doch wenigstens ein manchmal leidvoll-unverdrossener Rückblick und Weiterblick, der nach und nach hinzu kam. Rückblick und Weiterblick: Schnurre sah sich allmählich altern. Es war seine Art und Weise, zu reagieren und nicht zu resignieren, nicht die Linie, die Tonart zu ändern, weiter sich so zu geben, wie er war – mit diesen quasi Parenthesen, die zuweilen lange Parenthesen, ein deutliches Atemholen, wurden.
Die kleinen Katastrophen haben Wolfdietrich Schnurre für lange mehr beschäftigt als ein überdimensionales Ungemach. Das Rebellische im Alltag war ihm angeboren, das in seiner Radikalität nie zu weit ging. Das Geheimmittel, das Kassiber-Gedicht von einst, verändert sich in späteren Texten zuweilen scheinbar ins Leichte, aber noch im Liebesgedicht wird gefragt »Wo schläft dein Schatten?« Es ist der Schatten, der im Werk Wolfdietrich Schnurres sich nicht nur über die Autobiographie der späteren siebziger Jahre legt. Das Gedicht hat ein Klima des Schwebens, welches das Parabolische oder das Lapidare, das Verschwörerische, das Aktuelle gar, vergessen macht. Auch dies ist Schnurre – als Lyriker neuer Gedichte, die vor vier Jahren erschienen:

»Die Heiterkeit
deines Nasenrückens.
Kolibriflügel
sind deine Brauen.
Finger, gemacht,
um Tautropfen
zu modellieren.
Wo schläft dein Schatten?
Ich lege mich zu ihm.«

Die Zartheit der Andeutung, die Behutsamkeit des Aussparens von Liebesworten, die vegetative poetische Helligkeit ist in solchen wenigen Zeilen, wie ich finde, vollkommen gelungen. Das Leichte kommt hier auch als Augenblick der Erleichterung, fast der Schwerelosigkeit. Einiges ist kurzzeilenlang abgestreift, einiges will vergessen sein. Und dieser Schatten ist schließlich ein leichter, pflanzenhafter Schatten, in den man sich legt: eine momentane Zuflucht. Ich bin absichtlich bei diesem Gedicht Schnurres geblieben, das von der gängigen »Schnurre heiter«-Vorstellung, vom Witz, der bis zum Sarkasmus reicht, entfernt ist, der sich diese Ruhe gönnt, die in den ruhigen Passagen seiner Lebensaufzeichnungen gleichfalls zu finden ist.
Ja, der kecke, bissige, kurzangebundene Schnurre war inzwischen in ein gewisses Alter gekommen, von dem im »Schattenfotografen« nicht nur gelegentlich gesprochen wird, sondern das mindestens zu den »geheimen Themen« der Dokumentation zählt. Er hatte unterdessen zu spüren bekommen, wie das sogenannte Leben mit einem spielt, bis zum Umbringen nämlich, bis zur äußersten Gefahr, bis zur Täuschung und Enttäuschung ohnehin, das ist bekannt und trifft nicht allein den Autor, aber auch bis zur Liebe, einer Liebe, die hilft, die plötzlich da ist. Schnurres Opus Magnum, der oft erwähnte »Schattenfotograf«, ist nicht nur dieser Liebe namentlich gewidmet. Ohne sie wäre er wohl kaum geschrieben, kaum durchgehalten worden.
Denn vieles war zuvor bei ihm sozusagen durch den Reißwolf gegangen, einschließlich der Musen. Was einmal war, was dann hinzu kam, was blieb: Krieg, Krankheit, Wahrheit, aufgezählt klingt dies alles großmächtig oder nur banal. Bei Schnurre hatte es die Farbe des Geschehens bekommen, der Zeugenschaft, der Betroffenheit. »Man sollte dagegen sein«, lautete 1960 ein Buchtitel. Aber so ausschließlich war und ist Schnurre, wie ich ausgeführt habe, nie gewesen, auch dann nicht, wenn er sich erregt. Und er erregt sich schnell und gern, will ich meinen. Einmal nannte er Lyrik eine Waffe. Sie war jene geheime Verständigung des Am-Leben-Seins und Überlebens, des Weiterlebens. Lyrik eben nicht als zarte Liebesszene im Schatten!
Er nannte die Dinge von jeher beim Namen. Er wich nicht aus. Einmal heißt es: »Meine Obrigkeit ist mein Blut. Und mein Blut ist voller Liebe. Es ist nicht die Liebe der Welt: es ist die Liebe der Alge zum Meer.« Renitentes und Zartes liegen hier, noch im lyrischen Phantasieren, so dicht zusammen wie in rüden Dialogen. Es liegt vermutlich in der Natur der Sache, daß man – auch bei Schnurre – das Sperrige, Eckige, Widerständige, Unbequeme eher gesehen und geschätzt hat als diese leisere, zuweilen wirklich rührende Seite seines Wesens und Schreibens. So wie die Kargheit, der Kahlschlag, der bei seinem Auftauchen in der Literatur in Mode war und seine Folgerichtigkeit hatte – neben und nach manchen nichts als restaurativen Elaboraten der frühesten Nachkriegszeit – rascher anerkannt war und als charakteristisch empfunden wurde. Doch so bequem war Wolfdietrich Schnurres Schreiben nie einzuordnen gewesen. Dafür war zu sehr Heterogenes in ihm versteckt, das nicht bis zum Zerreißen, zur Zerrissenheit ging – dafür sorgte sein irgendwann ausgleichendes Naturell. In einer rapiden Lebensskizze nennt einmal Schnurre »Tiere, Natur«, vor »politischen Unruhen, Streiks«. Früh bereits wollte er »so klar, so menschlich, so wahrhaftig wie möglich schreiben«. Ein frommer Wunsch? Sein Werk ist auch als eine Art Wunschzettel zu lesen. Manche seiner Wünsche wurden eingelöst: anderes blieb unerreichbar, Gottseidank füge ich hinzu, denn es blieb ein Stachel im Gewissen dieses Menschen –, vor allem tierfreundlichen Mannes, der ihn quälte und der ihn – so weit es irgend möglich war – weiterschreiben ließ.
Viele waren auf diese Menschlichkeit, diese radikale Offenheit, dank seiner Menschlichkeit, nicht gefaßt, als der autobiographische Bericht heraus kam. Die Überraschung war eher allgemein, und manches Reaktionspendel schlug allzu heftig, verdächtig heftig aus. Hatte man vorher nicht wenigstens Spuren von dem bei ihm entdeckt, was nun am eigenen Leben belegt wurde? Das so oft als pfiffig Erscheinende (und es war ja auch nicht das Gegenteil davon gewesen!) war nun einer großen Anstrengung gewichen, die über den Bekenntnissen lag. Gewiß findet man durchaus noch jene »lippenwarme Schnoddrigkeit«, von der damals Peter Härtling sprach, als er sich mit dem Buch auseinandersetzte. Doch das Fazit, zu dem er wenig später kam, hörte sich so an: »In allen diesen Passagen offenbart sich eine Liebe, die unerhört verletzbar ist, von Ängsten geschüttelt wird, die klagen und rühmen kann, sich versichert und dennoch beinahe erschreckend selbstlos ist, die den Verlust einschließt, aber ihn inständig aus dem Weg und aus dem Leben fleht. ›Ich brauch Dich!‹ Die Liebe zieht die Linien, auf denen Schnurre schreibt. Nicht oft hat ein Schriftsteller sich derart preisgegeben und ist dabei so diskret geblieben.« Dies ist es: Schnurre blieb bei etwas, was wie »Beichte«, Bekenntnis aussah, auf eine nicht ohne weiteres zu bemerkende, daher besonders bemerkenswerte, glaubwürdige Art und Weise diskret. Er »enthüllte« nicht. Er legte bloß. Er legte dar. Er schonte sich nicht, wo es gar nichts mehr zu schonen gab und der Lebensrest jammervoll genug sich ausnahm: verheerende Krankheit, Ehe, Selbstmord der ersten Frau, das langsame, das scheinbar sich beschleunigende Verschwinden, die zweite Frau, das angenommene Kind, die Krankheit dieser zweiten Gefährtin und die Angst um sie. Hilfe und Hilflosigkeit zugleich ließen diese Aufzeichnungen so jederzeit »offen« bleiben: eine Offenheit, die nichts mit »Spannung«, wohl aber mit jener unerhörten Anstrengung zum Leben, jenem Kampf ums Leben und auch ums Schreiben zu tun hatte. Und spätestens jetzt hatte Wolfdietrich Schnurre im wahren Wortsinne um sein Leben geschrieben, als »Splitterchronist, Mosaikbiograph, Faktiker«: so wie er sich selber bezeichnete. Dahinter stand ein Satz: »Was bleibt, ist die Erfahrung des Todes«.
Doch im »Schattenfotografen« geht es nicht nur düster zu. Es wird immer noch quick und oft erquickend erzählt, ja, geredet, was das Zeug, der Satz, die Literatur hält und durchhält. Der Humor ist nicht nur im Pudel-Schriftwechsel zwischen dem Schopenhauerschen und dem Schnurre’schen Vierbeiner präsent wie früher, schön geschnörkelt und »darüberstehend« gewissermaßen. Die Randgruppen, die chassidischen Geschichten, die nie zu Ende zu erzählen sind, wie es scheint, gehören in diese »aufgesplitterten«, ganz unterschiedlichen Niederschriften, wie Zitate aller Art oder die Figur des »Schattenerklärers« gegen Schluß: für die, die nicht aufgepaßt haben. Die Tagesbeschreibung des Schattens liest sich etwas wie ein »Stundenlied« in Prosa, wenn es heißt: »Am Morgen folgt der Körper leichfüßig seinem dahinschwebenden Schatten. Gegen Mittag meldet ein sanfter Stich in der Lendengegend, es scheint die Chance gekommen zu sein, fest und verläßlich auf diesem geschwärzten Zinnsoldatenfundament stehen bleiben zu können. Es schickt seinen kühlenden Trost schon bis in die Kniekehlen hinauf. Gegen Nachmittag dann sind die Endlichkeitssignale hinter den Schläfenwänden unüberhörbar geworden, und der Schatten weist als verläßliche Landzunge bereits weit hinaus ins sterbende Licht. Nicht die tiefer sinkende Sonne, nein: der an Kraft und Schönheit gewinnende Schatten ist es, der die verheimlichte Schwärze hinter den Lidern jetzt lockt. Und abends dann schließlich, wenn der Körper bis an die Unterseite seiner Außenkonturen mit dem körnigen Ruß des Schattenbluts angefüllt ist, erfüllt sich auch endlich das Tagesversprechen: Schattenbeharrung und Dämmerungsfell beginnen ineinander überzugehen«. Schnurres Schattenbeschwörung endet hier nicht.
Und auch dies ist Wolfdietrich Schnurre: er kommt jetzt, indem er den Büchnerpreis erhält, wie von weither auf uns, auf die Leser zu: solange war er dabei, so oft wechselte das Glück, war es Not statt Glück. Es ist sogar auch etwas wie Wiederentdeckung dabei. Wolfdietrich Schnurres zäher Lebensmut behielt schließlich die Oberhand. Allein diese Tatsache läßt alles andere hinter sich.