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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
Satzung
Präambel
Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.
§ 1
Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.
§2
Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.
§3
Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.
Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.
§4
Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.
Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.
Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.
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Georg-Büchner-Preis 2024 an Oswald Egger
Mit Oswald Egger zeichnet die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung einen Schriftsteller aus, der seit seiner ersten Veröffentlichung im Jahre 1993 die Grenzen der Literaturproduktion überschreitet und erweitert. Er arbeitet an einem Werkkontinuum, das Sprache als Bewegung, als Klang, als Textur, als Bild, als Performance begreift...
Der Preis wird am 2. November 2024 im Staatstheater Darmstadt verliehen. Die Veranstaltung ist öffentlich. Eintrittskarten können über das Staatstheater Darmstadt erworben werden. Der Vorverkauf beginnt circa 3 Wochen vorher. Wir informieren Sie gern über unseren Newsletter.
Die Jury wird gebildet aus dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und je einem Vertreter, einer Vertreterin des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme.
Aktuelle Besetzung des Erweiterten Präsidiums: Ingo Schulze, Rita Franceschini, Olga Martynova, Lothar Müller, Lukas Bärfuss, Maja Haderlap, Felicitas Hoppe, Joachim Kalka, Daniela Strigl, Michael Walter.
Schriftsteller
Geboren 24.10.1938
Gestorben 24.5.2024
Mitglied seit 2004
Homepage
... für die einer großen Tradition verbundene Genauigkeit des melancholischen Blicks auf Welt und Menschen, der falschen Trost verweigert und gerade deshalb tröstlich wirkt.
Jurymitglieder
Juryvorsitz: Klaus Reichert
Heinrich Detering, Peter Eisenberg, Wilhelm Genazino, Peter Hamm, Joachim Kalka, Ilma Rakusa, Gustav Seibt, Werner Spies, Ulrich Weinzierl, außerdem Elisabeth Abendroth (Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst), Peter Benz (Stadt Darmstadt)
Literatur als Halt, als Dach über dem Kopf
Der erste Büchner-Preisträger hier in Darmstadt hieß bekanntlich Gottfried Benn. Sein Gedicht ›Teils-Teils‹ ist in jenen Jahren entstanden. Die erste Zeile schon las ich immer mit Vergnügen, weil ich sie jedes Mal in Verbindung brachte mit meinem eigenen Herkommen.
»In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs...«, heißt es bei Benn.
Von Gainsboroughs keine Rede, nicht einmal von einem Elternhaus. Aus unseren Fenstern waren auch keine Chopin-Konzerte zu hören gewesen. An dieser – wohl eher ironisch konstatierten – Misere Gottfried Benns habe ich jedenfalls nicht gelitten. Zur Zeit meiner Geburt bewohnten meine Eltern eine Zweizimmerwohnung in Salzburg. Den Ausgleich für die Mietkosten erbrachte meine Mutter, indem sie für die Hausbesitzerin Arbeiten verrichtete. Mein Vater meistens arbeitslos. Er hatte nicht Bauer werden wollen, überließ das Erbe, den ansehnlichen väterlichen Hof in Mühlbach, seiner Schwester und seinem Schwager, und versuchte wie viele damals in den dreißiger Jahren sein Glück in der Stadt. Es waren die denkbar ungünstigsten Jahre für ein solches Abenteuer.
Meine Mutter wurde nach drei Jahren von der Volksschule genommen. Die Eltern beide krank, einige Jahre später kämpften ihre Brüder in Rumänien und Serbien. Mit zwölf Jahren ungefähr hatte sie ein großes Bauerngut bei Sankt Johann im Pongau so gut wie allein bewirtschaften müssen. Als die Eltern nach dem Krieg starben, brachte der Vormund, ein Rechtsanwalt, sie und ihre Brüder um ihr Erbe – sie erhielten jeder den Gegenwert von einer Kuh. Ihre Handschrift habe ich zeitlebens bewundert.
Kaum auf die Welt gekommen (ein halbes Jahr, nachdem auf dem Residenzplatz in Salzburg Bücher verbrannt wurden), wäre ich um ein Haar beinahe wieder abgetreten: In einem der Fenster des Schlafzimmers fehlten in jenem frostigen Winter 1939 einige Scheiben; darum scheint sich niemand gekümmert zu haben. Den Keuchhusten überlebte ich knapp, und alle, vor allem der Arzt, schienen überrascht, hatte meine Mutter später einmal berichtet. Ohne Bilder und ohne Bücher in den Elternwohnungen also auf-gewachsen. Aber es gab Auen, Bäche, Wiesen und Wälder am Stadtrand. Seit der Volksschulzeit wurde ich ein Leser. Leidenschaftlich gerne las ich die wöchentlichen Kriminalschmöker meines Vaters, sobald er sie auf die Seite gelegt hatte. Später lieh ich mir von Schulkameraden einige Bände Karl May. Mit ungefähr zehn Jahren wünschte ich mir zu Weihnachten einen dicken Packen Schreibpapier – ich wollte ebenfalls einen Roman schreiben. Es blieb beim Wollen.
Nachdem die amerikanische Armee uns – wie alle Bewohner der Parscher Siedlung – aus unserer Wohnung vertrieben hatte – von einem Tag auf den anderen mussten wir sie verlassen –, flüchteten wir in eine Notunterkunft in einem nahe gelegenen leerstehenden Schloss.
Mein Vater baute ein paar Jahre später – als die aus dem Schloss vertriebenen Emigranten zurückkehrten –, mit Hilfe eines seiner Brüder ein Blockhaus am entgegengesetzten Stadtrand, nahe der kaum befahrenen Autobahn, die damals nur bis Mondsee reichte. Am ersten Mai wurde jedes Jahr der Große Preis von Österreich für Motorräder ausgetragen – wobei die Autobahn für mehrere Tage gesperrt worden war. Sofort entflammte ich für den Motorrad-Rennsport, verbrachte schon die beiden Trainingstage von früh bis spät im Fahrerlager.
Gegen den Willen des Vaters erlernte ich nach acht Schuljahren das Handwerk eines Motorrad-Mechanikers, das Zerlegen, Reparieren und Zusammenbauen der Motoren. Als ich mir einbildete, es zu können – und so erging es mir dann im Laufe meines Lebens immer wieder –, verlor ich das Interesse. Es dauerte Jahre, bis ich wieder eine Sphäre gefunden hatte, der ich mich nähern wollte – dem Theater.
In der Schauspielschule in der Nähe von München, in der ich schließlich wunderbarerweise landete, begann ich jedoch erst einmal wieder zu lesen, ganze Tage, halbe Nächte. Als Faktotum, als »Haussohn« war ich eingestellt worden. Die Direktorin – in den dreißiger Jahren spielte sie in Berlin am Theater – war für drei Sommerwochen zu einem Kuraufenthalt nach Südtirol gereist, und ich war der einzige Mensch in der Villa in Gauting, umgeben von lauter Büchern. Keine Minute hatte ich überlegt, ich hatte ihr ja gesagt und mein Motorrad verkauft.
Dostojewskij wurde mein Lieblingsautor. Auf der Suche nach Dramentexten, vor allem nach Monologen, welche für die Aufnahmeprüfung geeignet sein könnten, war ich – noch daheim – auf Hermann Hesses Schrift Eine Bibliothek der Weltliteratur gestoßen, in der ich mir viele Reclam-Bändchen angekreuzt hatte, so auch den Großinquisitor. Als ich in der Bibliothek der Schauspielschule die Gesamtausgabe von Dostojewskij stehen sah, begann ich mit Erniedrigte und Beleidigte. Diese Welt schien mir gar nicht fremd, wenn ich auch so großherzige Menschen in meinem Leben noch nicht kennengelernt hatte. Für Raskolnikow empfand ich sofort brüderlich; seine grauenhafte Tat verband mich nur noch enger mit ihm. Wie gern wäre ich wie Rasumichin sein Freund gewesen. Von Anfang an mussten für mich literarische Werke – sollten sie Lieblingsbücher werden – eine Symbiose von »Verstand und Gefühl« bilden.
Noch hatte das neue Unterrichtsjahr nicht begonnen. Wie würde ich mich anstellen, wenn alle die feinen jungen Damen und Herrn eines Tages im September eintrudeln würden? Einige hatte ich bei der Eignungsprüfung flüchtig kennengelernt. Wie hatte ich – der ich mehr oder weniger im Dialekt redete – ihr wohlklingendes Hochdeutsch bewundert! Die Direktorin hatte mir, ehe sie abgereist war, eine Broschüre mit Sprechübungen in die Hand gedrückt, ich solle ja jeden Tag üben, dies sei fürs Erste das Allerwichtigste. Jeden Tag nahm ich mir vor, bald damit zu beginnen. In dem Zimmer, in dem ich schlief, stand ein kleines Regal, mit lauter Bändchen der ›Insel-Bücherei‹. Jeden Tag zog ich einige der dünnen Bücher heraus, blätterte, las einige Zeilen eines Nachworts. Und so stieß ich auf ein Bändchen mit zwei Texten Georg Büchners: Woyzeck und Lenz. Vielleicht war es der fremd klingende Name Woyzeck, der mich veranlasste, das Bändchen für meinen Nachmittagsspaziergang einzustecken. Auf einem Baumstumpf sitzend, begann ich zu lesen. So etwas Radikales, aufs äußerste Verdichtete hatte ich noch nie gelesen... Aber eine Rolle für mich enthielt dieses Stück wohl nicht. Seltsamerweise scheine ich – soweit ich mich erinnern kann – keine Verbindung gezogen zu haben zwischen Raskolnikow und Woyzeck. Woyzeck war mir unheimlich. Aus heutiger Sicht könnte ich es damals so empfunden haben, dass bei Dostojewskij immer ein metaphysischer Horizont über allem gewölbt ist – und in Büchners Welt Gott – und damit alle Hoffnung auf Erlösung – verloren gegangen ist.
Mit dem Prosastück Lenz hatte ich fürs Erste nichts anfangen können. Ich war ja auf Dramen und Komödien konzentriert gewesen, auf Monologe. Aber bald darauf wurde ich aufmerksam auf Leonce und Lena, und dieses Stück war mir das liebste; bis weit hinein in den Text konnte ich nach drei Tagen die Rolle des Leonce auswendig – ja, eine Zeitlang fühlte ich mich als Leonce. Ich hatte wohl das Gefühl, dass ich in dieser Rolle allen auf der Schule überlegen sein würde, weil ich als Leonce nichts ernstzunehmen brauchte. Und als Leonce, stellte ich mir vor, würde ich Frau von Zerboni, sobald sie zurückgekehrt war, überraschen. Ich stolzierte in dem riesigen von mir gebohnerten Saal im Erdgeschoss herum:
»Was die Leute nicht alles aus Langeweile treiben! Sie studieren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheiraten und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich aus Langeweile, und – und das ist der Humor davon – alles mit den wichtigsten Gesichtern...«
Auch für mich war die »Welt« eine Art Gegenpol, gegen den ich mich zu wehren hatte; aber von irgendeinem meiner Vorfahren hatte ich Humor geerbt – die Welt konnte mir also nicht eben viel anhaben. Wirklichkeit und Phantasie – die Grenzen haben sich in meinem Kopf ohnehin immer wieder verwischt, oft hatte sich für mich das Geschriebene an die Stelle der »Wirklichkeit« gesetzt.
Schon stellte ich mir auf meinen Wanderungen in den Wäldern von Gauting vor, wie ich im Saal der Schule auf der Bühne stand und den Leonce verkörperte. (Noch wusste ich nicht, dass Frau von Zerboni sich um die Schüler der Unterstufe überhaupt nicht zu kümmern pflegte.)
Nach acht Monaten fuhr ich ernüchtert nach Salzburg zurück und fand mein Zimmer von meiner Schwester belegt. Ich hatte keine Ahnung, wie es weiter gehen könnte. Auf jeden Fall wollte ich mir alle Wege offen halten, keinerlei Verpflichtungen eingehen. Immerhin war mir klar geworden, dass man auf der Bühne immer wieder ein Anderer sein darf; das war es vielleicht gewesen, was mich dorthin gezogen hatte.
Gern hätte ich meinen Vater geliebt, aber er scheint nie Interesse an mir gehabt zu haben. Nie hat er zu mir über seine jungen Jahre geredet, in denen er auf einer »Volksbühne« Theater gespielt hatte. Nach seinem Tod wurden Manuskripte gefunden, Fragmente von Theaterstücken, die er verfasst hatte. Ich habe davon erst viel später von meiner Mutter erfahren. Überhaupt wurde bei uns zu Hause kaum etwas geredet. Nach dem Zweiten Krieg wurde der Vater nach und nach ein Trinker – eine gebrochene Existenz. Und ich suchte mir später immer wieder ältere Männer, die eine Art von Vater für mich wurden, zum Beispiel der Bildhauer Toni Schneider-Manzell oder der Arzt Wladimir Tschelistschew. Er und seine Frau waren die ersten Menschen, denen ich meine Schreibversuche zeigte. Hätte Wolodja gesagt: Lieber Walter, das Schreiben ist wohl doch nicht deine Stärke, so hätte ich es – fürs Erste jedenfalls – wahrscheinlich sein lassen. Bevor ich ihn kennengelernt hatte, war ich ratlos: keine Freunde, einen (wie bei Kafka) übermächtigen, gleichzeitig erbärmlichen Vater, keine berufliche Zukunft, keinen Lebensweg vor Augen. In einem weltanschaulichen Gehäuse hätte ich mich nie aufhalten mögen. Es war die Literatur, die mir Halt gegeben hat, mir ein Dach über dem Kopf war. Nachdem ich den Anton Reiser von Karl Philipp Moritz gelesen hatte, war mir, als könnte mir nichts mehr geschehen. Lange bevor ich mir als Autor vorkam, hatte ich bei Hofmannsthal gelernt, der Platz des Dichters sei in dem Kabuff unter der Treppe. Er selbst zog freilich die oberen Etagen vor. Sieht man jedoch genauer hin, so scheint es, als habe nach und nach auch ihn etwas Unerklärliches beinah heimatlos werden lassen.
In seinem Erinnerungsbuch, dem Bericht Die Entstehung des Doktor Faustus, erinnert Thomas Mann sich an Gespräche mit Gerhart Hauptmann in den dreißiger Jahren, nachdem das Romanfragment Andreas oder die Vereinigten von Hofmannsthal aus dem Nachlass erschienen war. »Einmal sagte er«, schreibt Thomas Mann, »der Anfang von Hofmannsthals Andreas-Fragment sei beeinflußt von der Art, in der Büchners ›Lenz‹ beginnt. Eine rein rhythmische Beobachtung, auf die so leicht sonst niemand verfallen wäre.« Dieser Satz von Thomas Mann über Gerhart Hauptmann hat mich, als ich ihn vor Jahren las, begeistert.
1937 notierte Hauptmann sich einen Satz von Jakob Wassermann über den Andreas: Dieses Fragment zähle »zu den unsterblichen Bruchstücken wie die h-moll Symphonie von Schubert, wie Büchners Lenz...« Es sei »mehr als wahrscheinlich, daß Hofmannsthal den Lenz gekannt hat.« Nun, viele Jahre sind seither verflossen. Dass das kleine – ebenfalls Fragment gebliebene – Prosawerk Lenz viele Autoren fasziniert und beeinflusst hat, ist längst kein Geheimnis mehr. Und ich fragte mich, ob es möglich sei, dass Gerhart Hauptmann sich nicht bewusst gewesen war oder verschwieg, dass ihn selber Büchners Lenz beeinflusst hatte, als er die Erzählung Bahnwärter Thiel schrieb.
Eigentlich kann ich mir ja keinen Schriftsteller, keinen Künstler ohne Vorbilder vorstellen. So wie ich mir in jungen Jahren keinen Tischler oder Mechaniker hätte vorstellen können, der nicht sein Handwerk bei einem Meister gelernt hätte, und auch später, als Geselle, immer wieder seinen oder einen Meister um Rat gefragt hätte.
Einige bemerkenswerte Sätze habe ich mir vor Jahren aus einem Band von Felix Philipp Ingold notiert: »Den Autor, der nicht zuerst Leser ist, gibt es nicht, kann es nicht geben ... Das Entscheidende, das Eigenste, was der Autor zum Werk beitragen kann, ist die Art und Weise, wie er die Wörter der anderen aufnimmt, sie übersetzt in den Text, um sie für sich sprechen zu lassen.« Und weiter: »Als Dichter Autor sein zu wollen, ist Anmaßung und Unsinn; als Dichter ist man nicht Urheber, sondern Kompilator, Arrangeur, Übersetzer.« Über diesen Satz kann man natürlich streiten. Zumindest könnte man das Wort Dichter durch das Wort Schriftsteller ersetzen.
Ich habe einmal gelesen, dass sich in gewissen orientalischen Literaturen die Meisterschaft darin zeige, wie nahe ein Dichter seinem Vorbild kommt, und nicht darin, etwas »Originelles« zu schaffen. Auch Marcel Proust hat sich bekanntlich in dieser Disziplin versucht und es in den Pastiches auf die Werke Balzacs, Flauberts und anderer Autoren tatsächlich zu einer unglaublichen Meisterschaft gebracht, bevor er seinen eigenen unnachahmlichen Tonfall anstimmte.
Als ich anfing zu schreiben, hatte ich selbstverständlich nicht die geringsten theoretischen Kenntnisse. Auch ich habe das Schreiben wahrscheinlich durch das Lesen erlernt. Ich erinnere mich an zwei Bücher, die wegweisend waren: Kafkas Prozess, in dem der Protagonist ein Angestellter war. In diesem Roman las ich zum ersten Mal Szenen, die in einem Büro spielten, in einer Bank, mit Kollegen, mit einem Direktor-Stellvertreter, mit Telefongesprächen... Da dachte ich mir: Aha! Es muss ja gar nicht ein Held sein, der alle möglichen Abenteuer zu bestehen hat, kein Liebesdrama. Ja, dann kann ja auch ich anfangen zu schreiben.
Der zweite Text war der Essay Der Erzähler von Walter Benjamin, in dem Benjamin an Hand des russischen Schriftstellers Nikolai Lesskow über den Ursprung des Erzählens berichtet: Bauern und Seefahrer seien es gewesen, die etwas zu erzählen hatten, später auch die herumreisenden Handwerker.
Die Helden oder besser Taugenichtse meiner frühen Erzählungen waren mehr oder weniger etwas verschrobene junge Männer, die mit ihrem Leben unzufrieden waren, ratlos gleichzeitig, wie sie diesen Zustand ändern könnten. Auch der Stefan meines Romans Selina in seinem alten toskanischen Gemäuer gehört zu ihnen.
Über den Lenz von Georg Büchner hab ich immer wieder einmal sagen hören, Büchner habe diesen Text aus den Aufzeichnungen des Pfarrers Oberlin entnommen, habe bloß einiges verändert oder hinzugefügt. Schon lange wünschte ich mir, die Zeit zu haben, um Büchners Prosastück und Oberlins Tagebuch nebeneinander zu legen und zu vergleichen. Was jetzt – dank diesem schönen Anlass – geschehen ist. Als ich den Lenz in den sechziger Jahren zum ersten Mal las, hatte ich das Gefühl, dass ich, was den Prosastil betrifft – zumindest in den ausgearbeiteten Abschnitten –, endlich in der »Moderne« angelangt war. Nicht einmal die Prosa Franz Kafkas, meines Idols, hatte mich dermaßen beeindruckt. Nur bei Beckett empfand ich später ähnlich; er hat die geläufigen Tonarten um einige Schraubenwindungen weiter radikalisiert. Aber das Wort ›Moderne‹ habe ich ja eigentlich nie so recht gemocht, nicht nur wegen seiner Nähe zu dem Wort ›Mode‹.
Etwas Neues ereignet sich in der Kunst nur sehr selten, schrieb ausgerechnet Adalbert Stifter – den ich eigenartigerweise erst spät für mich entdeckt hatte. In seinen Nachkommenschaften sagte er: »In der Kunst... ist ebenso wenig ein Sprung möglich als in der Natur. Wer plötzlich etwas so Neues erfinden wollte, daß weder den Teilen noch der Gestaltung nach ein ähnliches da gewesen ist, der würde so töricht sein wie der, der fordern würde, daß aus den vorhandenen Tieren und Pflanzen sich plötzlich neue nicht da gewesene entwickeln. Nur daß in der Schöpfung die Allmählichkeit immer rein und weise ist; in der Kunst aber, die der Freiheit des Menschen anheim gegeben ist, oft Zerrissenheit, oft Stillstand, oft Rückschritt erscheint.«
Für mich jedenfalls zählte immer bloß die Qualität einer künstlerischen Arbeit, egal ob sie vor zweitausend Jahren oder vor zwanzig entstanden war. Die Gedichte Gottfried Benns überragen jene von Horaz oder Catull nicht, so schien es mir jedenfalls.
In der aufregenden Prosa des Lenz glaubte ich etwas wirklich Neues entdeckt zu haben. Der Eindruck bestätigte sich jetzt, nach einem neuerlichen Lesen. Es ist ein unglaublich bildhafter, oft rauschhafter Stil, von Bewegung geprägt, realer anmutend als die so genannte »Realität«. (Wer denkt da nicht an Balzacs Ausspruch »Zurück an den Schreibtisch, zurück zur Realität«.) Ein Stil, der mich als Leser völlig in seinen Bann, in das Geschehen hineinzieht, in die Innenwelt des armen Lenz; Innenwelt und Außenwelt kaum noch unterscheidbar. Bei keinem anderen Autor habe ich so mitreißende Naturbeschreibungen gelesen – welche jene von Stifter freilich furchtbar harmlos aussehen lassen. Büchner skizziert rasch wechselnde Bewusstseinszustände: Einmal wurde ihm alles »so klein, daß er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen«, dann wieder dehnte sich ihm die Welt so unendlich weit, dass er sich »in das All hineinwühlte«. Vorüberfliegende Szenen, wie in einem Film – der noch gar nicht erfunden war. Die Befindlichkeit des an der Seele kranken Dichters wird und bleibt in jeder Zeile spürbar. Es spielt gar keine Rolle, dass Büchner aus Oberlins Tagebuch einiges wörtlich übernommen hat.
Der Dichter Lenz, Zeitgenosse, aber offensichtlich nicht Freund Goethes, ein ewig Flüchtender, nie zur Ruhe Kommender, wie der Franz Tunda in der Erzählung Die Flucht ohne Ende von Joseph Roth. Was hätte Büchner (der schließlich ebenfalls zu einem Flüchtling wurde) aus seinem Fragment gemacht, hätte er länger gelebt? Er hat aber auch – so scheint mir – nur anhand der Aufzeichnungen Oberlins – freilich auch mit seinem ärztlichen Wissen –, ein halbes Jahrhundert später anscheinend den unglücklichen Dichter Lenz viel besser verstanden als der Pfarrer Oberlin, der ihm einige Zeit doch sehr nahe gewesen war.
Ich kann Oberlin nicht verurteilen, weil er Lenz nicht mehr in seinem Haus haben wollte, so wie ich Goethe nicht verurteilen will, der angeblich Lenz aus Weimar vertrieben hatte: Man weiß ja nichts über die Gründe. – Oberlins ganzer christlicher Glaube, seine seelsorgerische Praxis konnten ihm nicht helfen, diesen an der Seele schwerkranken Menschen zu ertragen. Er hatte Lenz sicherlich nicht bloß aus dem Haus haben wollen, weil dieser ihm öfter die Suppe hatte kalt werden lassen. Vielmehr wegen seiner Suizidversuche oder weil er im Beisein der Frau Oberlin manchmal mit Messer und Schere herumgefuchtelt hatte.
Dostojewskijs Helden, Jakob Michael Reinhold Lenz – ich hätte sie beide in der Realität wohl auch nicht ausgehalten.
Gerne stelle ich mir vor, Georg Büchner sei einer, dessen Herz nicht versteinerte.
Der Gedanke, was er vielleicht alles hätte schreiben können, wären ihm noch einige Jahrzehnte geschenkt worden, ist wahrlich atemberaubend!