Georg-Büchner-Preis

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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Satzung

Präambel

Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.

§ 1

Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.

§2

Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.

§3

Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.

Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.

§4

Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.

Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.

Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.

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Reinhard Jirgl

Schriftsteller
Geboren 16.1.1953
Mitglied seit 2009

Reinhard Jirgl, der in einem Romanwerk von epischer Fülle und sinnlicher Anschaulichkeit ein eindringliches, oft verstörend suggestives Panorama der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert entfaltet hat...

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Klaus Reichert
Heinrich Detering, Peter Eisenberg, Wilhelm Genazino, Peter Hamm, Joachim Kalka, Per Øhrgaard, Ilma Rakusa, Gustav Seibt, Werner Spies, außerdem Elisabeth Abendroth (Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst), Peter Benz (Stadt Darmstadt)

»Praemeditatio malorum – Schreiben am mitternächtigen Ort«

1

Ein eiserner Äquator verläuft längs durch Europa, separiert Ost von West. Ich werde hineingeboren in die zugehörigen Rossbreiten, in die Windstille des Landes DDR, ein, könnte Büchner sagen, etwas überzwerges Land mit roter Tapete. Das geeignete Stickluftklima, um aus allem Menschlichen erneut die Exemplare Heuchler und Opportunist, Spitzel und Denunziant aufsprießen zu lassen. Geboren 1953, in der ersten Generation nach dem Zweiten Weltkrieg, scheint es abgemacht, dass dieser Generation östlich des eisernen Äquators stets nur Krisenzeiten begegnen sollten. Das politische Klima jedoch, in dem diese Generation aufwächst, ist ein zunehmend raues, die Frostmale sind die niedergeschlagene Arbeiterrebellion 1953 in der DDR – das blutige Ende des Aufstands in Ungarn 1956 – die von Truppen des Warschauer Vertrags erstickte Revolution von Oben 1968 in Prag, das »Danton«-Drama auf Tschechisch. Und im Alltag die sattsam bekannten Einschränkungen in allen materiellen Lebensbereichen zur Reglementierung und Disziplinierung einer Bevölkerung – der einzig erlebbare Fortschritt ist die Zunahme der Rückständigkeit. Dagegen aufgestellt all die pompöse Anaphorik, die bevorzugte Stilfigur des Katechismus und der Obrigkeit zum Lob der eigenen Herrschaft, um ihre Untertanen auf diese Herrschaft einzuschwören. Noch für die Redlichen unter den SED-Funktionären (ich gehe davon aus, dass es sie gab), die um eine antifaschistische Gesellschaft ernsthaft Bemühten, gilt der Nietzsche-Spruch: »Wer zeitlebens gegen Drachen kämpft, der wird schließlich selbst einer.« Der Faschismus-Verdacht degenerierte zum Hauptinstrument für eine politische Verfolgungsjustiz. Die grausamen Erfahrungen derer, die unter Hitlers Diktatur litten, verführten zur Hexenwaage der fatalen Propaganda: Die Waagschale mit Hitlers Verbrechen ließ die Waagschale mit den gleichartigen Verbrechen Stalins in den Himmel der Unschuld fahren, für manche bis heute. –
Und so sah ich später diese Exemplare einer selbsterklärten »Vorhut der Arbeiterklasse«, ihr Menschenbild aus dem Geist von Bastlern, verhüllt von den löcherigen Mechanikerkitteln einer Konfektionsmoral, die mit Schraubenzieher und Kneifzange die Seelen der Menschen zu rektifizieren trachteten, und musste ihre rübigen Urteile über moderne Kunst und Literatur anhören beim kollektiven, gut überwachten Warten auf den unausbleiblichen Sieg des Kommunismus. Die Tautologie des faselnden Hauptmanns im Drama Woyzeck über das Moralische – »Moral, das ist, wenn man moralisch ist« – findet ihr Echo in der Parole vom Marxismus-Leninismus: »Der Marxismus-Leninismus ist wahr, weil er wissenschaftlich ist, und er ist wissenschaftlich, weil er wahr ist!« Allen Ernstes eine rhetorische Pflichtübung selbst für die Staatsexamen. Wer sie vergaß, riskierte durch die Prüfung zu fallen, wer sie bezweifelte, riskierte weit Schlimmeres.
Niemals das Gefühl von etwas Neuem, das sich erst einrichten müsse, bestimmte mein Lebensgefühl, dafür Abscheu, Unsicherheiten und Zweifel sowie der unbedingte Eindruck von etwas Altem, über das erzählt wurde und die Geschichtsbücher berichteten; Altes, das lediglich die Masken gewechselt hätte – kein Zeiten-, sondern ein Zeichenwechsel.
Denn all diese Biederkeit, diese grob geschmierte Wurstbrotigkeit selbstgesicherter Beamteter der Menschheit bestand auf dem Fundament betonharter Staatsgewalt mit ihrem immer weiter auswuchernden Feind-Begriff. Schon als Kind hörte ich von Nachbarn, die ABGEHOLT worden seien, sah am Bahnhof der Kleinstadt, in der ich lebte, die von bewaffneten Wachtposten umstellten Reihen der Verurteilten aus den Gefängnisautos heraus- und über den Vorplatz eilen, schon in den schwarzgelb gestreiften Zuchthausdrillich gehüllte Gestalten. Was mochten sie verbrochen haben, dass sie wie gefährliche Tiere, vorgeführt und eskortiert von Polizisten mit Hunden, am Spalier der gelernt Sprachlosen vorüber, in den Gefängniszug, DDR-Jargon »Grotewohl-Express«, zum Abtransport in die Zuchthäuser verfrachtet wurden? Einschüchterung, Abducken, Parole: »Aushalten, Durchhalten, Schnauzehalten!« –: Das sollte die neue, alle Menschen beglückende Gesellschaft sein?! Daraus sollten Attraktivität, Sympathie, freudiger Wille zum Engagement erwachsen?! Und, so musste ich Jahre später erkennen, all das war kein zufälliges Scheitern, weil bedauerlicherweise die Falschen an der Macht waren; das war kein humanistischer Betriebsunfall (der Humanismus selbst hat diese Zustände hervorgebracht), sondern das, was gewesen war, das war bereits alles; mehr oder gar Besseres gibt es niemals zu erwarten von allen Utopien, sobald sie zum Staat aushärten. – Abwenden und die innere Kündigung von solch gewalttätiger Scheinwirklichkeit waren früh vollzogen.
Blieben die Bücher, das Antibiotikum gegen die Infektion durch verfaulendes Leben. Und es mochte die vielgerühmte unsichtbare Hand gewesen sein, die meinen Griff zu Büchern lenkte. So habe ich, mit 15 oder 16 Jahren, im Bücherregal der Eltern auch einen schmalen Band entdeckt, auf dessen Rücken stand: »Georg Büchner. Dichtungen«. Ich blätterte das Buch aufs Geratewohl auf und las: »Haben Sie schon gesehn, in was für Figuren die Schwämme auf dem Boden wachsen? Wer das lesen könnt!« Es war diese Stelle im Woyzeck, die mich auf einen Schlag an diesen Dichter fesselte. Wer ist das, der so hat schreiben können? Denn wer so schreibt, ahnte ich, der kann nicht enttäuschen. Ich las damals dieses Buch auf einen Sitz. – Freilich ist diese erste Lektüre viel zu schnell, zu hastig geschehen, denn übergroß ist der Hunger nach Literatur, die bis ins Mark eindringt. Und solches zu lesen wird später dann Impuls sein zum eigenen Schreibversuch, um wiederum lesen zu können, was noch nicht geschrieben ward. Die verfänglichsten Eindrücke eines beginnenden Lesers und später eines Neulings im Schreiben, die am weitesten reichenden Tastversuche nach Empathie mit einem Großen liegen sämtlich vor dem Verstand, vor der bewussten, kritischen Wahrnehmung. Es gibt ein Wort dafür: Eingeweidesympathie. Und dies auch in der Umkehr: die aus der Physiologie herrührende Abneigung gegen Indoktrinationen aller Art, ein körperlicher Schutzmechanismus vor geistiger Abhängigkeit und Zerstörung.
Späteres, sich wiederholendes Lesen ließ mich dann erkennen: Büchners Dramen sind eigentlich Nach-Dramen, bewusste Verstöße gegen »das gut gebaute Stück«; alle Peripetien haben bereits stattgefunden: Danton ist schon zu Beginn des Stückes zum Tod verurteilt; Woyzeck hört den Mord an Marie, den er begehen wird, bereits im Raunen der Stimmen, die nur er hören kann; das Lustspiel Leonce und Lena spielt nach der Lust und dem Lachen, ist schon Ewigkeitsvertreib der Toten, die nicht sterben können. Als Lenz, der hastende Wanderer in den Irrsinn, vom Pfarrer Oberlin fortgeschickt wurde, war auch er schon ein Toter, allein das Verhungern als Bettler in Moskaus Straßen stand ihm noch bevor. Büchner musste das nicht mehr hinschreiben, es hätte Lenz noch einmal des Respektes beraubt. Was noch auszurichten bleibt zwischen Katastrophe und Satyrspiel in der Stickluft der Stagnation, ist Woyzecks Mord an Marie. Sie war die einzig Lebendige inmitten der selbstgesättigten Kleinbürgerwelt, Marie hatte die Macht der Frau: die Macht ihrer Sexualität, die auswählt, zulässt oder verweigert. Woyzeck hatte nur seine verschwitzte, glücklose Liebe zu ihr – wie einem das Lebensmuss doch den Atem einpresst zum Fürchten! – und dazu die Indifferenz seines Messers. Marie musste, so die Logik des Stückes, um zu dieser erstickten Welt zu gehören, selber tot sein. Diese Welt: das Lebendige darin als Tautologie, die Natur als natura morta, das Erloschene und die Täuschung. Und dieselbe Welt: Alles Leben will werden und sein, und zum Dasein die Möglichkeit, Eigenes hinzuzufügen. Gewaltige Aufladung der Wirklichkeiten! Der Funke springt über bei entgegengesetzter Polarität, doch bei gleichartiger Leitfähigkeit. »Es gibt Gedanken, Julie, für die es keine Ohren geben sollte. Das ist nicht gut, daß sie bei der Geburt gleich schreien wie Kinder.« Lässt Büchner Danton zu seiner Frau sprechen. – So will mir all das aus meinem Alltagserleben sehr bekannt erscheinen, als habe Büchner auch für das 20. Jahrhundert vorweggeschrieben. Das Gleiche hier und die tötende Langeweile – wogegen skalpellscharfe Sätze geschliffen werden müssen, um aus dem Körper des vergifteten Lebens die noch lebendigen Nervenstränge zu sezieren – für den geistigen Abschied vom falschen, dem erniedrigten Leben. Büchners Dramensprache ist mit dem Rückenwind von Shakespeares Duktus verfasst, der auch unsere Dramen und Komödien schreibt.
Getrimmt auf die Lehrmeinung der unbedingten Einheit von Künstler und Werk, wollte ich hier einen Grundwiderspruch bei Büchner sehen und wähnte mehrere Personen in einer: sah den Autor medizinischer, naturwissenschaftlicher und philosophischer Schriften; sodann den Dichter des Nihilismus und des Lebensverzichts (denn wo Tautologien dominieren, ist alles gleichgültig, auch Leben und Tod); und sah dagegen den Bürger, der aktiv sich auflehnt, Pamphlete verfasst, gegen die Reichen und ihre Gesetze rebelliert, Vereine für Menschenrechte gründet und von den »Vereinigten Staaten von Europa« träumt. Lauter Heterogenitäten! Wo, fragte ich mich damals, finden diese Haltungen zusammen? Oder verbleiben sie, unvereinbar, in gegenseitiger Antithese? Ein Leben, beneidenswert kurz und rasch gelebt, im beständigen Widerspruch zu sich selbst?


2

Am 29. September 1830 wurde anlässlich einer öffentlichen Feier am Ludwig-Georg-Gymnasium zu Darmstadt der Vortrag eines 17-jährigen Gymnasiasten gehalten, angekündigt wie folgt: »Karl Georg Büchner wird in einer deutschen Rede den Cato von Utica zu rechtfertigen suchen«. Es geht in diesem Vortrag um den Freitod des Cato im Jahr 46 vor unserer Zeitrechnung. Cato war überzeugter Republikaner und damit der natürliche Gegner der cäsarischen Monarchie, er hatte den Tod der Unterwerfung unter Cäsar vorgezogen. Späterhin war er dafür von der christlich geprägten Moralauffassung heftig verurteilt worden.
Aus Büchners inzwischen berühmt gewordenem Vortrag hier einige Sätze:

... eine kleine Zeit darf nicht einen Mann nach sich beurteilen wollen, von dem sie nicht einen Gedanken erfassen und ertragen könnte. [...] Wer will nach den Meinungen und Motiven eines Kindes wägen und verdammen, wenn Ungeheures geschieht, wo es sich um Ungeheures handelt? Die Lehre davon ist: man darf die Ereignisse und ihre Wirkungen nicht beurteilen, wie sie äußerlich sich darstellen, sondern man muß ihren inneren Sinn zu ergründen suchen, und dann wird man das Wahre finden. [...] Denn da man die Handlungen eines Mannes nur dann zu beurteilen vermag, wenn man sie mit seinem Charakter, seinen Grundsätzen und seiner Zeit zusammenstellt, so ist nur ein Standpunkt, und zwar der subjektive, zu billigen, und jeder andere, zumal in diesem Fall der christliche, gänzlich zu verwerfen. Sowenig Cato Christ war, sowenig kann man die christlichen Grundsätze auf ihn anwenden wollen.

Mit dem Überschwang des Früherkennenden, der alles, was seine Gedankenwelt ausmacht, sich selbst herantragen und erarbeiten will, hatte der junge Büchner seine Rede verfasst. Das Symbolhafte am Tod des Cato als Ausdruck für den Freiheitswillen eines Einzelnen, gegen die Übermacht einer Obrigkeitswillkür gestellt, und das Aufrührerische an Büchners Darstellungen dürfte den Hörern der damaligen Zeit nicht entgangen sein. Die Beweisführung hat ihre Trefflichkeit zudem weit über den hier erörterten Gegenstand und die Jahreszahl 1830 hinaus erwiesen. Historische Ereignisse, von welcher Tragweite und zu welcher Zeit auch immer, aus den Verhältnissen der Geschehenszeit her ermessen heißt, das »Gehirn in die Falten der jeweiligen Zeit legen«, wie Arno Schmidt bemerkte, erst daraufhin urteile und rede man! Die Beurteilung abendländischer Geschichte im Allgemeinen, im Speziellen der deutschen, dürfte nach diesen Maßgaben zu einigen neuen Einsichten und Bewertungen verhelfen. Es geht nicht um Entschulden, aber es geht um Verstehen! Denn trotz im Verlauf der Jahrhunderte allgemein verfeinerter konsensueller Regeln: Ein moralischer Fortschritt existiert nicht. Selbst Formen der Sklaverei sind aus den Gesellschaften niemals verschwunden, Sklaverei sieht heutzutage nur anders aus und trägt bisweilen andere Namen: darunter Organhandel, Klonen, das Staatsmonopol für Sterben und Tod. Die neuen elektronischen Medien: eine Technik, arbiträr, indifferent, unregiert. Bekanntlich lässt sich der Grad für Sklaverei noch beträchtlich steigern, sobald man ihr den Anschein und das Vokabular von Freiheit gibt.
Die zunehmende Lebensbeschleunigung durch wissenschaftlich-technische Neuerungen lässt die Illusion vom umfassenden Fortschritt der Menschheit entstehen, was indes den immer gleichen, alten Grundkonflikt überdeckt: Innerhalb der Krankheit Leben bildet die zyklische Krise der Mensch.
In Georg Büchners Geburtsjahr, 1813, fand bei Leipzig die so genannte Völkerschlacht statt, der Anfang vom Ende des Napoleonischen Imperiums. Ein Jahrzehnt hatten die französischen Heere Europa mit Krieg überzogen und dabei notwendigerweise auch die deutsche Kleinstaaterei beseitigt. Und mehr, Napoleon hatte, ganz nach abendländischer Manier, Europa vereinigt mit den ihm zugehörigen Mitteln: Macht um jeden Preis, Krieg als Motor aller Dinge. Der letzte europäische Vereiniger dieses Schlags, man muss es aussprechen, war Hitler. Kriege und Völkermord als Väter des europäischen Vereinigungsprozesses! Von Napoleon zu Hitler – alle späteren Projekteure eines vereinten Europas haben sich mit dieser Ahnenreihe auseinanderzusetzen.
Georg Büchner wuchs auf in den Zeiten der nachnapoleonischen Restauration. Und da waren sie erneut: Die deutschen »Däumlingsfürstentümer«, von denen Mark Twain schrieb, man könne dort, im Bett liegend, die Beine nicht ausstrecken, ohne dabei eine Landesgrenze zu durchbrechen. – Aber auch in Frankreich war nach der Schönheit des Aufstands die revolutionäre Akzeleration schneller gewesen, als die Ideale dieser Revolution hätten Wirklichkeit werden können. Und der »Schaum auf der Welle« verdorrte und versandete in den Intrigen der Funktionäre um Posten, Ämter und Einfluss, deren Hauptverbündeter die Guillotine war, von Denunzianten gut beliefert. Auch in Frankreich waren die Ideale der Revolution längst zur sentimentalen Erinnerung verkommen, was den Zynismus eines Saint-Just immerfort bestätigte: »Wenn ein Volk unterdrückt werden kann, wird es auch unterdrückt.« Aber Frankreich war ein Staat und eine Nation geblieben.
Aus der schon in seinem Gymnasiumsvortrag über Cato behaupteten alleinigen Gültigkeit des subjektiven Standpunkts, aus dieser Subjektzuschreibung in der Beurteilung historischer und politischer Geschehnisse, beschleunigt von der Verzweiflung über den politischen status quo, sprengt sich nun bei Büchner der Begriff vom »Fatalismus der Geschichte« heraus. Im Schlaglicht dieser Erkenntnis schreibt Büchner seine erste literarische Arbeit, das Drama Dantons Tod. Das Grundraster dieses Stückes ist die durch Politik zerbrochne Liebe zwischen Camille und seiner Gattin Lucile. Camille, Deputierter des Nationalkonvents, ein Funktionär der Revolution von 1789, ist des Todes, verhängt von Widersachern in den eigenen Reihen. Lucile, die von Politik nichts, vom Leben viel versteht, sieht nach der Hinrichtung ihres Gatten, um diesem wieder nahe sein zu können, den einzigen Weg im eigenen Tod. Der ist – wie man früher sagte – wohlfeil, wo Gesinnung zu Parolen geschliffen und wie Messer gehandhabt wird. Dantons Gemahlin Julie verhält sich nach der Hinrichtung ihres Gatten wie eine klassische Tragödin, sie nimmt Gift; während Lucile die Todesart der neuen Zeit für sich auserwählt: Am Schluss des Dramas erfolgt ihr Ruf nach dem ärgsten Feind: »Es lebe der König!« Das beschert ihr die Verhaftung und den sicheren Tod – und wenige Jahre später den Franzosen und Europa einen neuen Kaiser.
Schauen, prüfen, vergleichen, staunen, aber nicht schwärmen; mit dem Gestus des medizinischen Sezierers öffnet der Autor Büchner in einer Vivisektion den Leib der deutschen Sprache und entdeckt das Argot, die Redeweise jener, die in den Dramen der Klassiker bislang allenfalls unter »Diener, Bauern, Handwerker, Soldaten und anderes Gefolge« figurierten, zumeist als bunte, grobfädige Staffage – die »ewigen Maulaffen Volk« – für die Dramen der Obrigkeit. Jetzt erscheint diese Untrigkeit selbst im Mittelpunkt der Geschehnisse, mit eigener Sprache, eigenen Ansichten und einer ihrem Elend entstammenden Dramatik.
Als Folge dieser Sprachobduktion schreibt Georg Büchner die Szenen zum Fall Woyzeck, das Drama des Vierten Standes, mit der Sprache des Expressionismus, lange bevor dieser Begriff erfunden war. Eine Literatur und eine Geschichtsschreibung von Unten, nicht von den Kommandohöhen herab, sondern bewusst der Historiografie der Herrscher und deren Bestreben nach Kontinuität ihrer Machterhaltung entgegengesetzt. Der Held in diesem Drama ist der Arme, der in höchster Not zu den rechten Worten greift. Der exemplarische Spruch des Soldaten Woyzeck zum Hauptmann: »Unsereins ist doch einmal unselig in der und der andern Welt. Ich glaub’, wenn wir in Himmel kämen, so müßten wir donnern helfen.«
Allein mit rhetorischen Figuren, oft durch die Tautologie, erzielt Büchner auf das Sinnfälligste den Eindruck allerorts erstickten Lebens, und die individuellen Schlagseiten der Einzelexistenzen in Büchners Dramen zeigen bereits das Ganze der menschlichen Natur: homo omnium horrorum und dann, sobald den Schrumpfikariden die Flügel bei ihren hochfahrenden Machenschaften versengt und die Sachen schiefgegangen sind, immer vor Gott oder dem »Richterstuhl der Geschichte« das Winseln um Erlösung. – Das Fazit aus der Novelle Lenz und darüber hinaus das Schicksal des wirklichen Jakob Michael Reinhold Lenz will eines erweisen: Mit den Menschen ist es so eingerichtet, dass der Mensch den Anderen, wo der am menschlichsten ist und damit den Anderen am nächsten, nämlich im tiefsten Zweifel am Sinn der Dinge und des Lebens in dieser Welt, diese Nähe nicht aushalten, nicht ertragen kann. Also stoßen die Menschen den Menschen von sich; und so lebt jeder weiter, allein in sich, dahin –. Und die Welt der Gegenwart ist so weit offen, bietet Ausweg neben Ausweg, dass sie vollkommen wegelos erscheinen muss.


3

Hier ist der mitternächtige Ort, der finsterste im Schreiben Georg Büchners: Das Märchen im Drama Woyzeck, das die Großmutter den Kindern auf der Straße erzählt:

Es war einmal ein arm Kind und hatt’ kein Vater und keine Mutter, war alles tot, und war niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es is hingangen und hat gesucht Tag und Nacht. Und weil auf der Erde niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an; und wie es endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz. Und da is es zur Sonn gangen, und wie es zur Sonn kam, war’s ein verwelkt Sonneblum. Und wie’s zu den Sternen kam, waren’s kleine goldne Mücken, die waren angesteckt, wie der Neuntöter sie auf die Schlehen steckt. Und wie’s wieder auf die Erde wollt, war die Erde ein umgestürzter Hafen. Und es war ganz allein. Und da hat sich’s hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und is ganz allein.

Spätestens als Georg Büchner seinen Vortrag über Catos Freitod verfasste, muss er mit der antiken Stoa in Berührung gekommen sein, denn Cato war Stoiker. Sein Freitod folgte den Regeln der Stoa, denen zufolge der Selbstmord moralisch gerechtfertigt ist, sobald das Leben ein unlebenswertes Maß an Unterdrückung und Schmerz ohne Aussicht auf Besserung erfährt. Gleichfalls zur Stoa gehört die prononcierteste wie von jeher umstrittenste Denkübung – sie wird Büchner nicht entgangen sein –: die praemeditatio malorum, die geistige, in der Vorstellung eingeübte Vorwegnahme des schlimmstmöglichen Übels. – Man muss die Bedeutung dieser Übung erfassen, die auf den ersten Blick dunkel, pessimistisch, alles Künftige nur in tiefster Schwärze zu erblicken meint. Aber Zukunft und künftig eintretende Ereignisse sind zweierlei; in allen denkbaren Möglichkeiten sucht diese Geistesübung das Schlimmste auf, selbst wenn dessen tatsächliches Eintreten eher unwahrscheinlich ist. Auch wird die Zukunft nicht in zeitliche Ferne gelegt, sondern als unmittelbares Geschehen betrachtet: Ich werde jetzt verhaftet und enteignet, jetzt werde ich verurteilt und ins Gefängnis geworfen, gefoltert, verstümmelt, zur Deportation gezwungen oder ums Leben gebracht –: alles jetzt und hier. – Es geht dabei nicht um die Vorstellung der Leiden oder der Schmerzen, die solche Ereignisse anrichten, sondern es geht dabei um die gedankliche Trennung der Dinge und der Vorstellungen von den Dingen. Somit erkennt man den Sinn dieses Manövers: Nicht eine mögliche, gar herbeigewünschte Zukunft voller Übel soll vor Augen geführt werden, damit man sich etwa durch Abstumpfen oder Langeweile auch an das Übel gewöhnte, sondern die Übel, die eine Zukunft evozieren können, wird man nicht mehr als solche betrachten, müssen, sobald man sich in ihnen übt. Seneca schrieb: »Indem er [der Mensch] alle Übel für möglich hält, nimmt er ihren Angriffen die Wucht, die für bewußt Vorbereitete eben nicht überraschend kommt.«
Der Höhepunkt der praemeditatio malorum besteht folgerichtig in der Einübung des eigenen Todes. Aber nicht in der ständigen Vergegenwärtigung der Gewissheit eigener Endlichkeit, vielmehr ist der Tod im Leben zu erkennen: In der Stunde deines Todes wirst du erfahren, wer du wirklich bist. Daher ist jede Stunde so zu leben, als könne sie die letzte sein. Epiktet: »Bei welcher Beschäftigung möchtest du vom Tod überrascht werden?« Und Seneca meinte, der Tod sei der Moment, um über sich selbst zu urteilen und den ethischen Stand seines Daseins zu ermessen.
Was einst in der Antike eine exquisite Geistesübung zur ethischen Vervollkommnung des Einzelnen für das Gemeinwesen war, ist im Verlauf der Jahrhunderte mit ihren desaströsen Erfahrungen aus Geschichtsabläufen und technischen Katastrophen längst zum Bestandteil eines üblichen Denkhaushalts geworden. All die simulierten worst-case-Szenarien in den Prozessen von Wissenschaft, Technik, Militär, Ökonomie gehören hierher, unlängst der so genannte Stresstest für Bankinstitute mit der Frage, ob sie im Netzwerk ihres eigenen Finanzbanditentums der nächsten, somit selbst herbeigeführten Krise standhalten oder zugrunde gehen würden. Noch im verzerrtesten Abbild solcher Szenarien schimmert die Urgestalt des stoischen Gedankenspiels hindurch. Bedeutsam ist die gesellschaftliche Ausbreitung dieses Manövers: Nunmehr sind es die Mächtigen, die infolge ihrer eigenen Machteffekte immer auch für sich selbst das Schlimmste in Anschlag bringen müssen.
Und Büchner seinerseits? Statt des berechtigten Stolzes über sein erstes erfolgreich abgeschlossenes Drama Dantons Tod scheinen ihn Zweifel an seiner literarischen Bestimmung erfasst zu haben. Und wie in einer Laboranordnung einen literarischen Selbstversuch entwerfend, ergriff er das Schicksal seines Wahlverwandten im literarischen Geist Jakob Michael Reinhold Lenz. Büchner versetzt sich durch Imagination schreibend in diesen Lebenslauf, soweit die Aufzeichnungen des Pfarrers Oberlin reichen. Unbeirrt führt er die Konsequenzen dieses langsam dem Wahnsinn anheimfallenden Dichters vor (eine Entwicklung, die Büchner möglicherweise auch für sich selbst befürchten musste, ließe er weiterhin mit der Literatur als Beruf sich ein). Die Dramatik, das Leiden und den Witz des Ich, die Innenschau als Wahrheit einer Erzählung, will heißen, den Zerreißprozess zwischen Ich und Außenwelt erfahrbar schildern – das macht für den Leser die Einzigartigkeit dieser Novelle und die Gefährlichkeit für den Autor!
Hier löst sich für mich der einst vermutete Widerspruch zwischen dem Wissenschaftler, dem Dichter und dem Bürger Georg Büchner auf. Die stoische Übung des praemeditatio malorum ist das Schreiben, das Wort-Spiel als Strategie, um den Schmerz in Bann zu schlagen. Außerhalb der Wörter das erniedrigte Leben – Hass auf die Zustände und Mitleid mit den Ausgelieferten beenden für Büchner die Stoa. Daher bleibt nach Verstandesprüfung eins: sich durch Taten erheben, und seien diese Taten auch nur das »lächerliche Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich«.
Georg Büchner gelangte zu seiner grandiosen Literatur auch, weil er gerade nicht auf das »System Literatur« zuschrieb. Ob Arbeiten über Schädelnerven, über das Nervensystem der Barben, über die Tat des Woyzeck oder das Leben des Dichters Lenz, ob wissenschaftliches oder literarisches Arbeiten: Das eine befördert das andere und in allem derselbe Gestus mit demselben Instrument: die Versuchsanordnung und das Skalpell des Atheismus. Das Ziel: Erkenntnis der unvollkommensten Geschöpfe aller Welten, der irdischen. Diagnose: immer wieder Schmerz. Therapie: Wo der Schmerz des Menschen Zentrum besetzt, wird einem Gott, dem erklärten Schöpfer dieses Menschen und dieses Schmerzes, das Wort entzogen; Gott ist für tot zu erklären, sein Totenschein die Literatur. In der mitternächtigen, am weitesten ausgestreckten Denkübung zwischen Sein und Nichts gründet ein Potential an Leben und an Liebe, ein fester Blick auf das Sosein, selbstlos und trostlos – denn Unheil geht immer von den Dingen und Verhältnissen aus, niemals vom Boten, der es meldet! –, eine Liebe, die vom äußersten Standort des Lebendigen über dem »Abgrund Mensch« den Toten gewidmet ist, weil der Tod zum Leben gehört. Diesen Blick auf Menschen und Dinge zu richten, und vor dieser Medusa dennoch nicht zu erstarren – das ist des Einzelnen Souveränität.

Ich danke der Akademie für Sprache und Dichtung für den Zuspruch durch diese höchste literarische Auszeichnung. Mein Dank gilt all jenen Stimmen, die mir die große Ehre angedeihen lassen, den Georg-Büchner-Preis mit meinem bisherigen Werk verbunden zu sehen. –
Aber, sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie mich meinen Dank noch in andere Worte fassen. Ich hatte mit dieser Auszeichnung nicht gerechnet. Hatte mich gegen Einflüsterungen verschlossen, wie Odysseus die Ohren seiner Mannschaft gegen die Gefahren des Sirenengesangs. Denn verheerend ist’s, auf einen Preis zu hoffen, den man niemals bekommt!
Das Unverhoffte ist mir nun als Geschenk zuteilgeworden. Und in eine durchaus kindliche Freude, wie über jedes Geschenk, mischt sich hierbei die große Ermutigung für meine weitere Arbeit, wie gleichfalls das Wissen um deren materielle Voraussetzung. Es ist für mich der schönste Impuls zum Weitermachen und ein Hinweis darauf, dass ich das Bisherige nicht vergebens geschrieben habe. Dies vor allem verbinde ich mit meinem Dankeschön.