Georg-Büchner-Preis

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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Satzung

Präambel

Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.

§ 1

Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.

§2

Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.

§3

Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.

Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.

§4

Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.

Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.

Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.

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Oskar Pastior

Schriftsteller und Lyriker
Geboren 20.10.1927
Gestorben 4.10.2006
Mitglied seit 1989

... der in seinen poetischen Sprachwelten, fernab von Klischee und Kommerz, die lautsinnliche Materialität des Wortes zu schönster Entfaltung bringt...

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Klaus Reichert
Friedrich Christian Delius, Peter Hamm, Harald Hartung, Joachim Kalka, Peter von Matt, Uwe Pörksen, Ilma Rakusa, Gustav Seibt, Werner Spies, außerdem Peter Benz (Stadt Darmstadt), Erich Post (Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst)

Laudatio von Christina Weiss
Kulturstaatsministerin a.D. und Publizistin, geboren 1953

Pastiorbüchner

Einfall ist Zweifall, sagt Oskar Pastior(1). Jeder Einfall in seinen Texten ist mindestens ein Zweifall, meist aber ein Vielfall. Der Zweifall bringt in jedem Fall schon zwei Dinge miteinander in Spannung. Einspurigkeit, Eindeutigkeit gibt es nicht in der Poesie. Bei Pastior spielt die Mehrdeutigkeit die Hauptrolle Er erfindet und findet eine neue Welt aus Sprache – aus seiner Sprache, die für uns eine fremde ist, eine befremdliche, eine unerwartete, eine unerhörte. Das Alltagsvertrauen in die Sprache treibt er uns gründlich aus, stattdessen lehrt er uns das Staunen über das sinnliche Material Sprache und seine Möglichkeiten, Bedeutungen zu erzeugen. Pastiors Texte führen Vom Sichersten ins Tausendste,(2) wie er 1969 seinen ersten in der Bundesrepublik erschienenen Gedichtband nannte. Was ihn ausmacht, sind seine Sprachen und sein unbändiger Freiheitswille, mit diesen Sprache umzugehen.
Pastior bezeichnet seine Sprache aus vielen Sprachen, aus west-östlichen Zungenschlägen und Mundarten seit 1978 als seinen »krimgotischen Fächer«.(3)
In einer deutschsprachigen Familie in Rumänien ist er aufgewachsen im siebenbürgischen Hermannstadt, dem heutigen Sibiu. Die schon früh und bewußt erfahrene Mehrsprachigkeit, immer den anderen Ausdruck im Augenmerk, schärft das Bewußtsein für die eigene Sprache und ihre Möglichkeiten.
In seinem Essay »Vom geknickten Umgang mit Texten wie Personen« beschreibt Pastior die Erfahrung der sprachlichen Sonderstellung einer Minderheit:

»Vielleicht leben und definieren sich Sprachen von Minderheiten ständig durch ständig übersetzende Vergleiche – der Januskopf in der Suppe, das schizophren gespaltene Haar, der schiefe (produktive?) Unterschied. Da steckt im Selberschreiben auch schon das Blinzeln nach der Bedeutung durch grundsätzlich andere Raster.«(4)

Der Spielraum der erfahrenen und erlebten Sprachen weitete sich für Oskar Pastior, als sein Name auf einer Liste stand, die sein Leben und sein Denken entscheidend verändern sollte: Mit 17 Jahren wurde er als Deutscher zur Schuldabdienung in sowjetische Arbeitslager deportiert. Zwischen 1944 und 1949 lernte er dort Russisch kennen und alle Mundarten der Deutschen aus den Ostgebieten. Er beschreibt diese Zeit als sein großes Kollektiverlebnis, die Zeit, in der seine Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbehauptung sich ausprägte. Der Luxus des unabhängigen, eigenen Gedankenspiels wurde ihm bewußt, und er machte die Erfahrung einer geradezu existentiellen Sinnlichkeit von Sprache, indem er sich in den Zeiten des Hungerns durch die Vokabeln verführerischster Speisen ablenken konnte. Durch Schwelgen in Gänsebratenrezepten und Süßspeisennamen überredete er den Hunger. Die weiten Spielräume der Vorstellungskraft befreiten ihn. Nach seiner Rückkehr aus der Zwangsarbeit folgten diverse Arbeiten als, wie er es beschreibt, »Kistennagler, Betonmixer, Wohnbaukostenvoranschlagskalkulator in einer kraus waldigen und ondulatorischen Landschaft, die mit Musik zu tun hat«(5), danach Militärzeit, Abitur, Studium der Germanistik in Bukarest. Als Redakteur beim deutschsprachigen Programm des Bukarester Rundfunks von 1960 bis 1968 erlebte er Manipulation und Mißbrauch von Sprache, Prägungen, die seine Sehnsucht nach Sprachfreiheit und Gedankenunabhängigkeit vollkommen machten. In seinen Worten: »Je ismenreicher (niederträchtiger) das Klima im Land, um so prekärer der Begleitumstand, daß Texte, sobald sie publiziert worden sind, den Makel einer obrigkeitlichen Sanktionierung weghaben.«(6)
In der neuen Werkausgabe Band I, »... sage, du habest es rauschen gehört«, sind nun auch frühe Texte aus der Bukarester Zeit publiziert. Obwohl es für Pastior die Erfahrung von Textfälschung und Zensur gab, fehlt seinen Texten der staatlich erheischte Aufbaujubel dennoch ab Ende der fünfziger Jahre ganz. Der junge Dichter Oskar Pastior hat die erzwungene Unmündigkeit und die geforderte Anpassung aufgebrochen mit den Mitteln poetischer Offenheit. »Dann fahrt das Wort in die Zunge«(7), dieser Vers aus einem Gedicht von 1957 beschreibt metaphorisch das Verfahren. Pastior selbst spricht zu dieser Zeit noch vom »assoziativen Stil«. Seine Forderung: »(und dieses hebt die Methode aus der Verantwortungslosigkeit und der Zufälligkeit heraus)« lautet: »der produktive Schritt, der assoziative Sprung von a zu a’, b zu b’ usw. muß durch gehend den Vektor des ganzen Werkes tragen, immer wieder gleiche Ausrichtung, gleiche Absicht ausdrücken. Eisenfeilspäne und Magnet.«(8)
Schon damals also war es für Pastior wichtig, einem Prinzip des Verfahren, zu folgen. Seine Themen zu dieser Zeit sind Landschaft und Liebe, zunehmend aber auch wird Unbehagen lesbar, der verbogene Gang, die Lügen, die Schuld die »Fratze Stillstand«(9), der Wunsch, »jetzt will ich arbeiten an dem Gedicht«(10). Sein assoziativer Stil, die poetische Mehrdeutigkeit, half ihm, sich zu entziehen. Als Oskar Pastior 1968 in dem Text Der Biserbricht seinen Abschied metaphorisch, aber deutlich ankündigte, verstand man ihn nicht oder man nahm ihn nicht ernst, weil man diese neue dunkle Poesie nicht ernst nahm. Die Ausreise nach Wien wurde genehmigt, und Oskar Pastior kehrte nicht mehr nach Rumänien zurück, sondern lebt seit 1968 in Berlin. Er brachte sich selbst und seine, seine eigene Sprache wieder in die Freiheit. Paul Celan, der bereits 1947 aus Rumänien emigrierte, spricht 1958 über sein Exil und über die Sprache als Instrument der Wirklichkeitsschöpfung:

»Das Erreichbare, fern genug, das zu Erreichende hieß Wien. Sie wissen, wie es dann durch Jahre auch um diese Erreichbarkeit bestellt war. Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten dieser Verluste dies eine: die Sprache. Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Ausweglosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, ›angereichert‹ von all dem. In dieser Sprache habe ich, in jenen Jahren und in den Jahren nachher, Gedichte zu schreiben versucht: um zu sprechen, um mich zu orientieren, um zu erkunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen. ... wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend.«(11)

In diesen Sätzen liegt eine beeindruckende Nähe zu Oskar Pastiors Verhältnis zur Sprache. Auch er hat ihren Mißbrauch erfahren, er hat die alltägliche und ideologische Vernutzung der Sprache erlebt, er nimmt sie als Material angereichert durch alle seine Erfahrungen, die er mit ihr erlebend, lesend, lauschend gemacht hat und erfindet wortschöpferisch neue Denkwelten, ein Löcken wider alle Regeln, wider alle Zwänge und Ideologien und zugleich die Lust an der Sprache und ihren Möglichkeiten. Oskar Pastior hatte einen fertigen Gedichtband in der Tasche bei seiner Reise ins Ausland, der dann selbstverständlich nicht mehr in Rumänien erscheinen durfte. Auch dieser Band namenaufgeben ist jetzt in der Werkausgabe erstmals publiziert. Und dann erschien 1969 Vom Sichersten ins Tausendste, der erste Band mit den völlig freien Eigenwörtern, die Eigensinn herstellen: Listiges Ausreizen der Bedeutungsmöglichkeiten von Sprache, von sprachlichem Möglichkeitssinn im Muster des krimgotischen Fächers. Der Mut zur Freiheit ist groß. Oskar Pastior nennt Velimir Chlebnikov seinen »Mutmacher«(12). In Berlin begann er mit Übersetzungen von Chlebnikov-Texten. Die poetische Sprache des russischen Futuristen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die »Zaum-Poesie« nennt Chlebnikov selbst eine »Sternensprache«. Es sind Wortgeflechte aus sprachlichem Material, bei dem alles zugelassen ist, Ungewohntes, Unerhörtes, Wortfunde aus abgelegenen Sprachen, Worterfindungen, alle Stimmlaute, alle Sprechweisen. Diese Sprache läßt sämtliche alltäglichen und vernutzten Redewendungen außer acht und bietet auch gerade deshalb die Chance, von Menschen unterschiedlicher Muttersprachen verstanden zu werden. Von Menschen, die bereit sind, den Konstellationen der Sternensprache zu folgen. In diesem Sinne rücken die literarischen Experimente des 20. Jahrhunderts an gegen die babylonische Sprachverwirrung, indem sie die Wörterbuchfixierungen und die grammatikalischen Sätze, alle diese akribischen Versuche zur Vereindeutigung sprachlicher Kommunikation, in sinnlich erlebbare Lautbewegungen auflösen und die Sprachgrenzen zerbröckeln. Eine neue Welt zu erschaffen mit einer neuen Sprache, diese Sehnsucht Chlebnikovs traf sich mit der Sehnsucht Celans und mit der Sehnsucht Pastiors. Die Aufdröselung der Sprache in ihre Bestandteile und die Erfindung neuer Kombinationen ist eine Herausforderung an den Übersetzer, der diesem Phänomen nur mit großer verbaler Kreativität begegnen kann. Eine kleine Passage aus dem Stammsilbentext »Allerleilach«, dem berühmtesten von Chlebnikov, mag das Verfahren veranschaulichen:
»die Lachgelachschaft, die Gelächterschaft lachend verunlächere, die Lachmacher, Lachbolde, lachlige, Lächlinge, Lachiane, den Lacher und die Lachin, den Lachant und die Lachantin, Allachingens Lachgelächt. Von der Urlächlichkeit. Was Lacherer zusammenlächern. Von den Belachern und Belachtem. Von den Gelachteten und Erlächtigten.«(13) Pastior bezeichnet seine Arbeit an Chlebnikov als einen »Freiheitsrausch«(14), eine »alchemistische, mikrosynthetische sozusagen ›hüpfende‹ Strategie des somnambulen Findens relationaler und vektorialer ›Offerten‹ im Deutschen«.(15)
Die Übersetzung ist eine der Versuchsanordnungen, eines der Verfahren in Pastiors strengem System von Arbeitsstrukturen. Beim Übersetzen ist eine Linie immer vorgegeben, eine Lautlinie, eine semantische Linie oder eine syntaktische Linie, der Pastior folgt. Bei seinen Petrarca-Übersetzungen hing er sich an die Satzstruktur, erfand sich in Petrarcas Sätze aber seine eigenen Vokabeln, versuchte, wie er schreibt: Petrarcas »Metaphern ›in statu nascendi‹ zu überraschen«(16). Er nähert sich Petrarcas Liebe, die ja auch Liebe zur Sprache war, und verstrickt sich in seine eigene Liebe zum Wort, zum aufgebrochenen Wort, zur Wortreihe mit Wechselspielen und Zweifällen. Es ist der »›Stoff, aus dem ich bin, meine handgeknüpfte Metapher‹; währenddessen, eingefädelt im Stich, heillos verheddert, verstrickt, übe ich darin den Salto mortale, eine Art Entbindung; gleichsam die Litanei; wie soll das ausgehn.«(17) Die Litanei, die Wortliste, das Wörterbuch sind für Oskar Pastior geliebte Leitmotive und Hilfsmittel: Aufgelistet ist jedes Wort gleichberechtigt, wird jedes Wort zum Namen. Auch darin liegt der herausfordernde Reiz der Übersetzung, daß sie das Wörterbuch fordert, und der aufgelistete Wortschatz immer neue Inspiration evoziert und immer weitere Funde aufdeckt. Wort an Wort, Lautveränderung an Lautveränderung, Sinnspur nach Sinnspur. Das Einzelwort kann ohne die Einengung durch einen Kontext seinen Bedeutungshof öffnen – alles Erinnerte, Gelesene, Gehörte, Erlebte schwingt noch mit bei der Lektüre. Es verweist auf alle seine möglichen Verwendungen, oszilliert, endet in jedem Leserkopf anders. Das entspricht dem Verfahren der konkreten Poesie, die das Einzelwort, die Silbe, den Laut, die Moleküle der Sprache nur auf sich selbst verweisen lassen will, nämlich auf die sinnliche Wahrnehmbarkeit, den klanglichen und optischen Reiz und natürlich auf den Bedeutungshof, die Fülle aller möglichen Verwendungen. Das isolierte Wort, die Wortkonstellation ohne feste syntaktische Fügung sind Sprache-in-Möglichkeit – offen in ihrer ganzen potentiellen Vieldeutigkeit, Dinge im Werden, prozeßhaft also.
»Verwirren und entwirren«, heißt es bei Pastior, »man kann’s auch beschreiben nennen – betrübt die Vernunft und ist doch vernünftig. Es bedient sich listenreich und haarspalterisch der hauseigenen Mittel, um den Mystizismus auszutreiben. Beschreiben ist Beschwören. Heraufbeschwören, zitieren, vorführen, beim Wort nehmen, welches immer wieder ins Vom-Hörensagen schliddert, es am Beispiel packen, es übersetzen, übertragen, verteidigen und hochhalten. (›J’accuse‹). Die Willkür, mit der es fur diverseste Interessen benützt wird – auch von mir – erkennbar machen, exorzieren«.(18)
Es ist ein sehr sinnenfrohes Spiel, dem man erst wirklich auf die Schliche kommt, wenn man das Glück hat, dem Dichter zu lauschen. Er intoniert seine Vokabeln musikalisch. Alles ist Laut und alles scheint sich aus musikalischer Folgerichtigkeit zu ergeben. Pastior befreit sein sprachliches Material nicht von Sinn, er gibt einem musikalischen Material sprachliche Bedeutungsenergie. Seine Gedichte sind Improvisationen aus 26 Buchstaben – und diese Wortleiber sind Klangkörper, die sich einschmeicheln und im Zuhörerohr Sinnenlust, in seinem Kopf die Sinnmaschine bewegen. Gleichberechtigt sind die Wortlaute, die syntaktische Hierarchie ist aufgehoben, es ist eine 26-Ton-Musik, die vergleichbar der 12-Ton-Musik funktioniert. Keiner der Töne darf dominieren, in jeder Kadenz erklingt jeder Ton nur einmal. Dennoch gibt es Millionen Variationsmöglichkeiten. Es ist die künstlerische Entscheidung des Komponisten, welche Kombinationen in sein Hörgeflecht aufgenommen werden. Oskar Pastior geht es letztlich immer um die Semantik, er bewegt die Wortlaute so lange, bis sie ihm neue Einsichten bloßlegen. Er baut auf die Satzerwartung als treibende Kraft.
Das Muster, dem ein Text folgt, die Versuchsanordnung der Komposition, ist Oskar Pastior wichtig, und darin liegt auch einer der Gründe, weshalb er als einziges deutschsprachiges Mitglied in die Gruppe OULIPO aufgenommen wurde. Die von Raymond Queneau gegründete »Ouvroir de littérature potentielle« versammelt die Familie der »Wörtlichnehmer«, die es auszeichnet, daß sie »einander Befremdendes herstellen«(19). Die Oulipoten geben sich bestimmte Regeln, Beschränkungen, »contraintes« also, Formzwänge welcher Art auch immer. Eine numerische Struktur oder eine alphabetische, konsonantische, vokalische, syllabische, phonetische, rimische, rhythmische Struktur. Pastior hat zum Beispiel die Gattung »Gedichtgedichte«(20) erfunden, mit der er Gedichte imaginiert, die es nicht gibt. Es sind Beschreibungen möglicher Typen von Gedichten, die er als Zeilenprozession vor dem geistigen Auge des Lesers vorüberziehen läßt, Mutmaßungen über Poesie. Pastior liebt auch die historischen Spielformen der Poesie: Anagramme, Palindrome, das Sonett, die Villanellen und Pantums, die Sestine und natürlich die von ihm hinzuerfundenen Vokalisen und Gimpelstifte, die lustvollen Orgien »nicht nur des Wohlklangs; eher der Polysemie und syntaktischen Polyvalenz«.(21)
Alles richtet Pastior gegen das normative Denken und gegen die unbedachte Selbstverständlichkeit der Verständlichkeitserwartung beziehungsweise die Forderung, danach zu wissen, wovon die Rede ist. Er hält mit folgenden Worten aus einem Vortrag von 2001 dagegen:

»im antitotalitären konsens treffen sich elegien und oden mit sonetten, palindromen, anagrammen, gehen läppische vokalisen einher mit hochgestochenen sestinen – es wuseln pantum, villanella, buchstabengewichtetheit und andere oulipotische tranformationsverfahren herum in diesem grundkonsens; von dem gar nicht geredet werden müßte, weil eiferer eh nicht dazu gehören, eh draußen sind und aus gedichten sich nichts machen; während wir schon wieder mancherorts des türmens mit dem elfenbein geziehen werden können, obgleich wir bloß verzweifelt komisch dabei sind, den Spielraum und die hexenprobe zwischen determiniert und indeterminiert, möglich und notwendig auszuloten – irgendwie ständig mit dem ungesättigten procedere im kopf, ein sensorium fürs relationale zu entwickeln, sozusagen jenes skalpell aus dem beweglichen Stoff, der so künstlich ist, daß es, das skalpell, selber zum denkkörper wird, in den es schneidet. Textgenese als vivisektion. Poesie als Sachbuch. Die erkenntnis als fabrikation, scharf unscharf (unschärfe relationiert) findet umbedingung statt. Und die hoffnung, von der ich lebe, daß nämlich gut poetische texte der naturwissenschaftlichen erkenntnis eh immer eine nasenlänge voraus sind (oh ja!) ist wahrscheinlich nur ein buckel irgendwo in einem fraktal.«(22)

Die selbstgesetzte Regel ist Erkenntnisinstrument, Verfahren der Konzentration, aber: Das Schöne an freiwilligem Regelzwang ist natürlich die Abweichung aus künstlerischen Gesichtspunkten oder Ohrpunkten, die erfrischende Subversion durch Unschärfen oder Zusatzregeln.
Pastiors Jonglieren mit Klängen und Lettern ist lustvolle Sinnlichkeit, aber er bringt die Sinne zum Denken. Der Bedeutungsprozeß wird angereizt und vorangetrieben. Die Vielstimmigkeit der Texte erzeugt Ohrensausen. Die Wortdinge, die Pastior vorgibt, erschaffen sich in jedem Leser neu, münden bei jedem Leseakt in ein anderes Erfahrungsfeld – Experimentierfeld. Alles, was in die Aura der Wörter aus ihrer Geschichte, aus dem Gedächtnis ihrer Sprachverwendungen und Gefühlsfärbungen eingegangen ist, parliert aus den Zwischenräumen mit, sickert durch, drängt sich unterschiedlich heftig in den Vordergrund. Der Leser als Textbenutzer erlebt im Sprachvollzug diesen Austauschprozeß mit. Sein Interesse – sein Interesse – ist wörtlich zu nehmen: Er gerät dazwischen, er mischt sich ein in die Wörter, und mit den Wörtern ist er eingemischt in die Welt aus Wörtern, an deren Schöpfung er sich beteiligt, indem er sie aus seinem persönlichen Gedächtnis anreichert. Es geht nicht um Verstehen, es geht um das Staunen über die Sinnlichkeit der Wortkörper, und es geht darum, sich einzulassen auf die Bedeutungsfelder und aus dem eigenen Sprachgedächtnis heraus sich im Sprachfeld zu orientieren. Pastiors Ästhetik ist eine »Ästhetik des Mißverständnisses«, ein kalkuliertes Andersverstehen, ein Sinnverrücken.
»Ich optiere für das Unterschiedene, die Differenz im Sprachbewußtsein, den kleinen schiefen Schritt zur Seite, durch den wir Symmetrien (und andere Raster) erst erkennen und – immer etwas anders – produzieren können«(23), kommentiert er sein Verfahren. Die Verschlungenheit von Sprache und Denken wird offensichtlich in Pastiors Wortgeflechten. Welt gibt es nur durch Sprache. Erkenntnis gibt es nur durch Sprache. Mit Pastiors Vokabeln kommen neue Dinge in die Welt, Dinge mit ungewöhnlichen Ecken und Kanten und Abgründen, Dinge, die wir selbst erschaffen, deshalb rücken sie uns so nah, daß sie uns berühren und anrühren.
Die handfeste Sinnlichkeit der Silbenlaute, der Wortkörper und der Sprachleibe strahlt Erotik aus. Es begegnen uns Gebilde, die irritieren, die mit der eigenen Reaktion konfrontieren, die verunsichern und in ihren Reiz bannen. Selbstzweifel und Neugier, Forscherdrang und Lust am Spiel fließen zusammen und wechseln sich ab.
Pastiors Texte sollen Verführungen sein, sie buhlen um die Sympathie des Lesers, sie brauchen seine Zuwendung, um sich entfalten zu können. Pastiors Rezept:
»Entwaffnend bitte sei er also – der Text – bis zur Entblödung, kurzum politisch erzieherisch; gespreizt, kurzum erotisch, auf einem anderen Blatt stehend, also zugehörig; unter die Haut gehend, also heutig oder dermatologisch entblößt; dabei nichts als ein Privatbrief, du weißt schon, also verkrakelt bis dorthinaus; und desgleichen mehr.«(24)
Den »Erkenntnisleib der Sprache« läßt Pastior für uns mit der Zunge schnalzen und schmatzen und stottern und singen und sich wiegen und springen und tanzen: wir erleben eine äußerst unterhaltsame Schule der Wahrnehmung und des Eigensinns. Danke dafür und herzlichen Glückwunsch zum Büchner-Preis!

(1) Der Text dieser Laudatio war vor Pastiors Tod geschrieben und wurde nicht geändert [Anm. d. Red.].
(2) Oskar Pastior: Vom Sichersten ins Tausendste. Gedichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969.
(3) Oskar Pastior: Der krimgotische Fächer. Lieder und Balladen. Erlangen: Renner 1978.
(4) Oskar Pastior: Jalousien aufgemacht. Ein Lesebuch. Herausgegeben von Klaus Ramm. München / Wien: Hanser 1987, S. 17.
(5) Ebd.
(6) Oskar Pastior: »... sage, du habest es rauschen gehört«. Werkausgabe Band I. Herausgegeben von Ernest Wichner. München / Wien: Hanser 2006, S. 355.
(7) Ebd., S. 26.
(8) Ebd., S. 24.
(9) Ebd., S. 95.
(10) Ebd.
(11) Paul Celan: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Herausgegeben von Beda Allemann und Stefan Reichert. Band 3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 185-186.
(12) Oskar Pastior: Das Unding an sich. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 63.
(13) Oskar Pastior: Mein Chlebnikov. Basel / Weil a. R.: Engeler 2003, S. 47; 49.
(14) Ebd., S. 105.
(15) Ebd., S. 104.
(16) Oskar Pastior: Francesco Petrarca. 33 Gedichte. München / Wien: Hanser 1983, S. 78.
(17) Ebd., S. 35.
(18) Oskar Pastior: Jalousien aufgemacht, S. 194.
(19) Oskar Pastior: Das Unding an sich, S. 123.
(20) Oskar Pastior: Gedichtgedichte. Darmstadt / Neuwied: Luchterhand 1973.
(21) Oskar Pastior: Vokalisen & Gimpelstifte. München / Wien: Hanser 1992, S. 107.
(22) Zit. aus Oskar Pastior: Gedichte schreiben heute. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv Nr. 20 / 2001, S. 14.
(23) Oskar Pastior: Das Hören des Genitivs. Gedichte. München / Wien: Hanser 1997, S. 139.
(24) Oskar Pastior: Jalousien aufgemacht, S. 49.