Georg-Büchner-Preis

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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Satzung

Präambel

Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.

§ 1

Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.

§2

Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.

§3

Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.

Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.

§4

Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.

Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.

Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.

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Lutz Seiler

Schriftsteller
Geboren 8.6.1963
Mitglied seit 2011

Lutz Seiler hat als Romancier und als Dichter zu seiner eigenen, unverwechselbaren Stimme gefunden, melancholisch, eindringlich, aufrichtig, voll von wunderbaren Echos aus einer langen literarischen Tradition.

Jurymitglieder
Ernst Osterkamp, Ursula Bredel, Michael Hagner, Monika Rinck, Lukas Bärfuss, Elisabeth Edl, Maja Haderlap, Ilma Rakusa, Marisa Siguan und Stefan Weidner sowie je ein Vertreter der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Landes Hessen und der Stadt Darmstadt

Laudatio von Lothar Müller
Literaturwissenschaftler und Journalist, geboren 1954

Sehr geehrte Damen und Herren,
am 6. April 1981 unterzog sich Lutz Seiler im Wehrkreiskommando Gera der Musterung durch die zuständigen Organe der Nationalen Volksarmee der DDR. Das allnächtliche Schlafwandeln, von dem er dem Oberarzt Dr. Seyfarth aus leicht durchschaubaren Gründen berichtete, fand im Protokoll keine Erwähnung. Notiert aber war das Ergebnis des Hörtests: »sechs Meter bei Flüstersprache«. Dr. Seyfarth konnte nicht wissen, dass sein Befund ins Zentrum der künftigen Autorschaft des Kandidaten traf. Früh hat Lutz Seiler begonnen, die Wortfelder des Flüsterns und Murmelns, des halblauten Selbstgesprächs abzuschreiten, in deren Tiefen die Zaubersprüche und Beschwörungsformeln abgelagert sind, die Naturpoesie der Bäche und Quellen, die Verwandlungskraft der Sprachmagie.
Wir alle hören die Sprache, ehe wir in der Lage sind, sie zu lesen. Zunächst Stimme und Ohr, dann Auge und Schrift. Lutz Seiler hat diese elementare Konstellation der Kindheit, auch als er längst lesen konnte, weitergeführt. Über seine dreijährige Lehrzeit im Bauwesen und die weiteren drei Jahre, in denen er als Maurer und Zimmermann auf Baustellen arbeitete, hat er einmal gesagt: »Nichts deutete in dieser Zeit auch nur ansatzweise auf Gedichte hin. Literatur interessierte mich nicht.« Der aus der Leihbibliothek der Leuna-Werke ausgesonderte Band »Peter Huchel, Gedichte, Aufbau Verlag, Berlin 1948« wurde für den NVA-Soldaten im Alter von einundzwanzig Jahren zur Einstiegsdroge in das emphatische Lesen und erste Schreiben. Der Fahrer eines Fünftonnen-Diesel-Militärlastwagens murmelte Huchels Havelnacht vor sich hin, oder den Rückzug: »Ich sah des Krieges Ruhm. / Als wärs des Todes Säbelkorb«. Wie der NVA-Soldat werden die Helden seiner Romane Verse vor sich hin sprechen, in Flüstersprache. Der Weg zur Autorschaft ist im Werk Lutz Seilers der Weg zum Gedicht.
Seine ostthüringische Herkunftswelt hat er in autobiographischen Essays wie Schwarze Abfahrt Gera-Ost umrissen. Sie führen in die Provinz des Uranbergbaus in der DDR, zur Wismut AG, die der Sowjetunion Material für die Atombombenproduktion lieferte. Wenn der Großvater am Morgen aus der Grube heimkehrt und seine Hand über dem Radio schwenkt, geht die Musik in einem Knacken und Rauschen unter. Erst wenn er die Hand vom Kasten nimmt, kehrt der Bayerische Rundfunk zurück.
Der Titel des Gedichtbandes pech & blende, mit dem Lutz Seiler im Jahr 2000 einem größeren Publikum bekannt wurde, spaltet das Uranpecherz, die schwarzglänzende »Pechblende« durch ein Geschäfts-und in zwei Wortelemente. So wuchs dem Pech neben der mineralischen die umgangssprachliche Bedeutung des unverschuldeten Unglücks zu.
Und der Blende die assoziative Verknüpfung mit der Sichtblende, die das Zerstörungswerk an Landschaften und Menschen im Geschäftsfeld der Wismut verdeckt. Lutz Seiler zieht die Sichtblende weg, spricht von den »verträumten todestagen ihrer dörfer«, die wie Culmitzsch, sein Kindheitsort, zugunsten des Bergbaus verschwanden, zeichnet »das ticken / der kartoffeln in den speisekammern« auf. Im Titelgedicht geistert der Vater – es kann auch der Jedermann des Uranbergbaus sein – durchs Haus: »er hatte die halden bestiegen / die bergwelt gekannt, die raupenfahrt, das wasser, den schnaps / so rutschte er heimwärts, erfinder des abraums / wir hören es ticken, es ist die uhr, es ist / sein geiger zähler herz«.
Als pech & blende erschien, war der Autor schon seit einem Jahrzehnt aus Thüringen ausgewandert, erst nach Berlin, dann nach Wilhelmshorst, in das Haus am Hubertusweg, in dem bis zu seiner Ausreise aus der DDR der Dichter Peter Huchel gelebt hatte, danach Erich Arendt. Seit geraumer Zeit hat er neben seinem brandenburgisch-märkischen auch einen schwedischen Wohnsitz, in Stockholm.
Bereits im Debütband berührt/geführt, der 1995 erschien, gibt es die auf den Kies gestellten Stühle unter den Kastanienbäumen im Jardin du Luxembourg, Erinnerungen an die Brücke zwischen Le Havre und Trouville. In pech & blende steht dem Gera der Kindheit der Großraum Berlin gegenüber, ein »letzte-kolonien-geruch & schwerer / einsatz an den lauben«. Die Überlagerung von Zeitschichten, Lebensräumen, Lebenswelten prägt das Werk dieses Autors.
Wann und wo jemand geboren ist, legt ihn nicht fest. Es gibt keine homogenen Generationen, und doch hat der Jahrgang, dem man angehört, wie der Herkunftsort einen Anteil daran, aus welchem Winkel man die Welt wahrnimmt. Mein jahrgang, dreiundsechzig, heißt ein Schlüsselgedicht in pech & blende. Es dauert nicht lange, bis ihm in aphoristischer Evidenz die Formel entspringt: »wir hatten / gagarin, aber gagarin / hatte auch uns«. Wer dem Jahrgang 1963 angehört, war schon erwachsen, aber noch jung, als 1989 die Mauer fiel. Sechsundzwanzig Jahre, das ist das Alter, in dem man loslegen kann. Der Schriftsteller Lutz Seiler, dessen Bücher alle nach 1989/90 erschienen sind, hat das getan. Aber seinen eigenen Ton, den Reichtum seiner Sprache hat er gewonnen, indem er nicht nach vorne stürmte, sondern sich Zeit ließ mit dem Ankommen in der Gegenwart. Er ist ganz Auge und Ohr in dem, was er schreibt, nah am Körper und an den Sinnen. Aber der Momentaufnahme zieht er das Nachbild, dem Mitschnitt des O-Tons die Echokammer vor, das akustische Relief einer vergangenen Gegenwart. Die Gegenwart ist bei ihm auf das temporale Präsenz, die Jetztzeit nicht verengt, sondern umfasst die physische Präsenz, die leibhaftige Gegenwart. Ähnlich dicht wie das Wortfeld des Flüsterns ist das der Knochen bewirtschaftet, der am Schädel gespannten Haut.
Kaum einmal unter dem Namen des Staates, der sie war, als »Deutsche Demokratische Republik«, tritt die DDR in Lutz Seilers Werk auf, sondern als Lebenswelt. Aber auch ohne immer wieder benannt zu werden, ist dieser Staat beständig anwesend. Er tastet im Roman Kruso in der Nacht mit Scheinwerferfingern die Ostsee nach »Grenzverletzern« ab. Und er steht hinter dem »wir« der Partisanen von Amur, deren Lied die Schüler singen, »durchs gebirge, durch die steppe zog / unsre kühne division«.
Das auf das Staatswesen ausgerichtete »Wir« bannt Seiler nicht nachträglich durch Ideologiekritik. Stattdessen setzt er ihm, in Rhythmen, die für Aufmärsche ungeeignet sind, ein anderes »Wir« gegenüber, kleine Kollektivsubjekte im Nahbereich, auf Schulfluren und Pausenhöfen, Schlafsälen und Kasernen, die von Gagarin zum Tischdienst oder Milchdienst gerufen werden und Wir lagen vor Madagaskar singen, die Hymne der maritimen Sehnsucht trotz der Pest an Bord.
Es gibt in Lutz Seilers Werk den Staat, aber nicht die Datenleisten der Zeitgeschichte und kaum ihre Akteure. Stattdessen werden die Dinge zu Zeitzeugen, die Apparaturen und Werkzeuge, Messinstrumente und Radiogeräte. »Meine Herkunft war eingebettet in eine Dingwelt von gestern«, schreibt Seiler im Essay Heimaten des Bandes Sonntags dachte ich an Gott. Der Titelessay kommentiert das gleichnamige Gedicht aus pech & blende, in dem das Kind den lieben Gott als Bewohner eines Trafohäuschens imaginiert, in das eine Vielzahl von Kabelsträngen mündet. Technik- und mediengeschichtlich gesehen, ist Seilers Welt auf das im 19. Jahrhundert wurzelnde Bündnis von Mechanik und Elektrifizierung fokussiert. In den Garagen von Gera- Langenberg werden Abstandsmesser an Zündkerzen gehalten, der Sohn kommt dem Vater im fachkundigen, wortkargen Hantieren mit den Werkzeugen nahe. Aus der elektrischen Spannung, die aus einem ungreifbaren Jenseits zu kommen scheint, aus den Spulen und Röhren geht der Glaube des Kindes hervor, Gott wohne im Trafohäuschen.
Die knisternden Apparaturen und Elektrodenbürsten bilden eine Einheit mit dem Stoffturnbeutel der Kindheit, dem Alpaka-Ascher, dem weißen Knautschlackmantel der Mutter. Nicht irgendein Leichenwagen holt in der Erzählung Der Kapuzenkuss den toten Hausmeister ab, sondern ein Leichenwagen des Typs Barkas. Nicht irgendein Haarwasser umgibt den Direktor des Klausners im Roman Kruso mit der charakteristischen Duftwolke, sondern das Exlepäng. Nicht irgendein Universalkleber verlockt noch im jüngsten Gedichtband schrift für blinde riesen zu tiefen Atemzügen, sondern Duosan. Nicht aus Ampelmännchen- Ostalgie ist diese Schicht in Lutz Seilers Wortschatz eingegangen.
Er nutzt sie als poetische Ressource, fügt sie in seine strikt individuelle Privatmythologie ein. Auf sehr eigensinnige Weise knüpft seine Poetik an eine alte Formel der romantischen Literatur an: »schläft ein Lied in allen Dingen«. Ein Schlaflied muss es nicht sein, die Dinge sind auch mit der Bitterkeit, dem Unglück, der Totenklage im Bunde, wie auch mit der Expedition, der Erschließung neuer Lebensräume.
Es wäre möglich, bei der »Thälmann-Jacke«, die sich der Held am Beginn von Seilers Roman Kruso nicht aus Begeisterung für Thälmann überstreift, an die »Barbour-Jacke« des Erzählers in Christian Krachts Roman Faserland zu denken, um die privatmythologische Strategie Seilers von der ironischen Affirmation des Warenfetischs und der Archivierung von Markennamen abzusetzen, die in den 1990er Jahren zum Kerngeschäft der Popliteratur gezählt wurde. Aber dergleichen geschieht in Literaturdebatten eher selten. Die Sortierung der Bücher nach Herkünften der Autoren erschwert die Wahrnehmung von Nachbarschaften wie Kontrasten in ihren Werken.
»›Zukunft ist Herkunft‹ hatte ich einmal bei Martin Heidegger gelesen, das schien mir ein unglaublich niederschmetternder Satz.« Der Essay Aurora, dem dieser Heidegger-Kommentar entstammt, entstand 2003, als Lutz Seiler Stipendiat der Villa Aurora in Los Angeles war.
Der Entgrenzung seiner Herkunftswelt verdankt er sein Formbewusstsein, sein weit aufgefächertes Sprachregister und die Distanz seines Werks zu jedem Regionalismus. Scharf bewachte die DDR ihre Staatsgrenzen, kulturell aber war sie kein in sich abgeschlossener Raum. Das Raumschiff Orion aus dem Westfernsehen flog auch durch das »Gebind«, die Neubausiedlung in Gera-Langenberg. Der vierzehnjährige Lutz Seiler schrieb die deutsche Übersetzung des Songs Wish you were here ab, Pink-Floyd-Alben erschienen auch in der DDR. Mit guten Apparaten ließ sich Radio Luxemburg empfangen, das langgezogene »A« im Refrain von Uriah Heeps Lady in Black ging in den Fundus der Vokalharmonien des künftigen Dichters ein. Theodor Fontanes John Maynard, Die Kraniche des Ibykus und Der Handschuh von Friedrich Schiller waren für die Schule auswendig zu lernen, im Echoverfahren, mit der vorsprechenden Stimme der Mutter im Ohr.
Die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten in Weimar, Fixpunkt des Klassikerkults im sozialistischen Staat, lagen zwar in Thüringen, aber nicht auf seinem Weg. Aus der Brecht-Tradition, die in der Lyrik der Älteren, wie Volker Braun, vital geblieben war, scherte er aus. Brecht hatte seine Unterscheidung von »pontifikaler« und »profaner« Linie in der deutschen Lyrik aus ihrer widersprüchlichen Einheit bis hin zu Goethe hervorgehen lassen. Seiler, in dessen Werk Goethe keine nennenswerte Rolle spielt, war vielleicht dennoch darauf aus, auf verstohlenen Wegen nach einer künftigen Wiedervereinigung der zerfallenen Linien zu suchen. Oder war es Zufall, dass er als Germanistikstudent in Halle auf die vollständige Georg-Bondi-Ausgabe des pontifikalen Stefan George traf? Kein Zufall war, dass ihm Georg Trakl nicht nur im Seminar begegnete, sondern auch in Franz Fühmanns Buch Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht, das 1982 in Rostock erschienen war. »Der dunkle Herbst kehrt ein voll Frucht und Fülle« – in Trakls Gedichten ist der Elfsilbler, der Endecasillabo allgegenwärtig. Auf den Herbst und die Früchte ist er nicht festgelegt, in Seilers Gedichtband im felderlatein klingt er – etwas profaner – so: »die schreibhand blaß im gang durch die instanzen«. Der Fünfklang der Jugend hieß bei Lutz Seiler: Fontane, Huchel, Trakl, George und Pink Floyd. Als er zum emphatischen Leser geworden war, kam die ästhetische Internationale hinzu. In Peter Huchels Kieferngewölbe zog Das Notizbuch vom Kiefernwald des Franzosen Francis Ponge ein. Philip Larkin, E. E. Cummings, Seamus Heaney, der Lehrmeister der Knochengesänge, und viele andere Poeten gingen aus und ein.
Die erzählende Prosa, den Roman hat sich Lutz Seiler vom Gedicht her erschlossen.
Seine Maxime »Der Hallraum eines Gedichts sollte nicht kleiner sein als der eines Romans« lässt sich auch umkehren: »Der Hallraum eines Romans sollte nicht kleiner sein als der eines Gedichts.« So passt sie noch besser zu seinen Erzählungen und Romanen. Etwa zur Zeitwaage, dieser dunklen Novelle, in der die filigrane Mechanik der goldschimmernden Armbanduhr mit dem Tod verknüpft ist, der aus dem Trafohäuschen kommt. Durch den Arbeiter, der sie am Handgelenk trug, geht der Starkstrom hindurch, bis sein Scharren in der Reparaturwanne unter der Oberleitung am Hackeschen Markt in Berlin nicht mehr zu hören ist. Wie die Erzählung Der Kapuzenkuss, eine der bildkräftigsten Schul- und Kindheitsliebesgeschichten der Gegenwartsliteratur, gehört die Zeitwaage zu den Keimzellen, aus denen die Romane Lutz Seilers erwachsen sind.
Hier taucht, noch als Ich-Erzähler, zum ersten Mal der junge Mann und gelernte Maurer auf, der mit Gedichten im Gepäck aus der eben erst geöffneten Provinz nach Berlin kommt und in der Assel kellnert. Er ist hier der Erbe der Uhr des toten Arbeiters. Im Jahr 2011, in der Villa Massimo in Rom, hätte er zum ersten Romanhelden Lutz Seilers werden sollen. Aber das Projekt scheiterte am Rumoren einer nachzutragenden Vorgeschichte. Aus diesem Rumoren wurde der Roman Kruso. Er handelt vom Schiff bruch eines Landes, von der inneren Ausreise aus der DDR, als ihre Grenzen noch scharf bewacht waren, von der Insel Hiddensee, die im Sommer 1989 vom Festland fortzutreiben scheint. Edgar Bendler, der sich der Besatzung der Gaststätte Zum Klausner nahe Steilküste und Leuchtturm zugesellt, teilt seinen Vornamen mit Edgar Wibeau, dem Helden aus Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. Eine schwere Lebenskrise hat den Germanistikstudenten aus Halle fortgetrieben. Die bürgerliche Kaufmannswelt mit ihren Kalkülen und Konkursen, die in Daniel Defoes Roman hinter dem Schiffbruch steht, gibt es in Kruso nicht. Seiler nutzt die Robinsonade als Hohlform, in die er die Erfahrungen des Ostens einbringt, auch die eigenen. Die Auftritte der Punks gehören dazu, die bizarren Rituale der Zuteilung von Schlafstätten und Sex. Aus fauligen Abwaschwassern steigt der Lurch auf, ein Wiedergänger der alten Seeungeheuer kurz vor dem Untergang der DDR. Der Robinson-Wiedergänger Alexander Krusowitsch, Sohn eines Russen und einer verunglückten wolgadeutschen Artistin, ist im »Russenstädtchen Nr. 7« in Potsdam aufgewachsen. In der Realgeschichte gab es dort das »Militärstädtchen Nr. 7«, den Deutschlandsitz der sowjetischen Militärspionageabwehr. Am Ende wird der todkranke Kruso von seinem Vater, dem General, mit einem Schiff abgeholt, das für einen Moment wie ein »Panzerkreuzer« aussieht.
Es gehen Tote mit an Bord, Krusos Schwester Sonja, die in die Ostsee schwamm, Edgars Freundin G., die er durch einen Unfall verlor.
Edgar, der Wiedergänger Freitags, findet im Fuchs der Dünen einen Gefährten der Flüstersprache. Und von Beginn an mit an Bord ist Georg Trakl, dessen Physiognomie mit der des kranken Kruso verschmelzen wird. Hinter der Travestie des Abenteuerromans tritt mehr und mehr das zweite Formmodell hervor, das Porträt des Künstlers als junger Mann. Im November 1989, als die gesamte Besatzung den Klausner verlassen hat, zieht der Held seine alte Mappe hervor und beginnt zu schreiben. Wenn ihn verspätet die Nachricht erreicht, dass alle Grenzen offen sind, ist sein Notizbuch gefüllt. Der Roman, dessen Held er war, könnte einer Trakl-Zeile entsprungen sein: »Am Abend regt auf Inseln sich Geflüster.«
Als die Grenzanlagen abgebaut, Transitdokumente überflüssig wurden, im Westen Mehrfachberechtigungsscheine zur Einreise in die DDR unausgeschöpft verfielen, begann Lutz Seiler die Transitzonen des provisorischen Lebens zu erkunden, die nun in seiner Herkunftswelt entstanden. Der Roman Stern 111, sechs Jahre nach Kruso im Jahr 2020 erschienen, ist das bravouröse Ergebnis dieser Erkundungen. Der Prosaautor hat sich darin eine neue Form erobert, den zweistrangigen Roman. Sie erlaubt es ihm, die Geschichte seines Helden Carl Bischoff und die seiner Eltern zugleich zu erzählen. Im Hauptstrang geht Carl von Gera nach Berlin, schließt sich dem »Rudel« an, das sich halbverfallene Häuser in Prenzlauer Berg angeeignet hat und die Kellerkneipe Assel in der Oranienburger Straße bewirtschaftet, durchwandert mit seltsam somnambuler Distanz die Abbruch-, Aufbruch- und Umbruchkorridore, in denen aus revolutionären Selbstverwaltungsprojekten professionelle Mauerstückverkäufer hervorgehen. Und absolviert eine Éducation sentimentale, in der eine große Liebe zerfällt. Im Nebenstrang, einer Geschichte deutscher Ausgewanderten, fliehen die Eltern unmittelbar nach dem Mauerfall, dem sie nicht trauen, in die Bundesrepublik und landen schließlich im fernsten Westen, in Kalifornien. »›Unsere Eltern sollen es einmal besser haben.‹ Etwas stimmte nicht mit diesem Satz.« Spätestens, wenn Carls Mutter die Einwohner im hessischen Diez durch eine Frisur verähnlicht, die ihr Wirt abschätzig »Übersiedlerschnitt« nennt, macht Seiler einen Strich durch die in den 1990er Jahren beliebte Rechnung, die den Westdeutschen die Ironie reservierte und die Ostdeutschen auf das Pathos festlegte.
Noch einmal tauchen Kruso und Edgar Bendler aus dem Vorgängerroman auf, an die Stelle des Dünenfuchses tritt eine Großstadtziege, und auch Viola, das fest auf den Deutschlandfunk eingestellte Radio aus der Klausnerküche, hat einen Nachfolger. Der Roman Stern 111 trägt den Radioapparat der Familie Bischoff im Titel, er hat ein magisches Auge wie Viola. Auf der Tonspur des Romans begleiten Element of Crime und The Cure den Sohn, für den wie für seinen Autor der Weg zur Autorschaft der Weg zum Gedicht ist. Fixstern der Eltern seit ihrer Jugend und Inspirator ihres missglückten Fluchtversuchs kurz vor dem Mauerbau ist Bill Haley. Sein Stern auf dem Walk of Fame in Los Angeles wird zum Fluchtpunkt der tragikomischen Geschichte deutscher Ausgewanderter.
Lutz Seilers Gedichte und Prosa sind unverkennbar modern. Die mythische Aura, die in Stern 111 dem Fiat-Nachbau und Lada-Vorläufer Shiguli zuwächst, gehört nicht zu seiner Grundausstattung. Sie entsteht durch die Erzähltechnik eines Autors, der Roland Barthes’ Essay über den Citroën DS 19 gelesen hat, in dem die Göttin, die »déesse«, aus der technischen Chiffre hervortritt. Aber Seilers Moderne ist die der Nachhut, nicht die der Avantgarde. Auf Schritt und Tritt ist das in seinen Gedichten zu spüren, im Roman Stern 111 vor allem daran, dass die Erzählerstimme, während der Held und seine Eltern in die Welt aufbrechen, die Rückbindung an die Provinz wahrt, die Gleichsetzung von Moderne und Großstadt verweigert. So entsteht etwas Seltenes, ein Berlin-Roman, in dem Berlin nie das letzte Wort hat.
Die Nachhut sichert Gelände ab, nimmt Zurückbleibende in sich auf, kommt langsam voran. Der Schwere und Müdigkeit steht sie näher als der geschwinden Leichtigkeit. Das Wörterbuch der Brüder Grimm kennt die Wendung »etwas auf die nachhut oder auf den stich behalten«, was meint: in Reserve behalten, nicht alles auf einmal sagen. Und nicht sofort. Lutz Seiler hat sein Werk zu entfalten begonnen, als die Formel »Berliner Republik« zu zirkulieren begann. Er zeigte sich der Gegenwart, die damit gemeint war, gewachsen, indem er dem Winkel seiner Weltwahrnehmung treu blieb. Ohne seine Stimme, seinen Ton, seine Sprachmagie und sein Formbewusstsein wäre die deutsche Gegenwartsliteratur ärmer, sehr viel ärmer. Herzlichen Glückwunsch zum Georg-Büchner-Preis 2023!