Georg-Büchner-Preis

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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Satzung

Präambel

Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.

§ 1

Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.

§2

Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.

§3

Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.

Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.

§4

Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.

Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.

Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.

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Preisträger 2024

Georg-Büchner-Preis 2024 an Oswald Egger

Mit Oswald Egger zeichnet die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung einen Schriftsteller aus, der seit seiner ersten Veröffentlichung im Jahre 1993 die Grenzen der Literaturproduktion überschreitet und erweitert. Er arbeitet an einem Werkkontinuum, das Sprache als Bewegung, als Klang, als Textur, als Bild, als Performance begreift...

Der Preis wird am 2. November 2024 im Staatstheater Darmstadt verliehen. Die Veranstaltung ist öffentlich. Eintrittskarten können über das Staatstheater Darmstadt erworben werden. Der Vorverkauf beginnt circa 3 Wochen vorher. Wir informieren Sie gern über unseren Newsletter.

Mehr Informationen

Die Jury wird gebildet aus dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und je einem Vertreter, einer Vertreterin des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme.

Aktuelle Besetzung des Erweiterten Präsidiums: Ingo Schulze, Rita Franceschini, Olga Martynova, Lothar Müller, Lukas Bärfuss, Maja Haderlap, Felicitas Hoppe, Joachim Kalka, Daniela Strigl, Michael Walter.

Jürgen Becker

Schriftsteller
Geboren 10.7.1932
Mitglied seit 1974
Homepage

... dessen Werk die Gattungsgrenzen von Lyrik und Prosa immer wieder neu bestimmt und die deutschsprachige Dichtung nachfolgender Generationen bis heute maßgeblich geprägt hat.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Heinrich Detering
Aris Fioretos, Peter Hamm, Joachim Kalka, Navid Kermani, Per Øhrgaard, Gustav Seibt, Michael Stolleis, Jan Wagner, Nike Wagner, außerdem Peter Benz (Stadt Darmstadt), Horst Claussen (von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Günter Schmitteckert (Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst)

Vom Mitschreiben der Wirklichkeit

– erlauben Sie, daß ich gleich zu Beginn mit einem Selbst-Zitat komme: »Mitte der fünfziger Jahre waren Jörn und Nora nach Paris getrampt. In Belgien, kurz vor der Grenze, nahm sie ein Peugeot mit, der aus Brüssel kam. Ein älteres Ehepaar, das gut deutsch sprach. In einem französischen Dorf hielt der Wagen vor einem Bistro an; das Ehepaar lud zu einem Café ein. Bevor sie hineingingen, bat Monsieur die beiden jungen Deutschen, jetzt nicht mehr deutsch zu sprechen, es gebe in der Gegend hier noch ein paar ungute Erinnerungen.«
Eine Situation aus dem Journal-Roman, an dem ich derzeit schreibe. Sie ist nicht erfunden, sondern so erlebt wie beschrieben; sie hat irritierend gewirkt, und es hat eine Weile gedauert, bis die Situation in meinem Bewußtsein weitergewirkt und sich in meinem Schreiben ausgewirkt hat. In jedem Fall bestimmt sie den Moment, in dem ich meine Unbefangenheit, meine sprachliche Unschuld verlor.
Bis dahin hatte ich mir nicht vorgestellt, daß es ungute Erinnerungen wecken könnte, das Geräusch meiner, der deutschen Sprache. Damals, als ein Jahr noch eine Ewigkeit dauerte, lag das Kriegsende zehn Jahre zurück; wir hatten den Krieg, verdient und zu Recht, verloren; inzwischen waren Wiederaufbau und Wirtschaftswunder in vollem Gange; rasch hatten wir gelernt, was Demokratie ist; das westliche Deutschland war eingebunden ins System der westlichen Alliancen; wir waren Weltmeister im Fußball; die Erinnerung ans Kriegsgeschehen schien eingeschlafen. Ein junges Studenten-Ehepaar, zum ersten Mal im Ausland und unterwegs nach Paris, das war die Erfüllung eines Traums, das war die Reise ins Paradies der neuen künstlerischen Möglichkeiten, eine Reise ohne das Gepäck der Geschichte, der schuldvollen Vergangenheit.
Für die poetischen Texte, die der damals Dreiundzwanzigjährige schrieb, benutzte ich die deutschen Wörter wie Maler die Farben und Komponisten die Klänge. Daß Wörter, anders als Farben und Klänge, beladen mit Bedeutung und Inhalt sind, war mir wohl irgendwie klar, indessen bewegte ich mich in engbegrenzten Bereichen, hielt mich an formale Muster und Konventionen, verwendete Gedichte zum Ausdruck eines vagen existentiellen Befindens, das man Weltschmerz nennt. Ein Weltschmerz ohne politisches Bewußtsein, ohne die Last der Historie, die das lyrische Ich zum Betroffenen, zum Zeitzeugen macht. Das Schreiben damals fiel mir leicht; ich schrieb naiv, keine Probleme mit meiner, der deutschen Sprache.
Die Probleme kamen später. Mit dem Verlust der sprachlichen Unschuld ging langsam die Erkenntnis einher, daß Sprache keine Privatsache und schon gar kein neutrales Medium ist, sobald sie öffentlichen Raum einnimmt und in Gestalt von Gesetzen und Anordnungen, Verfügungen und Androhungen, von Befehlen, Kommandos, Propaganda und Parolen gesellschaftliches Verhalten, das Handeln und Tun, das Dulden und Leiden der Menschen bestimmt. Die »unguten Erinnerungen«, sie kamen dabei in mir selber hoch, die Erinnerungen an die Jahre im Krieg, als der kleine Junge noch fasziniert am Radio gesessen und mitbekommen hatte, wie der Führer zu seinen Volksgenossen sprach, wie Goebbels in seiner Sportpalastrede zum totalen Krieg aufrief, wie sich die Bekanntgaben aus dem Oberkommando der Wehrmacht, die Frontberichte, Siegesmeldungen und Durchhalteparolen anhörten. Die Erinnerung auch, wie der zwölfjährige Jungenschaftsführer rasch und umstandslos die Sprache der Kommandos gelernt, wie er Befehle empfangen, ausgeführt und weitergegeben hat – eine Erinnerung, die den Erwachsenen später in Schrecken versetzte vor der eigenen Kindheit, vor der Verführbarkeit durch Ideen und Ideologie; vor der Willigkeit, einer Rhetorik zu gehorchen, deren geistige Macht die Anweisung zu realer Gewalt enthält. Der Schrecken hält bis heute an, das Schaudern vor den Möglichkeiten der Sprache, die einen dazu bringt, sich einzureihen und mitzumachen, wenn es um die Realisierung, die gewaltsame Realisierung von Ideen geht.
In seinem Revolutionsdrama Dantons Tod läßt Georg Büchner St. Just einige Betrachtungen anstellen, die seine Zuhörer im Nationalkonvent überzeugen sollen, daß Menschen nicht grausamer vorgehen als die Natur. »Die Natur«, doziert der im Prozeß gegen Danton als Hardliner figurierende St. Just, »folgt ruhig und unwiderstehlich ihren Gesetzen; der Mensch wird vernichtet, wo er mit ihnen in Konflikt kommt.« Ein natürlicher Vorgang wie eine Seuche, ein vulkanischer Ausbruch, eine Überschwemmung begrabe Tausende. Das Resultat sei eine Veränderung der physischen Natur, die spurlos bliebe, wenn nicht Leichen auf ihrem Wege lägen. Analog zur Naturgewalt sieht St. Just die Gewalt durch Menschen, und so fragt er dann: »Soll die geistige Natur in ihren Revolutionen mehr Rücksicht nehmen als die physische? Soll eine Idee nicht ebensogut wie ein Gesetz der Physik vernichten dürfen, was sich ihr widersetzt? Soll überhaupt ein Ereignis, was die ganze Gestaltung der moralischen Natur, das heißt der Menschheit, umändert, nicht durch Blut gehen dürfen?« Was eine Idee darf, danach hat noch kein Glaubenskämpfer, kein Rassekrieger, kein Klassenkämpfer gefragt, und die Rhetorik der Gewalt – »jedes Komma ein Säbelhieb und jeder Punkt ein abgeschlagner Kopf« – ist nicht Büchners Theatersprache geblieben, sondern bis auf den Tag globaler Jargon, der sich nur variiert, wenn er aus kriegsbedingten Folgen einen Kollateralschaden macht.
Die Probleme, die ich mit meiner, der deutschen Sprache bekommen hatte, gründeten nicht in ihr selber, sondern in der Erfahrung dessen, was mir meine Umgebung mitteilt, die Wirklichkeit und wie sie sich zeigt in den Geräuschen des Alltags, den Stimmen auf der Straße; wie sie sich darstellt in Nachrichten und Berichten, in Annoncen und amtlichen Verlautbarungen; wie sie sich interpretieren, verwischen, verschönern und verfälschen läßt in Meinungen, Bildern und Kommentaren. Was an Erfahrung der Wirklichkeit authentisch ist oder bloß vermittelt, das ist dabei die entscheidende Frage, und sie hat in meiner Praxis dazu geführt, daß sich mein Umgang mit der Sprache, diesem Medium meines eigenen wie des öffentlichen Bewußtseins, rigoros veränderte. Dem Verlust der sprachlichen Unschuld war ja der Verlust des Vertrauens gefolgt, und zwar in der Wahrnehmung der Manipulationen, die sich mit der Sprache anstellen lassen, die sie zu einem Instrument machen, mit dem sich, je nach Interessenlage, die Wirklichkeit selber manipulieren läßt. Meine literarischen Reaktionen darauf bildeten sich in einer Schreibweise ab, die ein geläufiges Schreiben nicht länger zuließ, die mit Konventionen und Tradiertheiten brach, die zum Dérèglement, zu Brüchen und Destruktionen führte.
Ich spreche hier von einer Zeit, in der so etwas wie der Zeitgeist mitschrieb, der experimentelle Zeitgeist der sechziger Jahre. In meinem Selbstverständnis sah ich mich freilich weniger als Texthersteller, der mit neuartigen Textsorten zu provozieren gedenkt. Sondern eher als einen Autor, der auf der Suche nach so etwas wie authentischer Wirklichkeit mit konventionellen Schreibweisen nicht weiterkommt. Er kam auch nicht weiter, als er bemerkte, daß der fortwährende Bruch mit der Konvention nur zu einer neuen Konvention führt, wie sich das Dérèglement zur Regel verfestigt, daß nach aller Destruktion die Leere beginnt. So blieb es nicht dabei, und mein Schreiben suchte einen Weg, der wieder ins Offene führte.
Büchners literarische Existenz verlief so hastig wie kurz. Probleme beim Schreiben schien er nicht zu kennen; kein jahrelanges Grübeln, er warf seine Stücke aus sich heraus; er bediente sich der Sprache, wie er sie vorfand, in seinen Quellen wie draußen im Leben. Probleme hatte er eher mit der Wirkung seiner Schriften, zumal des Hessischen Landboten – Verhaftung drohte, Hausdurchsuchung erfolgte, erzwungen Flucht und Exil: das Schreiben als ein Risiko, wie wir es heute, in unserem Land jedenfalls, nicht mehr kennen. Aber nicht nur die Behörden schritten ein; Freund Gutzkow, der Dantons Tod nicht nur bejubelt, sondern auch für seine Veröffentlichung gesorgt hatte, selbst der entschiedene Förderer des ungestümen jungen Dichters griff ein und tilgte, was zu jener Zeit offenbar nicht sagbar sein durfte. Gutzkow in seinem Nachruf auf Büchner: »Als ich nun, um dem Censor nicht die Lust des Streichens zu gönnen, selbst den Rothstift ergriff, und die wuchernde Demokratie der Dichtung mit der Schere der Vorcensur beschnitt, fühlt' ich wohl, wie grade der Abfall des Buches, der unsern Sitten und unsern Verhältnissen geopfert werden mußte, der beste, nämlich der individuellste, der eigenthümlichste Theil des Ganzen war. Lange, zweideutige Dialoge in den Volksscenen, die von Witz und Gedankenfülle sprudelten, mußten zurückbleiben. Die Spitzen der Wortspiele mußten abgestumpft werden oder durch aushelfende dumme Redensarten, die ich hinzusetzte, krumm gebogen. Der ächte Danton von Büchner ist nicht erschienen. Was davon herauskam, ist ein nothdürftiger Rest, die Ruine einer Verwüstung, die mich Ueberwindung genug gekostet hat.«
Büchner war offenbar zu weit gegangen, indem er mit seiner Sprache eine Wirklichkeit erfaßte, die für einen literarischen Text nicht vorgesehen war. Dabei war diese Wirklichkeit, die Zeit der Französischen Revolution, bereits eine historische. In einem Brief an seine Familie, in dem Büchner die Änderungen und Kürzungen, die Entstellungen seines Dramas beklagt, macht er zugleich klar, worin er seine Aufgabe sieht. Er schreibt: »Der dramatische Dichter ist in meinen Augen nichts als ein Geschichtschreiber, steht aber über Letzterem dadurch, daß er uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft und uns gleich unmittelbar, statt eine trockne Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hinein versetzt [...]. Seine höchste Aufgabe ist, der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen. [...] Der Dichter ist kein Lehrer der Moral, er erfindet und schafft Gestalten, er macht vergangene Zeiten wieder aufleben, und die Leute mögen dann daraus lernen, so gut, wie aus dem Studium der Geschichte und der Beobachtung dessen, was im menschlichen Leben um sie herum vorgeht.«
Die Vergegenwärtigung des Vergangenen und zugleich die Wahrnehmung dessen, was in meiner Umgebung augenblicklich geschieht: So würde ich Büchners Anweisungen ins Zeitgenössische übersetzen, in die Erfahrungsweise einer Wirklichkeit, durch die sich die Gleichzeitigkeit des Gestern und des Heute zieht. Geschichte hört ja nie auf; sie hat die Situation, in der ich mich jeweils befinde, vorbereitet, und sie fängt jetzt schon an mit der Minute, die soeben vergangen ist. Büchner erscheint mir so gegenwärtig wie beispielhaft, wo in seinem Werk die Wirksamkeit der Geschichte, das Erfahren von Zeit und Wirklichkeit mitschreibt. So allein man sich mit seinen Wörtern beim Schreiben vorkommt, man schreibt niemals allein, irgendeine Art von Wirklichkeit macht immer mit. Im Hintergrund die Literaturgeschichte, ich mag sie vergessen oder gar nicht erst zur Kenntnis nehmen, aber ich weiß doch, sie ist da und hat Erkenntnisse, Stoffe und Schreibmethoden parat, die meinen Entdeckungen zuvorgekommen sind. Die tägliche Zeitungslektüre schreibt mit, die Stimme des Nachrichtensprechers, der Wetterbericht und die Bundesliga, der Raketenbeschuß und der Abhörskandal. Der Gedächtnisraum ist voll von Fetzen und Relikten, die Bestandteile meiner Gedichte sind, und ich weiß nicht immer, welcher Kontext sie hinterlassen hat. Zitate schreiben mit, von denen ich ebensowenig weiß, ob ich sie bewußt oder unbewußt verwende; vielleicht nur ein Wortlaut, der mir bekannt vorkommt. Ganze Biographien schreiben mit, die eigene wie die von anderen Leuten, und dazu gehört, was sich beim Schreiben zunehmend an Erinnerung einstellt: Kindheit, Krieg und Nachkrieg, Desaster in der Familie, Trennungen und schuldhaftes Versagen, Versäumnisse, Verirrungen, Verschwiegenes – die Mitsprache des Vergangenen, ein anschwellendes Geräusch. Was im Schreiben die eigene Stimme, was daran originär und unvermittelt ist, ich muß mich selber fragen, auf der Suche nach den Materialien, aus denen die Collage meines Bewußtseins zusammengefügt ist.
Im Kopf des Autors wimmelt es von Co-Autoren. Soviel ich weiß, ist die Büchner-Forschung schon lange dahintergekommen, daß in Büchners Schriften so manche Feder mitgeschrieben hat. Dantons Tod verdankt sich der ausgiebigen Verwendung von Geschichtswerken zur Französischen Revolution. Für Leonce und Lena kommen die Impulse aus Clemens Brentanos Lustspiel Ponce de Leon. Der Woyzeck hat als Quelle das Gerichtsgutachten über den Leipziger Mörder Johann Christian Woyzeck. Die Erzählung vom Lenz gründet auf dem Bericht des Pfarrers Oberlin. Ganz sicher hat Büchner alles gelesen und studiert, was er im Sinne seiner Motive in den Bücherschränken, bei der Quellensuche vorfand – daß er dabei nur abgeschrieben, zitiert, daß er regelrecht geklaut und plagiiert habe, es wäre ein bloß detektivischer Befund, der von literarischen Vorgehensweisen, von Zitat-Montage, Collagier-Technik, der Einschmelzung von dokumentarischem Material nichts weiß. Methoden des zeitgenössischen Schreibens, aber der Kollege aus dem 19. Jahrhundert betreibt seine literarische Praxis auf eine Weise, daß ich mir vorstellen könnte: Büchner heute, um, im Sinne seines Auftrags, den Realitäten »so nahe als möglich zu kommen«, er würde mit Instrumenten vorgehen, die seine »Beobachtung dessen, was im menschlichen Leben um uns herum vorgeht«, gnadenlos aufzeichneten. Er würde recherchieren und die Informationen und Fakten mitnehmen, gleich, woher er sie bekommen kann, und er würde sie vielleicht gar nicht benutzen, um darüber zu schreiben, sondern er könnte die Vorgänge gleich selber sprechen lassen, in einem Dokumentar-Stück zum Beispiel, in einem O-Ton-Hörspiel, für das er mit dem Aufnahmegerät unter die Leute gegangen wäre, auf die Straße, an den Ort des Geschehens, und seine Zitate wären der reine Original-Ton gewesen, seine Plagiate nur die unmittelbare Wiedergabe dessen, was die Realität selber sagt. In Dantons Tod hört man die Schergen des Terrors ihre Sprüche sagen. Sie können, durch Recherchen beglaubigt, in der Imagination entstanden sein; als Zitate wären sie Mitschnitte des Gesagten:


»In St. Pelagie liegen Gefangne am Sterben, sie verlangen einen Arzt.«
»Das ist unnötig, so viel Mühe weniger für den Scharfrichter.«
»Es sind schwangere Weiber dabei.«
»Desto besser, da brauchen ihre Kinder keinen Sarg.«


Büchner heute – er wäre ein Chronist der sich wiederholenden Skandale und Verbrechen, und ich denke, er würde heute in seinem Brief an die Familie nicht mehr den Satz schreiben: »Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt.« Jedenfalls würde er nicht meinen, die Verhältnisse in unserem Land verlangten nach Veränderung durch Gewalt. Er müßte auch mit seinem Hessischen Landboten keinen rhetorischen Krieg mehr anzetteln, eher würde er heute sagen: Friede den kleinen Buchhandlungen, Krieg dem großen Versand-Monopol. Aber auch diese Parole löste die ökonomischen Kompliziertheiten des Marktes, die Ambivalenzen im so nützlichen wie fürchterlichen Online-Geschehen, nicht in Wohlgefallen auf. In jedem Fall läßt Büchner nicht nach, mich zu warnen: vor den Vereinfachungen, vor den radikalen Lösungen, vor den Mechanismen revolutionärer Verläufe, die aus idealen Utopien reale Diktaturen machen. Wir wissen, wie sich Büchner von den eigenen Umsturz-Ideen zurückzog, daß ihn nach allem revolutionären Elan jene Melancholie befiel, die auf den Namen Fatalismus hört. Vorstellen kann ich mir, daß Büchner heute nur noch die Art von Revolution gefallen hätte, die, mit der Wort-Girlande »Wende« versehen, wir vor fünfundzwanzig Jahren erlebt haben, mit dem Fall der Berliner Mauer, als die Leute auf den Straßen und in den Kirchen dafür sorgten, daß das System, in dem sie hatten leben müssen, einfach in sich zusammenfiel; keine Guillotine, kein Hanf zum Aufhängen an den Laternen, aber auch keine Panzer; der Ausnahmefall, das Wunder einer friedlichen Revolution.
Bleibt indessen, was Büchner in seinem Fatalismus-Brief an die Verlobte der gesellschaftlichen Lage für ein Zeugnis ausstellte: »Ich studierte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt«. Warum das so ist, was in uns Menschen das Motiv für all unser inhumanes Verhalten bleibt, der Dichter Georg Büchner suchte es im Sprechen und Handeln seiner Gestalten zu ermitteln, in ihren Nöten, Obsessionen und seelischen Schäden. Der Naturforscher, der Mediziner, der Anatom Georg Büchner ließ sich auf wissenschaftliche Methoden ein und sondierte mit dem Skalpell den Menschenkörper, die freigelegten Schädelnerven, Danton seufzt noch, gleich bei seinem ersten Auftritt: »Was weiß ich! Wir wissen wenig voneinander. [...] Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.« Und dahinter steht das elementare Rätsel, von dem wir nur wissen, daß sich darin der Abgrund des eigenen Ichs verbirgt, dahinter steht die Frage in Büchners Brief an die Braut (und Danton stellt sie ähnlich noch einmal): »Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?«
Büchner mochte in seinem Brief dieser Frage nicht weiter nachgehen, aber sie geht von alleine weiter, in uns, in mir, der ich herauszubekommen versuche, was die Impulse meines Empfindens, meiner Denkweise, meines Handelns sind. Es geht dabei nicht bloß um das Erkennen von kriminellen Qualitäten – gelogen habe ich in heiklen Situationen, gemordet in Rache-Phantasien, gestohlen in den Nachkriegswintern vom russischen Lastwagen die Kohlen –, es geht ja vor allem um den ganzen Wirrwarr, die Rätsel, das Chaos meiner inneren Angelegenheiten. Wer bin ich eigentlich, was kann ich überhaupt, wozu bin ich imstande; was macht mich so aufbrausend, gleichgültig, leichtsinnig, schwerfällig und nervös; wer ist das in mir, der mich aufscheucht und antreibt, beruhigt und ablenkt; was macht mich zum Anpasser, zum Querkopf, zum Stubenhocker, zum Fremdgeher; wer resigniert in mir, was macht mich aggressiv, woher der Sog zur fernen Küste und die Zigarettensucht; was macht mich stumm, warum schreibe ich noch.
Warum ich schreibe, vielleicht, um mich besser kennenzulernen, und wenn dabei so etwas wie ein Bild von den Widersprüchen der eigenen Identität entsteht, vielleicht erkenne ich dann besser, was in meinen Zeitgenossen vor sich geht, was sie von sich geben in ihren emotionalen Gleichgewichtsstörungen, wie ihr Leben verläuft in einer Gegenwart, in der das Vergangene stets dabei und der Schatten der Geschichte mit unterwegs ist. Literatur, geschrieben für Leser, beginnt bei mir mit einem Selbstgespräch, das herauszufinden sucht, wer ich bin und was sich in mir tut, was meine Wahrnehmungen und Erfahrungen sind. Vielleicht, daß sich das Selbstgespräch im Leser fortsetzt, daß es zu seinem eigenen wird; daß eine Art von Korrespondenz entsteht, in der unsere Erfahrungen sich miteinander vergleichen. Mein Schreiben beginnt, wenn es mir gelungen ist, mich vom Schweigen zu trennen, vom Stummsein, und Stummsein kann dabei heißen, sprachlos gemacht zu sein von den Verstörungen, die der Geräuschfilm der Realität im Kopf hinterläßt. »Dies Stummsein ist meine Verdammnis«, heißt es in einem Büchner-Brief, der den Zustand beschreibt, den wohl jeder Schreibende kennt, nämlich nicht schreiben zu können, wortlos zu sein. Diesen Zustand immer aufs neue zu beenden, dieser Verdammnis, zeitweilig oder lebenslang, zu entkommen, es ist unser Metier, und mitunter wundert es mich, daß dies ein Beruf ist, mit dem man seinen Lebensunterhalt bestreiten, eine literarische Existenz führen, daß man einen Preis, am Ende sogar den bedeutendsten im Land, dafür bekommen kann. Ich habe nicht erwartet, daß mein lebenslanges Selbstgespräch und wie es angeht gegen das Nichts der leeren weißen Seite, der Georg-Büchner-Preis belohnt. Mag ja auch sein, daß ich dafür schon zu alt bin. Nur hält mich das Alter nicht davon ab, immer aufs neue anzufangen, im Zweifel nämlich, ob ich die entscheidenden Sätze überhaupt schon geschrieben, ob ich nicht zu vieles falsch gemacht habe. Die Erfahrung, die sich wiederholt, ist immer wieder eine andere; die eigene Biographie, die eine Biographie unserer Zeit ist, hält zu viel noch verborgen, was zu entdecken ist. Der Blick zurück ist der Blick auf das, was noch nicht gesagt, benannt und beschrieben ist. Ich danke der Jury für ihre Würdigung dessen, was bislang entstanden ist; ich begreife sie als Aufforderung, nicht stehenzubleiben. Ich bedanke mich bei Lutz Seiler; die Begegnung mit ihm hat, bis heute, zu einer langen Begleitung geführt. Meine Skrupel hindern mich nicht länger daran, daß mich die Auszeichnung freut. Ich danke der Akademie, auch dafür, daß sie mich hier stehen und zu Ihnen sprechen läßt, und ich danke Ihnen für Ihre Geduld, mit der Sie uns zugehört haben.