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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
Satzung
Präambel
Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.
§ 1
Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.
§2
Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.
§3
Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.
Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.
§4
Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.
Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.
Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.
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Georg-Büchner-Preis 2024 an Oswald Egger
Mit Oswald Egger zeichnet die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung einen Schriftsteller aus, der seit seiner ersten Veröffentlichung im Jahre 1993 die Grenzen der Literaturproduktion überschreitet und erweitert. Er arbeitet an einem Werkkontinuum, das Sprache als Bewegung, als Klang, als Textur, als Bild, als Performance begreift...
Der Preis wird am 2. November 2024 im Staatstheater Darmstadt verliehen. Die Veranstaltung ist öffentlich. Eintrittskarten können über das Staatstheater Darmstadt erworben werden. Der Vorverkauf beginnt circa 3 Wochen vorher. Wir informieren Sie gern über unseren Newsletter.
Die Jury wird gebildet aus dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und je einem Vertreter, einer Vertreterin des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme.
Aktuelle Besetzung des Erweiterten Präsidiums: Ingo Schulze, Rita Franceschini, Olga Martynova, Lothar Müller, Lukas Bärfuss, Maja Haderlap, Felicitas Hoppe, Joachim Kalka, Daniela Strigl, Michael Walter.
Schriftsteller
Geboren 28.1.1900
Gestorben 3.5.1996
Mitglied seit 1952
Homepage
Seine Romane und Essays, Erzählungen und Gedichte belegen das: vom Geist Lessings bewegt, befinden sie sich in einer unaufhörlichen Auseinandersetzung mit dem Ungeist.
Jurymitglieder
Juryvorsitz: Karl Krolow
Horst Bienek, Walter Helmut Fritz, Rudolf Hagelstange, Carl Linfert, Manfred Ranft (Hessisches Kultusministerium), Horst Rüdiger, Heinz Winfried Sabais (Stadt Darmstadt), Hans Scholz, Dolf Sternberger, Gerhard Storz, Wolfgang Weyrauch
Das Glück und die deutschen Dichter
Die deutsche Literatur hat kein Glück. Hat das deutsche Volk Glück? Allzuhäufig regieren Volks-Feinde, und sie führen Krieg gegen die deutsche Sprache und die Literatur.
Germanische Heldenlieder, unter Karl dem Großen gesammelt, wurden von Kaiser Ludwig vernichtet. Prompt hieß er Ludwig der Fromme. Friedrich II. von Preußen schmähte die deutsche Literatur, und hieß der Große. Sein Vorgänger ließ Autoren, waren sie nur lang genug, für seine Armee einfangen. Friedrich Wilhelm IV., an dessen Weisheit ein junger Autor gezweifelt hatte, verurteilte ihn wegen Majestätsbeleidigung zum Tode und verbot sogar die künftigen Bücher von Heine, Börne, Gutzkow, Laube und Mündt. Maria Theresia, ein Cato im Unterrock, verschnitt Sitten und Schriften ihrer Untertanen wie für Eunuchen, polizeisüchtig wie Metternich, der zwar klüger – und solch ein Unglück für Europa war.
Unter Kaiser Wilhelm IL, einem Bewunderer von Wildenbruch, wurde Wedekind wegen Majestätsbeleidigung zu Festung verurteilt, obgleich die wahren Majestätsbeleidigungen die Reden Wilhelms II. waren. Ein so nichtssagender wie unheilvoller Präsident der Weimarer Republik, Paul Hindenburg, las neben dem Katechismus nur das Armeereglement. Je mehr Bücher Hitler verbrennen, je mehr Autoren er vergasen ließ, um so mehr vergötterte ihn eine Mehrheit der Deutschen. Bundeskanzler Adenauer hatte dank Gottes und Globkes Hilfe vielleicht gewisse Verdienste ums deutsche Volk, aber keine um die deutsche Literatur. Bundeskanzler Ludwig Erhard fand für deutsche Autoren die Vokabel »Pinscher«.
Wenn das Volk toll wird oder seine Regierungen Vernunft und Gewissen verlieren, leiden zuerst und zumeist die Autoren. Wann immer Deutschland geteilt wurde, riß es die deutsche Literatur in Stücke.
Kaum weckten Humanisten und Reformatoren wie Luther, Hutten, Melanchthon, Reuchlin, die deutsche Literatur aus der Verfinsterung durch die römische Kirche, da entdeckten deutsche Kleinfürsten den Grundsatz cujus regio ejus religio. Jeder regierende Dummkopf oder Halunke bestimmte, was man in seiner Provinz, einem von vierhundert unabhängigen Territorien, glauben, was man denken durfte.
Die Freien Städte, die Ritter, die geistlichen Herren, die Fürsten, alle kämpften gegen alle, unterdrückten ihre Untertanen, beuteten ihre Bauern aus, verfolgten ihre Autoren durch Zensur und Zwang. Bauernkriege, Religionskriege, der dreißigjährige Krieg, die Gegenreformation brachten neue Verfinsterung und eine Teilung Deutschlands und seiner Literatur.
Kriege und Tyrannen unterdrückten die deutsche Literatur der Aufklärung im 18. Jahrhundert, die Literatur der Revolte im 19. Jahrhundert und die aufsässige oder humanistische Literatur der Republik von Weimar.
Alle Kriege opfern die Humanität und die Freiheit des Geistes, sind also Kriege gegen die Literatur. Als Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg gevierteilt wurde, und schließlich halbiert, wurde auch die deutsche Literatur gevierteilt, und schließlich halbiert.
Seit 41 Jahren kann man in Leipzig, in Dresden, in Weimar, in Ostberlin kein Buch ohne Zensur, kein freies Wort gegen öffentliche Mißstände drucken lassen.
In Kiel erklärte kürzlich Martin Walser vor ausländischen und deutschen Germanisten, ein leiser, ein lächelnder Terror herrsche sogar in der Bundesrepublik. Sogleich spürte Walser die bittern Folgen: Fernsehen und Rundfunk interviewten, Zeitungen zitierten ihn.
Von dem halben Tausend Autoren, die in deutschen Literaturgeschichten vorkommen, lebten allzu viele im Unglück, darbten, hungerten, waren schon zu Lebzeiten verschollen, wurden erst nach ihrem Tode entdeckt, starben bevor sie dreißig waren, endeten als Selbstmörder, wurden verboten, ihre Bücher wurden durch Zensur und Polizei verstümmelt, durch Studenten verbrannt. Manche Autoren übten aus Todesfurcht Selbstzensur, andre gingen ins Exil, oder wurden verbannt und ausgetrieben, auf Festung, ins Gefängnis, ins Zuchthaus, ins Konzentrationslager geschickt, gefoltert, vergast, von der Mehrheit des Volkes geschmäht.
Der amerikanische Maler Robert Rauschenberg sagte kürzlich: Die Kunstwelt ist eine Minorität ohne jeden Schutz. Auch die Autoren sind eine verlorene Minorität. Sie selber wußten sich nie zu einigen über ihren Ort in der Gesellschaft, über ihre Stellung im Staat, über ihre Rechte und Pflichten, ja sogar über die Kriterien der Literatur. Wir veröffentlichen ohne einen rechten Beruf, die meisten von uns ohne Berufung. Wir sprechen, und meistens in den Wind. Zuweilen haben einige die größte Wirkung, man will es nicht wahrhaben. Mallarmé sagte, »un seul poème peut changer le monde«. Manche haben Ruhm und kein Einkommen. Anders als Bauern, Arbeiter, Beamte sind sie keine politisch vermögliche Gruppe. Sie sind einzelne, sie werden sozial mißachtet, wirtschaftlich benachteiligt, vom Gesetzgeber, vom Steueramt, von ihren Verlegern, von den politischen Parteien, vom Publikum.
Sie sind Außenseiter, und sie sind die ersten Opfer jeder Krise, jeder Diktatur, jeder Revolution, sogar der Tyrannei der Mode. Dennoch glauben die meisten Autoren, sie hätten gute Gründe, um Autoren zu werden, sie wollen die Wahrheit sagen, die Menschen lehren, die Welt verbessern, oder durch ihre Schriften Leser, Zuhörer, Geld, Ruhm, vielleicht den Büchnerpreis gewinnen, oder mit einem Vers ein Mädchen verführen, mit einem Theaterstück oder kommunistischen Manifest oder der Encyclopédie eine Revolution vorbereiten, sie wollen mit zehn Geboten Religionen gründen, oder Gott abschaffen, sie wollen ihr Leben erzählen, Menschen schildern, Tyrannen stürzen, die Welt beschreiben, Kriege verursachen oder unmöglich machen, an Worten sich und andre berauschen, Kunstwerke oder neue Kunstmoden schaffen, die Sprache erneuern, sich selber darstellen oder den Nächsten oder alle Welt verspotten, oder sich selber.
Ernst Johann, der bei Reclam »Büchner-Preis-Reden 1951-1971« herausgegeben hat, schreibt in seinem treffenden Vorwort: »... so erwartet man von einem Träger des Georg-Büchner-Preises das Frühvollendete der Kunst, das Sozial-Politische des Engagements wie das Zukunfts-Trächtige der Aussage.«
Was mich betrifft, so dürfte es zu spät sein, frühvollendet wie Büchner mit 23 Jahren zu sterben. Ich habe nie um der Kunst willen geschrieben, sondern nur der Wahrheit wegen, oder wegen der Gerechtigkeit, oder vor lauter Glück, wenn ich verliebt war, und vor lauter Verzweiflung über das überflüssige Unrecht, das Menschen einander antun, aus Gram über die Unordnung im Universum und seine räumlichen und zeitlichen Grenzen, auch wenn es sich ausdehnt, aus Groll über die Schranken unserer Vernunft, und aus Empörung über den Witz Gottes, uns nach seinem Bilde aber sterblich zu machen. Ich schrieb für meinesgleichen, und wo war ein Mensch, dem ich in nichts glich?
Kaum hatte ich als Kind gehen gelernt, ging ich von Zimmer zu Zimmer, von einer Straße zur andern, und bald von Stadt zu Stadt, von Land zu Land und ich durchquerte Meer und Luft, von einem Kontinent zum andern. Ich ging immer auf dieser Erde, sie war mein ganzes Eigentum.
Kaum konnte ich sprechen, begriff ich, daß man mit Worten die Welt neu schaffen und sie aufklären kann, wie Jehova, der gesagt hat, es werde Licht, und es wurde Licht. Schon ward die deutsche Sprache mein Eigentum. Sie gehört mir. Als ich nach Paris und Amsterdam und New York ins Exil ging, nahm ich sie mit, wie den halben Sternenhimmel über Nürnberg, wie Mond und Sonne über Berlin, wie die Literatur und die Musik aus Deutschland.
An das Vollendete der Kunst glaube ich nicht, alle Kunst ist so gebrechlich und notwendig unvollendet wie der Mensch und das Universum, so fragmentarisch wie Georg Büchner. Ich wollte nichts vollenden, sondern immer wieder beginnen. Mit jedem neuen Buch wälzte ich wie Sisyphos einen schweren Stein fast bis zum Gipfel des Berges, wo er herabrollte. Ist es nicht ein Symbol der Kunst? Sisyphos, der Gründer der Stadt Korinth, ist wie ein Spiegel eines Poeten. Dem Flußgott Asopos verriet er das Versteck dessen Tochter, der Nymphe Aegina, die Zeus geraubt hatte. Als Zeus darauf den Thanatos zum König Sisyphos sandte, wußte dieser den Thanatos zu fesseln, und die Menschen starben nicht mehr. Als Ares den Thanatos endlich befreite und Sisyphos sterben sollte, befahl er seiner Frau, keine Totenopfer zu bringen, und wußte vor dem Thron des Hades so schlau über seinen entgangenen Nachruf zu lamentieren, daß ihm Hades Urlaub für die Welt der Lebenden gab, wo Sisyphos seiner Frau die versäumte Laudatio auftragen könne. Indes blieb Sisyphos in Korinth und starb erst, da er seiner hohen Jahre müde war. Im Hades freilich mußte er seinen Stein rollen. Der Stein rollt noch. So stelle ich mir gewisse Poeten vor, die Göttern oder andern Tyrannen entgegentreten, wenn diese freveln, und die mit Versen oder Prosa die Menschen so verzaubern, bis sie vergessen, daß sie sterben müssen.
Freilich enden auch diese verwegenen Autoren in der Hölle der Poeten, in der Nachwelt, wo sie ihre hinterlassenen Werke wie Steine fast zum Gipfel der Berge hinaufschleppen müssen, bis »hurtig mit Donnergepolter herabrollt der tückische Felsblock«. Das »Zukunftsträchtige der Aussage« macht mich skeptisch. Die Nachwelt ist so närrisch wie die Mitwelt. Auch fehlt ihr die süße Wollust des Daseins. Wer könnte entscheiden, welchem lebenden Autor die Zukunft gehört? Mir scheint es wichtiger, zu wirken, solange man lebt.
Und »das Sozialpolitische des Engagements«?
Wie kann man publizieren, ohne wirken zu wollen? Welcher Vernünftige glaubt, er und seine Kinder und Kindeskinder könnten ungehindert leben bleiben, wenn der Nächste verhungert? Wir haben Gott erfunden und wir haben den Teufel erfunden, und es gibt Autoren, die aus Lust am Bösen schreiben, schreibende Menschenfeinde, und es gibt schreibende Menschenfreunde wie Büchner.
Ich habe zugleich zu leben und zu lieben gelernt, hatte seit meinen Kinderjahren Freunde und Freundinnen und war von früh auf empört, wenn ich ein Unrecht sah. Ich fühlte, auch wenn es andern geschah, es geschehe mir. Wer unsern Nachbar ausbeutet oder unterdrückt, und wer auf unserer kleinen Erde wäre nicht unser Nachbar, der würde auch uns ausbeuten und unterdrücken. Das war mein Vater, der mir gesagt hat, alle Menschen gehörten zur selben Familie. Später sagte meine Mutter, die mit einer Stiefmutter aufgewachsen war, das sei schon wahr, was Papa sagt, nur sei zuweilen auch das Leben mit der eigenen Familie eine Hölle.
Ich singe wie der Vogel singt, sagte Goethe, und schrieb für die Freiheit, seinen Prometheus, seinen Egmont, seinen Tasso, seine Iphigenie. Ich suche die Freiheit immer noch, und ich liebe den Müßiggang, und die heiteren Stunden, und ich schreibe Liebeslieder noch im Alter. Kein Autor ist frei, der nach Diktat schreibt, sei es das Diktat einer literarischen, einer politischen Partei, gar einer regierenden Staatspartei, eines Volkes oder der Epoche.
Casanovas Motto seiner Memoiren: Ich bereue nichts, gilt für sein Leben. Ich könnte es zu einem Motto meiner Schriften nehmen. Ich hätte alles besser machen sollen. Aber ich habe nichts publiziert, was ich nicht für wahr hielt, und erst wenn ich glaubte, genauer, besser könnte ich es nicht sagen.
Aber dem Büchner nacheifern?
Wie unglücklich war dieser Mensch! Schon in jungen Jahren strahlend vor Vernunft, ein Meister der deutschen Sprache, so scharf im politischen Blick und Urteil, so hilfsbereit für alle Armen und Unterdrückten, brachte er sich und allen, denen er helfen wollte und die auf ihn hörten, Unglück. Gibt es etwas Unseligeres als einen gescheiterten Revolutionär?
Sein Mädchen, Wilhelmine Jaeglé, drei Jahre älter als er, starb mit siebzig; sie hat angeblich sein »bestes« Drama, Pietro Aretino, aus Prüderie verbrannt?
Sein Freund, der Rektor Weidig, drei Jahre lang im Kerker gepeinigt, weil er Büchners Pamphlet »Der Hessische Landbote« redigiert hatte, schnitt seine Pulsadern auf, vier Tage nach Büchners Tod. Wer immer auf Büchner und sein Pamphlet hörte, die Studenten, mit denen Büchner in Gießen und Darmstadt die Ortsgruppen des revolutionären Geheimbundes »Gesellschaft der Menschenrechte« gegründet hatte, Bürger, Bauern, Küfermeister endeten im Unglück, im Kerker, im Exil.
Büchner zitierte den Chamfort: »Krieg den Palästen«, er wollte sie niederbrennen.
Büchner schreibt an die Familie aus Straßburg, den 5. April 1833: »Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt... Man wirft den jungen Leuten den Gebrauch der Gewalt vor. Sind wir denn aber nicht in einem ewigen Gewaltzustand? Weil wir im Kerker geboren und großgezogen sind, merken wir nicht mehr, daß wir im Loch stecken mit angeschmiedeten Händen und Füßen und einem Knebel im Munde. Was nennt ihr denn gesetzlichen Zustand? Ein Gesetz, das die große Masse der Staatsbürger zum frohnenden Vieh macht, um die unnatürlichen Bedürfnisse einer unbedeutenden und verdorbenen Minderzahl zu befriedigen. Und dies Gesetz, unterstützt durch eine rohe Militärgewalt und durch die dumme Pfiffigkeit seiner Agenten, dies Gesetz ist eine ewige rohe Gewalt, angetan dem Recht und der gesunden Vernunft, und ich werde mit Mund und Hand dagegen kämpfen, wo ich kann.«
An August Stöber schreibt der Zwanzigjährige aus Darmstadt, am 9. Dezember 1833: »Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen. Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen. Ich bete jeden Abend zum Hanf und zu den Laternen.« An Gutzkow aus Straßburg, März 1835: »Ich wollte, es ginge der ganzen Nation wie mir. Wenn es einmal ein Mißjahr gibt, worin nur der Hanf gerät! Das sollte lustig gehen, wir wollten schon eine Boa Constrictor zusammenflechten. Mein Danton ist vorläufig ein seidenes Schnürchen und meine Muse ein verkleideter Samson.«
An Gutzkow: »Das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt; der Hunger allein kann die Freiheitsgöttin, und nur ein Moses, der uns die sieben ägyptischen Plagen auf den Hals schickte, könnte ein Messias werden. Mästen Sie die Bauern und die Revolution bekommt die Apoplexie. Ein Huhn im Topf jedes Bauern macht den gallischen Hahn verenden.«
An Gutzkow, der im Gefängnis sitzt, im Januar 1836: »Sobald Sie frei sind, verlassen Sie Teutschland so schnell wie möglich.«
Und an die Braut aus Zürich, 1837 eine letzte Mitteilung: »(Ich werde) in längstens acht Tagen ›Leonce und Lena‹ mit noch zwei anderen Dramen erscheinen lassen.«
Statt dessen starb er am Typhus, mit 23 einhalb Jahren. Büchner, der Arzt werden wollte, und ein Naturforscher und Dozent an der neuen Universität in Zürich wurde, erwies sich als einen großen Poeten schon in seinen Briefen, wie in seinem dichterischen Werk, das etwa hundertzwanzig Seiten umfaßt, und in den wenigen Seiten des Pamphlets »Der Hessische Landbote. Erste Botschaft« – eine zweite oder dritte kam nie – und das beginnt: »Dieses Blatt soll dem hessischen Lande die Wahrheit melden, aber wer die Wahrheit sagt, wird gehenkt; ja sogar, der, welcher die Wahrheit liest, wird durch meineidige Richter vielleicht gestraft...« Der 21jährige Büchner wußte, wie sehr er seine Leser gefährdete, und schrieb sein Pamphlet. Hundert Jahre später galt im hessischen Lande und in Deutschland: wer die Wahrheit sagt, wird gehenkt. Man henkte Arbeiter und Autoren und das Mütterchen, das am Endsieg zweifelte.
Dieser Büchner schreibt den Aufruhr, den er spricht. Er beweist mit jeder Figur seine moralische Leidenschaft, und das Talent, mit einem Blick zu durchschauen, und mitzufühlen, und mitten im Spott den Schmerz seiner Figur, Büchners Schmerz und unsern Schmerz zu erfassen. Er erzählt ohne Anstrengung, begegnet all seinen Figuren und der Natur von gleich zu gleich, und macht mit Witz und Feuer die deutsche Sprache zu Musik, als wäre er Mozart.
Indes schrieb Büchner mit 22 Jahren in höchster Eile, in kaum fünf Wochen, nachdem er Thiers und Mignet gelesen hatte, sein Drama »Dantons Tod«. Er schickte es mit einem geradezu erpresserischen Notschrei an einen andern jungen Menschen, der erst 24 und schon namhaft war, Karl Gutzkow, mit der Bitte, dieses Stück eines Unbekannten stehenden Fußes zu lesen, und es Gutzkows Verleger zum Druck zu empfehlen. Gutzkow las das Stück, empfahl es seinem Verleger Sauerländer, verstümmelte es schmählich, um es vor der Zensur zu retten, es wurde gedruckt, brachte dem Autor 10 Louisdor und wurde verrissen. Nur Gutzkow lobte es öffentlich.
Erst 1879 erschien es unverstümmelt, auf Grund der Handschrift. Als Cotta am 3. Februar 1836 einen Preis für das beste deutsche Lustspiel ausschrieb, sandte Büchner »Leonce und Lena« zu spät und erhielt seine Sendung ungeöffnet zurück. Die fragmentarische Erzählung »Lenz« druckte Gutzkow in seiner Zeitschrift erst zwei Jahre nach dem Tode von Büchner. Der »Aretino« ging verloren. Das unvollendete Drama »Woyzek«, in mehreren handschriftlichen Fassungen von 1835/36, erscheint erst in den Sämtlichen Werken, die Karl Emil Franzos 1879 herausgab, die Handschrift war vergilbt, Franzos, der sie klären wollte, verdarb sie durch eine Säure, las Wozzek statt Woyzek. Niemand weiß, welche Lesart gilt, welche Szene auf die andre folgt.
Die nachgelassenen Schriften des verschollenen Georg Büchner, die der damals weltberühmte Bruder Ludwig Büchner, der Autor von »Kraft und Stoff«, 1850 herausgab, waren, wie Ernst Johann sagt, »in einem Zustand, der beweist, daß Ludwig Büchner ein Familiendenkmal, nicht ein Literaturdenkmal setzen wollte«.
Die erste Gesamtausgabe durch Karl Emil Franzos war, laut Ernst Johann, »ohne Widerhall, und ganz davon zu schweigen, daß die literarische Mitwelt damals aufgehorcht hätte. In den Literaturgeschichten jener Epoche kommt Georg Büchner nicht vor; er existiert im Untergrund.«
Noch 1891 wurde Wilhelm Liebknecht zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, weil er »Dantons Tod« im »Vorwärts« abdruckte.
Solch eine unglückliche Figur (von Genie, ohne Zweifel), ein revolutionärer Aktivist in seiner Dichtung wie im Leben, der aufruft, die Paläste anzuzünden, der Tyrannen an die Laternen hängen will, der den Henker der französischen Revolution, Samson, seine Muse heißt, der die Liberalen verachtet, die Bürger anklagt, auf die Bauern baut, aber nur wenn sie hungern, der sich selber, dem die Welt häufig mißfiel, ein Ausgestoßener seines Volks, ein Exilierter, ein Autor, der aus vielen Büchern entlehnt, die barocke Bilderjagd Shakespeares und den volksliedmäßigen Realismus der Sturm und Drang Poeten des 18. Jahrhunderts imitiert, Büchner, der ohne Gutzkow vielleicht nie entdeckt, ohne Karl Emil Franzos vielleicht verschollen wäre, im Namen Büchners also, um ihn und mich zu ehren, geben mir die Akademie, Darmstadt, das Land Hessen diesen Preis. Was erwartet man von mir?
Aufrührerische Reden wie von Büchner? Pamphlete, die sogar meine Leser gefährden? Daß ich auf die Straße gehe und Aufruhr mache? Daß ich meine Freunde von der Akademie überrede, einer neuen »Gesellschaft der Menschenrechte« im Geiste von Robespierre und Babeuf beizutreten, daß ich mit ihnen Schießübungen mache, meine Freunde ins Unglück stürze, die Regierungen der Länder, in denen ich gelebt habe, mit einigem Recht anklage, und indes meine Freunde in den Kerker oder ins Exil gingen, in die Schweiz fliehe, sterbe, nicht ohne einige genialische Fragmente zu hinterlassen, die 42 Jahre später ein neuer Karl Emil Franzos (der übrigens ein Großonkel von mir war) ediert?
Es sind hypothetische Fragen. Keineswegs hypothetisch frage ich, wie ernst wir alle den Georg Büchner und jeden andern Autor nehmen.
Können wir den Aufrührer Büchner als schieren Dichter abtun, seine Werke und Taten als reine Poesie genießen? Keine Poesie ist rein. Kein Autor ist von seinen Gesinnungen und Handlungen, geschweige seinen Worten zu trennen.
Wenn wir einen Autor nicht beim Wort nehmen, wenn wir ihn nicht ernst nehmen, nehmen wir selber uns nicht ernst.
Freilich bewundere ich auch den Apoll, beneide ihn um seinen intimen Umgang mit neun Musen, hätte aber keinen Marsyas geschunden, sondern ihm den Büchnerpreis verliehen.
Wenn Büchner seiner Familie am 1. Januar 1836 schreibt, er gehöre »keineswegs zu dem sogenannten Jungen Deutschland, der literarischen Partei Gutzkows und Heines. Nur ein völliges Mißkennen unserer gesellschaftlichen Verhältnisse konnte die Leute glauben machen, daß durch die Tagesliteratur eine völlige Umgestaltung unserer religiösen und gesellschaftlichen Ideen möglich sei...«, so stehe ich auf Seiten Heines, von dem Büchner gelernt und genommen hat, wie von Lenz und Shakespeare.
Mit keinem meiner vielen Freunde unter lebenden und toten Poeten war ich in allem einig. Ich bin es auch nicht mit Büchner. Ich vergleiche mich nicht mit Büchner. Ich habe mich nie mit andern Autoren verglichen. Wer wird seine Freunde an sich, wer sich an seinen Freunden messen? Ungleich dem Heinrich von Kleist wollte ich nicht dem Goethe und keinem andern den Kranz vom Haupte reißen. Ich mache mir nichts aus Kränzen.
Müßte ich mich mit einem andern Autor vergleichen, wäre es Gott, der die Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat, freilich der liebe Gott eines Atheisten.
Ich will nicht die Natur wiederholen, sondern es ihr gleichtun. Auch ich schaffe Figuren nach meinem Bilde, und wäre bereit, für sie, wie Prometheus, das Feuer zu stehlen.
Schreiben, denken, um Wahrheit sich mühen, erzählen, mit seinen Figuren spielen, in Versen sprechen, die Welt beschreiben, und vielleicht einmal schreibend verändern, ist eine Wollust, wie zeugen, wie einen Menschen zu umarmen, wenn man diesen Menschen liebt.
Und kann man ein Leben lang über Menschen schreiben, ohne sie zu lieben?
Ich danke Wolfgang Koeppen für die laudatio. Ich danke dem Lande Hessen, der Stadt Darmstadt und meinen Freunden in der Akademie für Sprache und Dichtung, daß sie einige meiner literarischen Bemühungen mit diesem Preis im Namen eines Revolutionärs auszeichnen.
Henry de Montherlant sagt in seinen Tagebüchern: »Man kann einen Autor nicht beurteilen, wenn man nicht alle seine Werke gelesen hat.« Ohne Zweifel bin ich der einzige Autor, der alles gelesen hat, was ich in vielen Ländern veröffentlicht habe.
Ich wäre also der einzige, der über mein Werk urteilen könnte? Ich glaubte stets, daß ich keinen Preis habe. Ich habe nie geglaubt, daß ich einen Preis verdiene. Ich erwartete nur Leser und Zuhörer, die unbekannten Freunde eines Autors, unter denen vielleicht der eine oder andere die Worte, die geschriebenen oder ausgesprochenen Taten des Autors, weiterträgt und mit neuer stärkerer Wirkung überliefert und übertrifft.
Ich empfange also diesen Preis, den vor mir schon viele meiner Freunde empfangen haben, mit jener heiteren Skepsis, mit der ich Beweise der Sympathie empfange, als einen Akt der Freundschaft, als eine liebenswürdige Gunst meiner Freunde der Poeten.