Georg-Büchner-Preis

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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Satzung

Präambel

Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.

§ 1

Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.

§2

Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.

§3

Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.

Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.

§4

Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.

Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.

Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.

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Heinrich Böll

Schriftsteller
Geboren 21.12.1917
Gestorben 16.7.1985
Mitglied seit 1954
Homepage

Geleitet von einem empfindlichen Gewissen und brennender Wahrheitsliebe hat er menschliche Verhaltensweisen und gesellschaftliche Zustände unserer Zeit mutig dargestellt...

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Gerhard Storz
Friedrich Bischoff, Richard Gerlach, Rudolf Hagelstange, Karl Krolow, Wilhelm Lehmann, Fritz Martini, Otto Rombach, Horst Rüdiger, Heinz Winfried Sabais (Stadt Darmstadt), Dolf Sternberger, W. E. Süskind, ein Verteter des Hessischen Kultusministeriums

Laudatio von Rudolf Hagelstange
Schriftsteller, geboren 1912

Georg Büchner und Darmstadt – die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, auch »die Darmstädter« genannt, und der Georg-Büchner-Preis: allherbstlich, wie die Blätter fallen, das unausbleibliche, festliche Ritornell, dem Monate zuvor das Erwägen und Diskutieren des sich mehr oder minder zuständig wissenden Gremiums vorausging, das aus Kandidaten und Favoriten den vermutlich Preis-Würdigsten auswählt, der dann direkt oder indirekt dem Darmstädter Genius Reverenz erweist oder auch zu beweisen trachtet, daß er aus büchnerischem oder noch ganz anderem Holz geschnitzt ist.
So lokalpatriotisch oder gar provinziell, wie mancher das auslegen könnte, ist es freilich nicht gemeint. Auch den Hessen und dieser relativ kleinen, aber was die Künste betrifft großzügigen, ehrgeizigen und verdienten Stadt geht es nicht um Schneiderkunststückchen, mit denen die büchnersche Joppe jeweils neu auf Taille und Figur des Preisträgers getrimmt werden könnte. Es gelten literarische Maßstäbe – wie wären sonst Marie Luise Kaschnitz, Ingeborg Bachmann oder Paul Celan zum Büchner-Preis gekommen – und eine wirklich augenfällige Affinität im Handwerklichen, Thematischen, im Biographisch- Landsmannschaftlichen, in der Sparte wie etwa im Falle von Max Frisch, wäre schon ein schönes Aufgeld. Daß ein junger deutscher oder deutschsprachiger Dramatiker entsprechender Handschrift ein hochwillkommener Favorit sein würde, versteht sich von selbst. Aber – der Ton, der die Musik macht, setzt nicht unbedingt ein Opernorchester voraus. Zeit- und Gesellschaftskritik kann man auch in monologischen Versen üben; vor allem aber ist die Prosa da ein weites und dankbares Feld, ein längst nicht ausgemessenes dazu.
Ein Stichwort wäre gefallen, zugegeben ein vordergründiges, von Mode und politisierendem Schnickschnack abgenutztes, das nicht viel origineller ist, als es Bahnhöfe oder Wartesäle sind, in welchen man sich – möglichst kurz – aufhält, um den »Anschluß« zu erreichen, den Zug, der dem eigentlichen Ziel zustrebt. Denn jeder gesellschaftskritische, die Zeit treffende Akzent eines Autors wird auf die Dauer oder auf längere Sicht Arabeske bleiben, würde er nicht auf eine breite, ausgefüllte humanitäre Basis gesetzt sein, würde nicht hinter dem Engagement dafür oder dagegen die einzigartige persönliche und zugleich stellvertretende Erfahrung stehen, die zumeist Leid-Erfahrung ist, eine Teilhabe und Teilnahme, die zur Mitteilung drängt und Wahrnehmung der anderen sucht und weckt – warum und zu welchem Ende?
Man kennt die ewige studienrätliche Frage nach der »Aufgabe des Schriftstellers«, unermüdlich an Autoren weitergegeben in Briefen und Interviews für Schülerzeitungen, die so ärgerlich und verstimmend wirkt, weil sie uns deutlich macht, daß die Welt, wenn wir sie schon nicht zerstreuen, amüsieren, unterhalten, unbedingt Impulse »höherer Art« von uns erwartet: die Absicht zu verbessern, zu helfen, zu verändern – kurzum Ideale und Ambitionen, welche auf anderen Ebenen auch die Heilsarmee, die Jünger der Weltrevolution, Kirchen und Sekten tätig sein lassen. Sage einer, Beckett betreibe »Weltverbesserung« in seinen End-Spielen! Oder als Gegenstück: Brecht wäre – unter anderen Umständen – kein exemplarischer Büchner-Preisträger gewesen, weil es ihm um eine gerechtere, eine bessere Welt ging! Das Thema der Literatur ist die Literatur; aber das Material, mit dem sie geschrieben wird, sind Blut, Schweiß und Tränen – auch intimere Sektrete sind heute sehr im Schwange –, und weder der liebe Gott noch ein gottähnlicher Mao etwa, als Stilprinzipien, machen aus einem Machwerk ein Kunstwerk. Nicht einmal der raffiniertesten und frechsten Technik des Schreibens, so viel Kurzweiliges, Anzügliches, Beiläufiges sie auf die Beine stellen mag, gelingt es allein, über das Kunststück, über Kunststückchen hinauszugelangen. Ohne menschliche oder auch un-menschliche Erfahrung bleibt es bei der Fassade. Erst die völlige Verschmelzung des Erfahrenen mit dem kunstwilligen Talent schafft Literatur. Einer der ersten, nie vergessenen Eindrücke, den Heinrich Böll aus seinen Kindheitstagen zu nennen weiß, war der Vorüberzug der geschlagenen Hindenburg-Armee, »mit Mann und Roß und
Wagen«, unter dem Fenster jener Mietskaserne, in der die Familie Böll wohnte, und diese trostlose Wahrnehmung eines eben Zweijährigen ist, wie die Vorwegnahme eines sich zweimal wiederholenden sinnlosen Vorgangs, geradezu traumatisch ins Gemüt eingebrannt – vielleicht wie Zweijährige nie vergessen, daß einmal der betrunkene Vater das Messer gegen die Mutter erhob oder wie ein Spielgefährte von einem Auto überfahren wurde. Was zwischen dieser Soldaten-Heimkehr von 1919 und dem von Fanfarengeschmetter und Sondermeldungen begleiteten Auszug zum zweiten Weltkrieg sich an kindlicher und jugendlicher Leid-Erfahrung aufstaute, kann man in nicht wenigen Arbeiten Bölls nachlesen. Selbst in solchen, in denen die persönliche Erfahrung einen Teil der Rolle an die Phantasie – des Romanciers zum Beispiel – abtritt, wird plötzlich ein Protest äußerster Bitterkeit, eine Empörung hörbar, die der unmittelbaren Motivation zu entbehren oder aus einem Alptraum zu kommen scheinen. Da mag sich die Litanei der Sinnlosigkeiten, Demütigungen, Vergewaltigungen fortsetzen als ein Rest jenes Restes, von dem Heinrich Böll selbst einmal gesagt hat, daß er noch nicht ganz »verteilt« sei.
Ein Abiturient, der 1938 – über die gewiß auch nicht herrschaftlichen ersten Erfahrungen eines Buchhandelslehrlings – mit der Literatur in jenes Liebesverhältnis gelangt, das ihn zu schreiben drängt, der dann in den Pferch des Arbeitsdienstes und bald darauf in die große Hürde militärischer Befehlsgewalt getrieben wird, muß geradezu, auf jeden Fall, wenn er von der Verletzlichkeit, Unverführbarkeit, der angeborenen Obstinanz eines Böll ist, ein Anziehungspunkt, ein Opfer von extremer Eignung sein für die herrschenden Menschen und Verhältnisse jener Jahre. Zugleich aber auch ein extremer Fall von Wahrnehmung, Empfindung, Registrierung, vermutlich ein Testfall einer »kölschen« Appassionata, hinter der die Passion Schutz suchte. Sicher kein ganzer Schwejk, aber ganz und gar kein Militär – eher jener sogenannte »unbekannte Soldat«, an dessen Denkmälern die Staatsoberhäupter gedankenvoll Kränze niederzulegen pflegen, der in unserem Fall freilich, wenn auch einige Male blessiert, überlebte, um als Zeuge aufzutreten, wo immer Zeugnis notwendig ist.
Das kann in Gestalt einer Novelle wie »Der Zug war pünktlich« sein, der ersten publizierten größeren Arbeit, die das erzählerische Talent Bölls sichtbar machte und eins seiner bewegendsten Bücher – für mich – geblieben ist; ich habe die Geschichte des jungen Soldaten Andreas, der in den unausweichlichen Tod fährt, drei oder vier Mal in den Jahren seit ihrem Erscheinen wieder gelesen. Um diese erste Novelle ist – bei aller Zwangsläufigkeit und Hoffnungslosigkeit – ein großer, fast jugendlicher Schmelz. Wenn zum Ende hin die drei nach Galizien zurückkehrenden Landser in einem Lemberger Bordell landen, scheint sich das weite und willkommene Feld des Sexuellen aufzutun. Dennoch findet der Erzähler den geheimen Pfad, der zum Eros führt. Nicht was alle tun oder täten, ist berichtenswert, sondern was einer tut. Diese Fähigkeit – zumal in einer Zeit der Ent-Erotisierung durch einen hemmungslosen »sexualistischen Realismus« –, das Phänomen des Eros, der Liebe also, ohne Pathos und Überschwang sichtbar zu machen, haben die späteren Arbeiten Bölls bestätigt. Es zeichnet diesen Autor noch jene Scheu aus oder Scham, die bei den Primitiven wie bei den Kulturvölkern für ein kennzeichnendes und unverzichtbares Humanum galt oder noch gilt. Wo es Mode und probate Methode scheint, Alltägliches oder auch Allnächtliches als falsche Rarität und Sensation zu verkaufen, wird bei Böll das Einzigartige, im Sinne des Persönlichsten Rare und Kostbare wieder existent. Das Geschlecht an sich kann ebensowenig ein »Held« sein – im dramatischen oder dramaturgischen Sinn – wie die Masse. Der einzelne Handelnde, der einzelne Liebende, mit Leib und Seele Liebende aber ist es.
Der Einzelfall, die Einzelheit, sie mag sich zunächst noch so unbedeutend ausnehmen, lockt diesen Erzähler. Der Nonsens des Krieges wird nicht in Massenszenen oder Schlachtendarstellungen entlarvt, in denen das Individuelle zur Randerscheinung absinkt, sondern am Geschick einzelner oder weniger exemplifiziert. Auch in dem ersten größeren Prosabuch »Wo warst du, Adam?«, das neun Episoden lose miteinander verknüpft und sich als Roman ausgibt, überwiegt das Novellistische noch, ohne daß man es als literarischen Nachteil empfände. Die kürzere, aber oft meisterlich ausgenutzte und ausgefüllte Form mag nur bewirkt haben, daß die breitere Öffentlichkeit auf diese ersten, zudem in einem kleineren Verlag aufgelegten Bücher nicht mit jener Resonanz antwortete, die sie verdient hätten. In dieser Stunde vermissen wir den Verleger Joseph Caspar Witsch, der sich im Umgang mit dem Autor Böll sicherlich viele Verdienste erworben hat, Verdienste männlichen wie sachlichen Geschlechts. Aber auch das Verdienst jenes kleinen Verlages in Opladen (Middelhauve), erworben in den schwierigen Jahren nach dem Krieg um einen jungen, unbekannten Erzähler, darf nicht unerwähnt bleiben. In einiger Stille also vollzog sich der Auftakt eines literarischen Werkes, das dann in aller Munde und zu außergewöhnlichen Auflagen im In- und Ausland kommen sollte.
Es begann, für alle Welt erkennbar, 1953 mit jenem zweistimmig komponierten Prosastück »Und sagte kein einziges Wort«, nun ganz unzweifelhaft einem Roman, dem schon ein Jahr später »Das Haus ohne Hüter« folgte, ein an Rückblenden, Einschüben, inneren Monologen und stilistischen Varianten reiches, kunstreich gebautes Buch, das, wenn es auch wieder ein Thema des Tages aufgreift, keinen Zweifel mehr zuläßt an jener unbedingten Ambition seines Autors, Literatur zu schaffen, und das selbst Friedrich Sieburg über die Komplimente der Artistik und des Spielerischen hinaus, die er diesem »von seiner Erzählungskunst bedrängten Schriftsteller« erweist, feststellen läßt, daß er auch »durch die verspieltesten Linien hindurch beschwörende Zeichen findet«. Ähnliches ließe sich wohl auch dem 1959 erschienenen »Billard um halbzehn« nachsagen, in welchem das Spiel mit den Aussagen-Formen – die Verklammerung und Verschachtelung eines rund ein halbes Jahrhundert umgreifenden Geschehens, seine ironische Brechung und seine entlarvenden Spiegelungen – durch die Öse eines einzigen Tages gefädelt ist. Ein sich selbst überholender Wille zu immer neuer, reicherer Form macht diese Bücher zu einer Überraschung, die sich an immer neue Interpretationsvokabeln klammert. Jeder dieser drei Romane ist der Gegenwart verhaftet, von den Konsequenzen jüngster oder jüngerer deutscher Vergangenheit mitgeprägt: das äußere und innere Elend des unbehausten Bogner und seiner geduldig-tapferen Frau, deren Ehe ein Opfer der Wohnungsnot zu werden droht; die zerstörten Ehen der Kriegerwitwen, die sich in »Onkelehen« flüchten, deren moralische und psychische Kosten am Ende die vaterlosen Kinder zahlen müssen; und die sinnlosen, einander aufhebenden Aktivitäten der drei Generationen Fähmel, eine großdeutsche Parabel gewissermaßen, Beitrag zur vielberufenen Bewältigung der Vergangenheit. Vielleicht, weil hiermit ein General-Thema angeschlagen wurde, in dem die moralische Komponente unausweichlich gesetzt war, dieses Bemühen um eine so bemühte, oft schwierige literarische Partitur. Vielleicht, weil in den beiden anderen Romanen Aktualität, akute Not abgehandelt wurde, diese bewußte Distanz durch kompositorische und stilistische Elemente. Das ausweichende, verantwortungsflüchtige Wort von der »Trümmerliteratur« ging damals noch um für alles, was mit Nazismus, Krieg und Kriegsfolgen zu tun hatte, und darum nimmt man nicht ohne amüsiertes Erstaunen die beruhigende Feststellung eines Rezensenten entgegen, »Das Brot der frühen Jahre«, jene sich an das »Haus ohne Hüter« anschließende Liebesgeschichte, »vollende den Übergang von der Trümmerliteratur zur – Rekonvaleszenzliteratur«.
»Das irische Tagebuch« wäre dieser Rekonvaleszenzliteratur dann wohl auch zuzuschreiben, obwohl auch darin verschiedene politische »Zähne« gezogen werden und die lästige und belastende Vergangenheit keineswegs ausgeklammert wird. Plötzlich, am nächtlichen Kaminfeuer erzählt der von einem Dauerregen hereingeschwemmte Ire, der in deutscher Gefangenschaft gewesen war, »unseren Kindern, was sie nie vergessen werden und nie vergessen sollen«: wie er die kleinen Zigeunerkinder begrub, die bei der Evakuierung des Konzentrationslagers Stuthof gestorben waren. Aber um so liebevoller und lebensvoller gerät dem erstaunten, durch viele Generationen von Angelsachsen getrennten Spät-Heimkehrer – die väterlichen Vorfahren Bölls kamen vor Jahrhunderten von den britischen Inseln, Katholiken, die in die Emigration unter Heinrich VIII. gegangen waren – um so liebevoller und überzeugender gerät ihm diese unaufdringliche, jedes Pathos meidende Sympathie-Erklärung an Volk und Landschaft der regenreichen Insel, auf der mehr Originale als Bäume wachsen, die außer Mönchen keine Eroberer aufs Festland schickte und die USA heute noch friedlich besiedeln hilft. Ein mit glücklicher Hand geschriebenes, poesie-gesättigtes und humorvolles schmales Buch von überraschendem Gewicht, das möglicherweise auch einen Schlüssel enthält zu jener (wie man zunächst meinen mag) intimeren Kammer, in der die Heilsgeräte, die »Sakramente« (Weide meine Lämmer!) des Katholiken Heinrich Böll aufgehoben sind.
Normalerweise würde das Wort Katholik nicht fallen. Es ist, um ein paar Beispiele zu nennen, unerheblich, daß der Verfasser des vielleicht dauerhaftesten Buches über den letzten Weltkrieg, »Der Streit um den Sergeanten Grischa«, Arnold Zweig, Jude ist, daß Gerhart Hauptmann Protestant, Werner Bergengruen Katholik und Gottfried Benn Atheist war. Wer aber würde im Fall von Bernanos über das religiöse, im Falle Brecht über das marxistische, im Fall Sartre über das existentialistische Engagement schweigen können? Auch wenn man die Gebete des jungen Soldaten Andreas, die Bognerschen Kirchgänge und Sakramenten- Empfänge und manches andere mehr unter der Kennziffer »Köln« in der Rubrik »Milieu« ablegen könnte – keinem deutschen Autor ist Religiöses und Religion weniger Staffage und pures »Material« gewesen als diesem immer wieder nach dem Kern bohrenden, nach der Wahrheit fragenden, nach der Identität von Glauben und Handeln verlangenden Christen, der in wachsender Oppositionshaltung zu Leitlinien, Behörden, klerikalen Amtsträgern und Zwischen-Instanzen steht, anklagend, kritisch, sarkastisch, mit beißender Ironie – bis zu jenen »Ansichten eines Clowns«, in denen die »Vertreter« des Katholon als Zerstörer eines Lebensglücks attackiert werden.
Als katholischer Protestant oder auch Apostat, der aus einer Diaspora kommt, hatte ich zunächst die Erklärung gefunden: mein Bild vom deutschen Katholizismus sei durch die »Oase« geprägt. Wir paar »katholischen Böcke«, im Gymnasium von den meist deutschnationalen, später nazistischen Studienräten den jüdischen Mitschülern nähergerückt als den protestantischen, lebten in einer alten Reformationsstadt – jeder einzelne schien für das Bild der kleinen Gemeinde, ihren Leumund verantwortlich. Diaspora und Oase also. Und war nun Köln, das heilige, der »Sumpf«, in dem die Allmächtige und Alleinseligmachende selbstsicher und unangefochten dahinfaulte, in dem Aschekreuz und Blasius-Segen wirklich, wie ein Witzwort sagt, als einzige Sakramente begehrt waren, und dieser sah es und sagte es? Ein politischer, das heißt Macht anstrebender oder ausübender Katholizismus, vertreten durch die Prälaten Seipel und Kaas im Reichstag vor 1933, war damals eine eindeutigere Sache, als er es nach 1949 sein konnte mit oder unter dem urgesteinigen Konrad Adenauer und dem unwiderstehlichen Franz Josef Strauß.
Als ich »Das Irische Tagebuch« wieder las, wollte mir freilich eine andere Erklärung plausibler erscheinen, die jener unverkennbaren Affinität abgelauscht ist, die zwischen Böll und dem irischen Wesen besteht, das ohne diesen merkwürdig eingewurzelten und doch ständig in Frage gestellten, grundsätzlich akzeptierten und doch nie ganz ernst genommenen, unentbehrlichen und dabei oft lästigen katholischen Glauben nicht denkbar ist, der sich möglicherweise ähnlich dezimiert sieht wie die Bevölkerung der Insel durch ihre Auswanderer und dabei diesen doch ähnlich erhalten bleibt wie die zurückbleibende Verwandtschaft. Spötter, Revoluzzer, Attentäter, Säufer, verkommene Genies, geniale Poeten, Käuze, Originale – wie kann aus dem Schoß der Alleinseligmachenden so viel nach Hieronymus Bosch aussehender Nachwuchs kommen? fragt man sich. Der irische Katholizismus macht es möglich.
Vor ein paar Monaten befragt, hat der Autor des »Clowns«, der inzwischen das »Ende einer Dienstfahrt« schrieb, erklärt, daß er dem Katholizismus als Form viel verdanke, daß er aber als »Stoff« nicht mehr interessant für ihn sei. Wenn dem so wäre, welche Beruhigung für Kardinäle und Kapläne! Sie können sich ohnedies an den höchst originellen Pfarrer und Amtsbruder halten, der vor dem Gericht in Birglar höchst unorthodoxe, aber fortschrittliche Auffassungen bekannt gibt, die der römischen Bischofskonferenz weit vorauseilen. Daß Johannes XXIII., der ein Papst der kleinen Gesten und der großen Schritte war, eine neue Hoffnung in der katholischen Welt weckte, meint man auch Heinrich Böll nachzuempfinden. Ein Papst der großen Gesten und kleinen Schritte – muß er nicht für viele den Katholizismus wieder »uninteressant« machen?
Wahrscheinlich sind alle diese Vokabeln wie »interessant« oder »uninteressant«, »Form« oder »Stoff« Unterspielungen, Understatements, einer heilsamen und heute seltenen Scheu vor jeglicher Exhibition oder auch nur Selbstinterpretation entsprungen, hinter der sich das Leiden an der fortschreitenden Säkularisierung und Banalisierung so vieler religiöser, moralgesetzlicher, politischer und menschlicher Ideen und Ideale verbirgt. Verbirgt, um immer wieder in scharfen, manchmal fast verzweifelten Ausfall-Attacken den schier übermächtigen Feind der Gewöhnung, des falschen Kompromisses, des entseelten, entmenschten Apparats zu stellen, seine Blößen zu treffen, seiner heimlichen und sanften Willkür öffentlich zu widersagen. Jener sanften Willkür, mit der das »Wirtschaftswunder« dem auferstehungswilligen deutschen Lazarus den Mund stopfte, daß er wieder seinen Platz im alten Grab einnehme. Jener heimlichen Willkür, mit der ein Staatschristentum neuer Art seinen andersdenkenden Bruder, die Sozialdemokratie, so lang diffamierte und ausmanövrierte, bis es ihn, wund am Wege liegend, schließlich um Samariterdienste angehen mußte. Jener bequemen Gewöhnung an jahrzehnte-, manchmal jahrhundertelang sinn-entleert umlaufende Moral-Floskeln und Klauseln, überholte Tabus, politische Faustregeln, die hinter den Bedürfnissen des Menschen und der menschlichen Gesellschaft hinterherhinken wie Rechnungen hinter verstorbenen Zechprellern oder Trumpfkarten, deren Farbe nicht mehr im Spiel ist.
Über dies oder das wäre dabei zu rechten und zu reden – auch im Sinn der Wider-Rede. Gelegentlich haben Heinrich Bölls Diagnosen politischen Protest hervorgerufen, was mir keine geringe Würdigung eines Schriftstellers in unserer so auf Konkordanz und Verschwiegenheit erpichten Demokratie zu sein scheint. Wer wollte in diesem Augenblick auch gefällig und befangen lobhudeln, da der möglichst unbefangene, ja unartikulierte Protest manchen heute schon als Allheilmittel gegen die Krankheiten und Gebrechen unserer Gesellschaft gelten möchte. Auch uns Schriftsteller erhöht die wägende Gerechtigkeit und das Streben nach ihr, und zu jenen eingangs berufenen menschlichen oder auch unmenschlichen Erfahrungen, die uns von der Arabeske und Attitüde in unserem Wirken abschirmen können, gehören auch jene Erfahrungen, die die Älteren von uns in der ersten deutschen, der Weimarer Demokratie gesammelt haben, ganz zu schweigen von jenen uns noch höchst bewußten späteren des Dritten Reichs. Der Staat, den wir entweder artig parierenden oder chaotisch desorientierten Deutschen uns bauen oder den wir verspielen können, ist auch und erst recht, wenn er defekt ist, unsere Sache – es gibt Ungezählte, die redlich an ihm arbeiten, die tätlich bürgen für ihn, und nicht alle Unvollkommenheit ist Böswilligkeit. Um verbindliche und heilsame Maße und Maßstäbe unserer modernen Gesellschaft, der sogenannten kapitalistischen wie der vorerst auch noch sogenannten sozialistischen, wird seit langem und vielleicht noch lange gerungen. Selbst wenn es gelingt, die bestehenden Wundherde, den täglich sinnloser und mörderischer werdenden Krieg in Vietnam und den noch immer nicht liquidierten um Israel, auszulöschen und andere zu vermeiden – es wird nicht ohne schmerzliche Operationen, Amputationen, Evolutionen und auch Revolutionen abgehen, wenn wir Ernst machen mit unserem Anteil an Verantwortung für eine gerechtere und vernünftigere Welt.
Selten ist mir diese Unvermeidbarkeit, Zwangsläufigkeit so eindringlich bewußt geworden wie bei der Lektüre von Heinrich Bölls letztem Buch mit Aufsätzen, Reden und Kritiken, in dem der Polemiker, Satiriker und Kritiker jeder Art die Dinge, die ihm auf den Nägeln brennen und die wir als allzu heiße Eisen ungern anzupacken pflegen, unmittelbar angeht: unser Verhältnis zum Osten, zum anderen Deutschland, zum Judentum, zum Begriff der Nation, der Demokratie – nicht zu reden von jenem Zentral-Thema des Religiösen, in dem die meisten anderen Themen Verantwortung, Moral, Widerstand, Friede, Freiheit als Komponenten oder Kontrapunkte mit enthalten sind. Daß zwischen den großen Prosaarbeiten, den Hörspielen, den Erzählungen und Novellen, die eine imponierende Summe literarischer Arbeit und Leistung für einen Fünfzigjährigen darstellen, noch dieses Pensum selbstauferlegter »gemeinnütziger« Pflichten bewältigt wurde, muß Gründe haben, die über aktuelle Anlässe, über sich bietende Gelegenheit hinausgehen.
In den »Ansichten eines Clowns«, die ich gleichsam gegen den Strich gelesen habe, findet sich eine der ganz wenigen Confessiones, zu denen sich unser Autor versteht. Wie nebenbei gesprochen, beim Abschminken sozusagen, heißt es da: »Ich liebe die, von deren Art ich bin, die Menschen.« Ich werde mich hüten, dieses Wort Heinrich Böll in den Mund zu legen. Schnier, der scheiternde Pantomime, hat es gesagt, der sich selber und dem sein Unglück, sein Schicksal »Material« ist – bis an die Bonner Bahnhofstreppe –, um seiner Kunst willen.
Aber – um den Schriftsteller Heinrich Böll selbst beim Wort zu nehmen: »Was Kunst braucht, einzig und allein braucht, ist MaterialFreiheit braucht sie nicht, sie ist Freiheit.« Ja: »Sie ist die einzige erkennbare Erscheinungsform der Freiheit auf dieser Erde.«