Georg-Büchner-Preis

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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Satzung

Präambel

Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.

§ 1

Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.

§2

Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.

§3

Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.

Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.

§4

Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.

Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.

Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.

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Hans Magnus Enzensberger

Schriftsteller
Geboren 11.11.1929

... mit bedeutender Kunst und Kraft verwirklichte Gesellschaftskritik.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Hanns W. Eppelsheimer
Friedrich Bischoff, Kasimir Edschmid (Ehrenpräsident), Richard Gerlach, Hermann Kasack (Ehrenpräsident), Marie Luise Kaschnitz, Karl Krolow, Wilhelm Lehmann, Fritz Martini, Gerhart Pohl, Dolf Sternberger, W. E. Süskind, Fritz Usinger

Laudatio von Hanns W. Eppelsheimer (Ehrenmitglied)
Bibliothekar und Literaturwissenschaftler, geboren 1890

»Die artige Kunst sich Feinde zu machen – mit einigen unterhaltenden Beispielen, wie ich die Ernsthaften dieser Erde zuerst mit Vorbedacht zur Raserei und dann in ihrem falschen Rechtsbewußtsein zu Unanständigkeit und Torheit gebracht habe.«
Das ist kein Ausspruch des Dichters, den wir heute abend feiern, sondern der Titel eines Buchs, das schon im Jahre 1890 der amerikanisch-englische Maler Mac Neil Whistler über seinen Streit mit der englischen Kunstkritik geschrieben hat. Vermutlich wird der eine oder andere von Ihnen denken, die Methode Whistlers werde auch heute noch von Könnern gelegentlich erfolgreich angewandt; dazu sage ich nichts – oder doch nur dieses: daß man damit in die Nähe der Überlegungen kommt, die mich bewogen haben, das noch immer leuchtkräftige Wort wie eine Lampe über der Szene aufzuhängen, auf der wir heute abend einmal vernehmlich – nicht an uns! – sondern an den politischen Dichter Georg Büchner erinnern wollen, den seine Zeitgenossen – während sie seine Dramen nicht aufführten – zur Flucht aus dem Lande trieben, als er sich einfallen ließ, ihnen einmal deutlicher als in seinen Dichtungen in politischer Prosa seine Wahrheit zu sagen.
Die Akademie zieht daraus nicht den Schluß, daß sie, um das Erbe Büchners zu wahren – dessen Namen sie gleichsam im Wappen trägt –, wilde Revolutionäre züchten müsse. An dem ist es nicht. Wir leben – nach einem barbarischen Rückfall, der mehr als tausend unserer Kollegen Leben oder Gesundheit, Heimat und Existenz gekostet hat – in einer Demokratie. Wir nehmen das, noch bedrückt von bösen Erlebnissen, dankbar zur Kenntnis – wenn uns auch lieber wäre, wir müßten uns nicht allzu oft daran erinnern, daß auch eine Demokratie nur Menschenwerk und deshalb notwendig fehlbar ist. Ein Ideal meinetwegen und also unvollendet, mit einigen entstellenden Schönheitsfehlern – darunter leider auch dem, den gerade eine Dichterakademie nicht leicht nehmen darf: daß die Literatur im Aufbau unseres Staats noch immer nicht die aktionsfähige Gestalt gefunden hat, die sie als Mitarbeiterin am öffentlichen Wirken glaubwürdig machte. Um es konkreter zu sagen: es beunruhigt uns, daß man hierzulande noch immer unfolgsame, ein wenig gegen den Stachel lockende Dichter als »linke Intellektuelle« und »Nihilisten« verdächtig und verächtlich zu machen versucht – ein Zeichen, daß bei uns die Demokratie eine ihrer vordringlichen, auf die Dauer lebensnotwendigen Aufgaben: den Dichter in eine vertretbare Mitverantwortung am Staat hineinwachsen zu lassen, noch gar nicht erkannt hat.
Zugegeben, daß bei uns die Dichter allzulange an den Illusionen eines abgelebten Geniekults – den Attitüden der Bürgerverachtung und selbstgefälligen Vereinsamung – festhielten und so jene Einordnung in die Gesellschaft verzögerten, die ihnen in den westlichen Demokratien längst Rang, Ansehen und Stimme sichert: daß sie also nicht ganz ohne eignes Zutun lange, zu lang Außenseiter unserer Gesellschaft gewesen sind – zu Singvögeln, die uns unterhalten dürfen, denen wir aber sofort die Freundschaft kündigen, wenn sie durch unerbetene und obendrein unverständliche Liedchen ernsthafte Leute beim Regierungsgeschäft stören, dürfen wir sie nicht werden lassen. Der (hoffentlich doch!) fortschreitende demokratische Prozeß hat bessere Verwendung für sie: er bedarf ihrer Mitarbeit.
In dieser Überzeugung gibt unsere Akademie, die ja nicht nur die schöne Aufgabe hat, mehr oder minder abgeschlossene dichterische Gesamtwerke zu ehren, sondern auch die verantwortliche, neue fruchtbare Ansätze unseres literarischen Lebens durch Weisung zu stützen, heute abend den Büchner-Preis an einen jungen Dichter und Gesellschaftskritiker.
Hans Magnus Enzensberger, Jahrgang 1929, der jüngste aller Büchner-Preis-Träger, lebt seit Jahren im Bewußtsein der deutschsprachigen Öffentlichkeit als der Sprecher einer jungen Generation, die (seit etwa 1950) eine Welle »zorniger junger Männer« über die westliche Welt geschickt hat: als eine zunächst in ihren Umrissen klare, in Gesinnung und Begabung beständige Figur; wesentlich ausgewiesen durch die Gedichtbücher »Verteidigung der Wölfe« (1957) und »Landessprache« (1960), die schon jenes Dutzend vollkommener Stücke enthalten, das gemeinhin den Eintritt in die Geschichte unserer Literatur sichert – und die zwischendurch geschriebenen, 1962 unter dem Titel »Einzelheiten« gesammelten gesellschaftskritischen Essays – gestochene Prosa eines souveränen Dialektikers.
Schon die bestimmenden Stichworte seines Werdegangs: Dolmetscher und Barmann während der Vorbereitung zum Abitur; Studium an verschiedenen deutschen Universitäten, aber auch an der Pariser Sorbonne; Trampfahrten durch die wesentlichen Länder Europas, Aufenthalte in den USA, Mexiko, Italien und Norwegen; Tätigkeiten als Dramaturg und Schauspieler, Rundfunkredakteur und Lektor in einem Verlag für moderne Literatur, die nicht als Suche nach einer »Lebensstellung« verstanden sein wollen, sondern als informierende Ausbildung zum vielgereisten, polyglotten, in vielen Sparten unseres geistigen Lebens erfahrenen Mann – schon sein Werdegang, sage ich, kennzeichnet ihn als einen Intellektuellen.
Wir verstehen das als Auszeichnung. Die Akademie fühlt die Verpflichtung, ein Wort gegen Schimpfierung zu schützen, das (wenn ich nicht irre) im Dreyfusprozeß für die auf der richtigen Seite kämpfenden Schriftsteller aufgekommen ist und also eine saubere, ja ruhmwürdige Vergangenheit hat; es steht uns für eine honorige Gruppe, die sich klar und mit Bedeutung in unserem literarischen Leben abhebt: als freischwebende Intelligenz, gekennzeichnet durch die spürbare Ungeduld, mit der sie schon ihre Ausbildung betreibt, ein etwaiges Hochschul-Studium nicht für einen beamteten oder freien akademischen Beruf nützt, vielmehr oft genug die Universität ohne Prädikat und sichernde Examenspapiere verläßt, um möglichst bald an die geistige Front zu kommen: brennend aktive Geister, die, von ihrem Unabhängigkeitssinn getrieben, als Kritiker, Publizisten, freie Schriftsteller oder im wechselnden Dienst bei Zeitungen, Verlagen, Funkredaktionen usw. – als Vortrupp des freien Wortes und Fortschritts wirken.
Als persönliche Note Enzensbergers zeichnen wir – abgesehen von seiner überragenden Intelligenz und der Kraft und Treffsicherheit seiner Sprache – in das allgemeine Bild des Intellektuellen etwas bürgerlich Ordentliches in Arbeit und Lebensart (er hat seinen Doktor mit Auszeichnung gemacht), bedachte Genauigkeit, Folgerichtigkeit und Zielstrebigkeit. Davon zeugen zunächst die Essays, die er als freier Schriftsteller (seit einiger Zeit auf einer Insel im Oslo-Fjord ansässig) mit sprachlicher Brillanz und Genauigkeit schrieb – einer eher wissenschaftlichen Exaktheit, gegen die nicht spricht, daß ihn der Elan einer These, wie das ja auch dem Wissenschaftler einmal geschieht, über sein Ziel hinausträgt. Dieses Ziel heißt Aufhellung des menschlichen Bewußtseins als eines gesellschaftlichen Produkts. Als solches hat es Karl Marx schon erkannt, aber erst in den hundert Jahren seit seinem Tod hat die gesellschaftliche Vermittlung von Bewußtsein, wie sie nun von der Schule bis zur Zeitung, Illustrierten, Funk, Fernsehen usw. betrieben wird, industrielles Ausmaß angenommen. Enzensberger spricht deshalb von Bewußtseins-Industrie und fächert ihren weiten Themenkreis in einzelnen Untersuchungen auf: in Essays über eine bedeutende Tageszeitung (Journalismus als Eiertanz), ein Nachrichtenmagazin (Die Sprache des Spiegels), die Taschenbuch-Produktion (Bildung als Konsumgut), die Wochenschauen (Scherbenwelt), einen Versandhaus-Katalog (Plebiszit der Verbraucher) – Versuche, uns die Augen zu öffnen über die rapid zunehmende Macht dieser Bewußtsein schaffenden Industrie, in der er die eigentliche Schlüsselindustrie des 20. Jahrhunderts sieht.
»Einzelheiten« überschreibt er diese Sammlung von Essays, in genauer Bezeichnung dessen, worauf es ihm ankommt: es ist sein Votum gegen unseren Hang, die großen Zusammenhänge und weiteren Hintergründe gern zu studieren und über die viel weniger harmlosen »Einzelheiten« im Vordergrund hinwegzusehen – ja es geradezu für nicht anständig zu halten, ausdrücklich auf sie hinzudeuten. Enzensberger fürchtet diese Tabus eines falschen Anstands nicht: nicht in seinen Essays, wo er (wie wir gesehen haben) gezwungen ist, nicht nur an realen, sondern weithin sichtbaren Erscheinungen unserer Gesellschaft zu exemplifizieren – erst recht nicht in seinen Gedichten, in denen er seiner Erfahrung folgt: »Wer allzu rasch und allzu gern aufs Allgemeine zu sprechen kommt, ist immer verdächtig, den Widerstand des Besonderen und Konkreten zu scheuen.« Damit trennt er sich von den meisten unserer zornigen Männer, die es gern bei dem großen, ganz allgemeinen Unbehagen belassen, das ja auch der Bürger in diesem Wohlstand der Technisierung oder viel mehr in der Unsicherheit dieses Wohlstands fühlt – das er freilich nicht artikulieren kann, auch nicht zu artikulieren braucht. Das ist das Geschäft des Dichters: das nur erst Gefühlige und Unbehagliche, nur erst Angedachte durchzudenken und das aus Scheu oder falschem Anstand Nichtlokalisierte zu benennen. Es verdrießt uns, wenn er – mit dem Anspruch des Kritikers – nur herumnörgelt, seine Umwelt oder gleich die ganze Welt »nicht akzeptiert« (wie man sagt) und sich mißvergnügt ins eigne Innere oder ins pythisch chiffrierte Esoterische zurückzieht, wo er doch niemand trifft und nichts bewirkt – und wir schlagen uns zu Enzensberger, der uns zwar gelegentlich unsere Wunden mit Salz einreibt, aber nie im unklaren läßt, was oder wen er meint.
Ob man ihn einen politischen Dichter nennen soll, stehe dahin: wenn schon, dann in einem weiteren Sinn als dem bei uns geläufigen. Jedenfalls sucht er bei keiner Partei, keiner Kirche, keiner Ideologie Rückendeckung; er ficht allein, aber am Ernst seiner Kritik zweifle man nicht. Das kündigt er an: »mein Land, ich schone dicht nicht« und schärfer, wieder an Deutschland: »da bleibe ich jetzt, ich hadere, aber ich weiche nicht« – und sein Hader ist, wie man an der Emotion, die Enzensberger wie eine Wolke aus frenetischer Zustimmung und schäumender Empörung umgibt, unschwer feststellt – von schneidender Wirkung.
Die erzielt man nicht mit der altdeutschen Waffe und der immer noch beliebten Pose des Stürmers und Drängers. Enzensberger weiß, daß sie längst stumpf ist und selbst bei denen, die sie erschrecken oder verletzen möchte, nicht mehr bewirkt als Amüsement oder Langeweile – er wühlt nicht im Chaotischen und haut seine Sache nicht – egal wie – herunter, schreibt nicht dick mit dem Streichholz wie ein Genie, sondern gestochen und geistgekühlt mit der spitzen Feder des bewußten Künstlers.
Es ist einigermaßen verblüffend, einen Engagierten, der doch auf Wirkung aus sein muß, als den Schüler jener erlaucht einsamen Reihe der poetae docti zu sehen, die sich von dem Hellenisten Kallimachos, über Horaz, Poe, Baudelaire, Mallarmé, Valéry und Ezra Pound als schmales Rinnsal durch die Landschaften der europäischen Dichtung schlängelt. Wie konsequent er gelernt hat, zeigt er in seinem Essay »Die Entstehung eines Gedichts« – einer (ganz und gar Enzensbergerschen) Parallele zu Poes »Philosophy of composition«. Da führt er uns, gleichsam unter einem Leitsatz Paul Valérys: »Der erste Vers eines Gedichts wird dem Autor geschenkt; den zweiten muß er bereits selber machen« – von den ersten Notizen, mit allen poetologischen Überlegungen, von Entwurf zu Entwurf, von Vers zu Vers, bis zu den Erwägungen der Überschrift. Dem Inhalt nach müßte sie »An Alle« heißen, aber das erscheint ihm als ein »lauter, bellender und undeutlicher« Titel. »Ich greife deshalb (sagt er) eine Phrase auf, die man zuweilen auf Postwurfsendungen und Massendrucksachen liest, mit denen dem Empfänger eine Seifenmarke, ein Weg zum ewigen Leben oder ein Abgeordneter empfohlen wird, und setze sie über das Gedicht. Mein Titel lautet: an alle Fernsprechteilnehmer«. Andere ähnliche Titel: »bitte einsteigen, türen schließen« oder »aussicht auf amortisation«. Damit trennt sich Enzensberger von den orthodoxen Artisten, von denen er gelernt hat, um das anzuwenden, was er gelernt hat. Wo jene ein faszinierendes, mondänes, schön-geheimnisvolles Wort wählen, greift er in den nüchternsten Alltag, denn sein Gedicht soll kein sich selbst genügendes vollendetes kleines Kunstwerk, sondern ein »Gebrauchsgegenstand« sein. Verblüffen, den Leser sicher in den Sog seines Gedichts ziehn, das will auch er: wenn nicht schon mit der Überschrift, so mit der ersten Zeile, etwa: soll der geier Vergißmeinnicht fressen? oder: kauft geigerzähler und alte meister oder in den toten hemden ruhn die blinden hunde.
Ich habe Ihnen schon gesagt, daß Enzensberger diese ersten (sehr Enzensbergerschen) Zeilen nur als Geschenk gelten läßt, aber wie man ein Gedicht dazu macht, im genauen Sinn des Wortes macht – das weiß er, kennt die poetologische Technik in jedem Griff: Evokation und Provokation, Montage, das ins Parodische verschobene Zitat (unehrerbietig nach Hölderlin: stiftet lieber, was bleibet, die dummheit), Kuppelung weit auseinanderliegender Wörter politruks und päpste), er hat nicht umsonst in seinem »Museum der modernen Poesie« (1960) von 350 europäischen Dichtern 350 zwischen 1910 und 1945 erschienene Gedichte aus 15 Sprachen übersetzt oder übersetzen lassen und ihre poetische Technik studiert.

»Er montiert ein Gedicht telegrammschalter null uhr zwölf

es beginnt:

mi dulce amor
auf dem formular
nach Göteborg 40 pfennig das wort
mit allen tröstungen unsrer religion
sanft entschlafen

es endet:

= LX DEUIL = unser schmuckblatt
für trauerfälle, geschäft und geburt
bote bezahlt, hier gilt allein
die harte poetik fester tarife:
condensare! an der verschmierten wand
fasse dich kurz – tod, vertanes herz,
faß dich kurz, klartext bitte:
mi dulce amor«

Hier ist ein Virtuose am Werk, der nicht nur wie ein poetisierender Rastelli mit den Bruchstücken unseres zerfetzten Bewußtseins jongliert, sondern im Kauderwelsch aus Gefühl, Geschäft und bürokratischer Nüchternheit das makabre Pathos unserer Welt einfängt.
Ich führe Ihnen ein zweites, anders montiertes Gedicht vor, bildzeitung überschrieben, abrechnend mit dem Leser dieses bemerkenswerten Produkts unserer Bewußtseinsindustrie: in drei Strophen baut es, mit Einblendungen aus der Märchenfolklore, die Vorbereitung für den zuschlagenden Abgesang auf. Ich skelettiere die eigentliche Montage:

1.du wirst reich sein
markenstecher uhrenkleber:
wenn der mittelstürmer will
... tischlein deck dich:
du wirst reich sein.

2.manitypistin stenoküre
du wirst schön sein:
wenn der produzent will...
mißgewählter wechselbalg
eselin streck dich:
du wirst schön sein.

3.sozialvieh stimmenpartner
du wirst stark sein:
wenn der präsident will...
gibt doch zunder, gib doch gas
knüppel aus dem sack:
du wirst stark sein.

Abgesang:


auch du auch du auch du
wirst langsam eingehn
an lohnstreifen und lügen
... möge die erde dir leicht sein
wie das leichentuch
aus rotation und betrug
das du dir täglich kaufst
in das du dich täglich wickelst.

Der Dichter spricht zu uns von dem, was uns angeht. Wenn er es für nötig hält, drückt er uns den Stachel seiner Kritik ins Fleisch, da wo es wund und faul ist, so tief, wie es ihm die Gewalt seiner Sprache erlaubt. Wir weichen aus, wenn wir ihn einen Bösnickel nennen, der uns aus purer Lust am Wehtun züchtigt, statt zu versuchen, ihn wirklich – auch menschlich wirklich – zu verstehen. – Wer nicht schon aus den Bruchstücken seines Gedichts

»Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer:
wer näht denn dem general
den blutstreif an seine hose? wer
zerlegt vor dem Wucherer den kapaun?
...
gelobt sein die räuber: ihr,
einladend zur Vergewaltigung,
... zerrissen wollt ihr werden, ihr
ändert die weit nicht.«

wer, sage ich, in diesen Anklagen gegen die allzu Unterwürfigen, vor der Macht Kuschenden – in der Ironie die Enttäuschung, im Hohn die Verzweiflung nicht fühlt, nicht spürt, daß er gleichwohl mit dem Herzen bei den Unterworfenen ist, der versteht Enzensberger nicht; versteht ihn nicht einmal hier, wo es so leicht ist. Er sollte sich prüfen, ob er nicht noch einen Schritt weitergehn und dem Dichter – wozu hätten wir ihn sonst! – zugestehn muß, daß er das Recht hat, uns sehr im Ernst sehr bittere Wahrheiten zu sagen.
Auch über unser Land, über sein Land, dessen Sprache er so unübertrefflich handhabt:

»Deutschland
von dem ich nichts wissen will, musterland,
mördergrube, in die ich herzlich geworfen bin
bei halbwegs lebendigem leib.«

Wer will, darf sich trösten mit den herrlichen Versen an sein Land:

»das ich gegründethabemitmeinen augen,
das ich mit meinen heutigen händen halte,
mein land, mein sterbliches land,
leuchtend von meiner freude.«

Aber als Widerruf seines Grimms darf man diese Verse nicht nehmen. Jenes gilt und dieses gilt auch. Es sind verschiedene Aspekte. Aber nicht zwei Enzensberger! Ein Mißverständnis geht um, als gäbe es einen Enzensberger, der mißliebige Objekte wie ein bissiger Hofhund angeht, und einen anderen, der – nachdem er sich ausgetobt – bezaubernd schöne Gedichte schreibt: jenen nennt man den zornigen Realisten (auch noch anders, aber das hat mit literarischer Beurteilung nichts zu tun), diesen (wenn man ihm wohlwill) den romantischen Träumer und Glücksucher.
Es gibt bei ihm diese »freundlichen und traurigen« Gedichte, wie er sie selber neben den bösen nennt: sie sind zahlreich genug; ich nenne nur drei: schläferung: laß mich heut nacht in der gitarre schlafen...; ein Liebesgedicht: Befragung zur mitternacht: wo, die meine hand hält, verweilst du?...; Erinnerung an den tod (des Freundes): alkibiades mein spießgeselle bist du lange fort... mit dem unvergleichlichen Schluß:

»sonst bin ich alt und lächelnd wie ein kieseistein
und warte gern auf die uns forttut
auf die sanfte welle
alkibiades
alkibiades mein spießgeselle.«

Sie sind schlechthin schön, nicht wenige vollendet – aber »romantisch« dürfte man sie nur in der flauen Phraseologie des platten Alltags nennen, denn es halbiert Enzensberger, der ein Ganzer ist und in Prosa und Gedichten, Kunst und Geist wie alle poetae docti in eine ganz andere als romantische Richtung weist. Die Erben der Romantik bergen sich heute in ontologischen Stollen und esoterischen Chiffren, – weitab von den Menschen zu denen Enzensberger zurückgekehrt ist, selbst im Zorn uns näher als jene, mit neuen Augen und neuer Sprache, in eine diesseitige, reale Welt. In seiner einfachen, zuchtvollen, luziden Prosa, und in seinen knappen, gebändigten Versen und konkreten Metaphern – viel eher denn ein Romantiker – ein Lateiner: mit seinem eminenten Kunstverstand und seinem Glauben an die unverächtliche Arbeit des artistischen Dichters (den labor lmprobus), des dichtenden Handwerkers, viril unpathetisch und unsentimental – ein Zögling des Horaz. Ein neuer Dichter, auf den wir – als ein hoffnungsvolles Korrektiv mancher Verwirrung – mit der vernehmlichsten Stimme, die uns zur Verfügung steht: mit dem Büchnerpreis – weisen.