Georg-Büchner-Preis

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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Satzung

Präambel

Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.

§ 1

Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.

§2

Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.

§3

Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.

Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.

§4

Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.

Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.

Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.

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Preisträger 2024

Georg-Büchner-Preis 2024 an Oswald Egger

Mit Oswald Egger zeichnet die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung einen Schriftsteller aus, der seit seiner ersten Veröffentlichung im Jahre 1993 die Grenzen der Literaturproduktion überschreitet und erweitert. Er arbeitet an einem Werkkontinuum, das Sprache als Bewegung, als Klang, als Textur, als Bild, als Performance begreift...

Der Preis wird am 2. November 2024 im Staatstheater Darmstadt verliehen. Die Veranstaltung ist öffentlich. Eintrittskarten können über das Staatstheater Darmstadt erworben werden. Der Vorverkauf beginnt circa 3 Wochen vorher. Wir informieren Sie gern über unseren Newsletter.

Mehr Informationen

Die Jury wird gebildet aus dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und je einem Vertreter, einer Vertreterin des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme.

Aktuelle Besetzung des Erweiterten Präsidiums: Ingo Schulze, Rita Franceschini, Olga Martynova, Lothar Müller, Lukas Bärfuss, Maja Haderlap, Felicitas Hoppe, Joachim Kalka, Daniela Strigl, Michael Walter.

Günter Grass

Schriftsteller
Geboren 16.10.1927
Gestorben 13.4.2015
Homepage

... für sein Werk in Lyrik und Prosa worin er kühn, weitausgreifend und kritisch das Leben unserer Zeit darstellt und gestaltet.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Hanns W. Eppelsheimer
Friedrich Bischoff, Kasimir Edschmid (Ehrenpräsident), Richard Gerlach, Karl Krolow, Wilhelm Lehmann, Fritz Martini, Gerhart Pohl, Dolf Sternberger, Gerhard Storz und W E. Süskind, Fritz Usinger

Laudatio von Kasimir Edschmid
Schriftsteller und Journalist, geboren 1890

Das Wort Laudatio bedeutet, verehrte Freunde und Gegner, im allgemeinen eine Lobpreisung. Das sollte man einem Manne wie Grass nicht antun, denn es wäre, so absurd es klingen mag, eine Verkleinerung. Man soll nur totalitär von seinem Werk reden, zu dem ja auch seine Fehler oder Irrtümer gehören. Jedoch, nur nebenbei, denn sie gehören zu seinem œuvre wie seine Vorzüge.
Ich sage dies Ihnen, verehrter Herr Günter Grass, gleich am Anfang, denn ich gehöre zu den Bewunderern dessen, was die Meute Ihnen gemeinhin vorwirft – bis fast ins Detail, auch wenn ich diese Details der Harmonie des Ganzen oft nicht entsprechend finde. Ich verwechsele dabei nicht Ihre Popularität mit der Qualität des Geschriebenen. Das sind verschiedene Aspekte und haben nichts miteinander zu tun. Aber ich möchte betonen, daß ich die Angriffe auf Ihre Bücher zum Teil beschämend niedrig fixiert und die Gestalten Ihrer Feinde und deren Taktik erbärmlich finde. Andererseits distanziere ich mich gern von gewissen Hymnen, die Ihnen dargebracht werden und die ich für Automatenmusik halte.
Jedenfalls, Sie sind ein Autor ungewohnter und ungewöhnlicher Art und Sie werden, zumal angesichts des Spektakels, den Sie in der Literatur angerichtet haben, zu lächeln wissen über die Motive Ihrer Widersacher und über das, was sie Ihnen als schöpferische oder besser als Erfolgs-Motive genüßlich unterstellen.
Ich bin sicher, Sie werden das mit derselben Ruhe hinnehmen, mit der Sie etwa in der »Blechtrommel« sagen: »Bei all dem Geschrei wirkte beruhigend, daß die Ameisen durch den Einmarsch der russischen Armee sich nicht beeinflussen ließen.« Ein Satz voll scheinbarem Zynismus, aber auch ein Satz von ausgezeichneter Objektivität, wie sie ein Schriftsteller von Rang haben muß.
Sie sind, was mich besonders anrührt, ein Autor unserer Zeit, mit der Wertung unserer Epoche präzis vertraut, mit ihrer besonderen Sprache ausgerüstet, mit Ihrer privaten Einstellung den Personen und dem Schicksal gegenüber, bald kalt, bald warm, jedenfalls im rechten Maß kritisch eingestellt... und ebenso mit der Anwendung der veränderten Sittengesetze und Moralempfindungen durchaus freiheitlich bei der Hand. Mein Gott, und wie freiheitlich! Man nimmt Ihnen das übel, als ob es nicht die Wirklichkeit unserer Jahrzehnte wäre, in der die Kinder klüger als ihre Eltern auftreten und besonders in Sexualibus sich einfallsreicher als pervertierte Greise gerieren... und als ob es nicht Ihre schriftstellerische Aufgabe sei, reale Dinge deutlich zu sagen, statt sie in zierlich verschlungenen Sätzen wie die Ihnen vorausgegangenen neo-klassischen und barocken Romanciers zu umschreiben. Es kommt immer auf die Wahrheit an und nicht auf die sentimentalen Aspekte. Ich finde Sie auch da tapfer, wo Ihre Gegner Sie fäkalisch finden.
Um Himmels Willen, im Jahre 1921 etwa, wagte der Darsteller des »Götz« in Goethes Drama bei einer Aufführung in Reinhardts Großem Schauspielhaus zum ersten Mal die Einladung, die jeder kennt, wörtlich und deutlich herauszuschreien, während man jahrzehntelang sie auf den deutschen Bühnen nur murmelte. Und was die Franzosen mit dem Wort »merde« ausdrücken, das sie als militante Nation gern einem Marschall Napoleons als Erfinder zuschreiben und seither als akademisch stubenrein empfinden, fand erst seit kurzem die Duldung familiärer deutscher Gepflogenheit, und man hört das Wort jetzt, wo man geht und wo man steht – aber es fand keinen Eingang in die bessere Literatur, von der es wie ein rohes Ei behandelt wurde. Für Sie, Günter Grass, sind alle diese Dinge glücklicherweise selbstverständlich geworden. Sie sind ein Feind jeder Heuchelei, übertreiben diese Abneigung gelegentlich allzu stark, was Ihnen freilich von mir aus jedenfalls gern verziehen sei.
Sternheim hat einmal beschrieben, wie Rasputin, der Wundermann der russischen Monarchie (um dessen Allmacht und Prophetengabe deutlich zu machen) Spiegeleier auf dem nackten Bauch einer Großfürstin schlägt. Wenn Sie schildern, wie die Brausepulver auf dem Nabel einer jungen Frau diese und ihren Geliebten entflammen, so empfinde ich das keineswegs als obszön, sondern als Zeichen einer Zeit, die sich auch in der Öffentlichkeit gewandelt hat und ohne Scheu sich kühn und lasterhaft gibt – wenn es nun einmal aufgetragen ist, so und nicht anders zu sein. Kurz: nicht weil es amüsant ist, sondern als Symptom eines Zeitalters, das zwischen Bombenteppichen und Völkerkatastrophen die alten Wege geht, nach denen seit Ewigkeit die Lust dem Tod und sogar weiß Gott das Waldmeisterbrausepulver der erzieherischen Diskussion über Geburtenbeschränkung vorgezogen wird.

Aber um dies nicht zu weit zu treiben: auch Symptome haben ihre metaphysischen Beziehungen, und es kommt schließlich nur darauf an, ob ein Meister oder ein Pfuscher sie ausmalt und schließlich deutet. Das allein entscheidet. Und Sie sind ein Meister.
Ich glaube auch nicht an Ihren Zynismus, sonst wären Sie nicht (ob erfolgreich oder nicht, ist egal) in die aktive Politik gegangen, die immer, zumal in der Opposition, bejahend ist, auch wenn sie angreift. Ich finde auch, daß die Muse, die Sie küssen, und sei die Stelle, an der Sie küssen, auch noch so bizarr, etwas von jenem dauernden Reiz hat, den jede Berührung der Menschen, auch die intimste, sentimentalste und sogar ordinärste, die Menschen auf die Höhe jener Besessenheit treibt, in der sie über sich selbst hinaus wachsen, auch wo die Optik des Lesers nicht mehr mit will. Mag sein. Das Leidenschaftliche zwischen Menschen ist ewig in der Geschichte und wird auch so bleiben, mag es bürgerliche Vorstellungen schockieren oder nicht, mag es naiv sein oder verdorben. Auf ihm steht nun einmal die Welt, auch wenn man es nicht wissen und keineswegs so haben will, und Kriegerdenkmälern, Feldherrn und Diktaturgesetzgebern den vordersten Platz in der Arena der Historie einräumt.
Freilich: Sie haben einen neuen Naturalismus gestartet, der aber keine Tuchberührung hat mit jenem alten, der um 1900 schon verröchelte, aber dennoch seine Verdienste hatte, so falsch und jammervoll er audi zuweilen bewertet wird. Sie folgten einem legitimen Prozeß. Aber Sie taten es im Besitz einer Ausdrucksstärke, daß die Wände knackten. Was man bei Ihnen naturalistisch nennen mag (der Olymp vergebe mir alle diese plakatierenden Schlagworte), war nicht langweilig, sondern es fauchte vor entfesselter Gegenwart, es lag gebrauchsfertig da für Ihre Experimente, es wartete auf die Dynamik wie ein Motor auf den Zündfunken, es war bereit für den Autor, der es fix verwandelte, es auf den Bauch drehte, es wieder umkehrte, es genoß, es verdunkelte und auf den Kopf hieb, wie es ihm beliebte.
Nun, Sie haben Ihre tüchtige Arbeit einfallsreich, phantastisch und überlegen gemacht. Es wird bei Ihnen deutlich, wie sehr sich die Welt in den 50 Jahren seit der Periode der Holz, Schlaf und Hauptmann in der Prosa gewandelt hat. Sie haben Ihren Stil durch Ihre eigene Existenz mitgeschaffen in einer durchlöcherten und bombardierten, genotzüchtigten Welt – was im Ergebnis trotz der viehischen Grausamkeit, die diese Erde beherrschte, doch eine wirkliche Verzauberung darstellt. Das ist sonnenklar für den, der bei gutem Verstand und anständigen Willens ist.
Meine verehrten Anwesenden, ich habe eine Entdeckung gemacht, keine allgemeine, sondern eine für mich allein: den Lyriker Günter Grass. Ich kannte ihn nicht. Kein gütiger Zufall, keine heimtückische Absicht hat mir seine Verse früher gebracht. Obwohl es ja nicht meine Pflicht ist, eher eine mir selbst gestellte naive Aufgabe, die neuen Säuglinge der Literatur schon von der Wiege aus zu begutachten, ist es meine Schuld, daß ich diese ausgezeichneten Verse nicht sah. Als Lyriker haftet Grass mit seinem Griff nach der Wirklichkeit der Dinge wohl im Konkreten, aber er gibt diesem Durchschüsse von Abstraktem, ein merkwürdig surreales Leben, zumal er dadurch die Assoziationen und Beziehungen zwischen der Wirklichkeit und der Imagination glatt und willkürlich vertauscht. Nicht etwa, passen Sie genau auf, spielerisch wie die vielen anderen deutschen Dichter, die das Blasen und Flöten nach dem Krieg gelernt haben und nun gerne das, was Guillaume Apollinaire 1910 schon konnte und praktizierte, zum neuen Kanon einer bereits etwas mumifizierten Nymphe machen.
Grass gleicht vielmehr in der Troubadour-Stellung keinem Ästheten, sondern eher einem Transporteur schwerer Möbel mit enormer Muskulatur, der bei der Arbeit nur hin und wieder austritt, um der Natur Genüge zu tun oder um eine Rose zwischen sein Trikot und seine Haut zu stecken. Er ist in der Mischung von Daseiendem und Illusionärem genau so prägnant wie in den Zeichnungen, die er an seine Gedichte angeschlossen und selbst produziert hat, amüsant und gespenstisch, was man mit einigen Vorbehalten freilich vom ganzen Günter Grass sagen kann. Wohlgemerkt – mit Vorbehalten.
Hier jedenfalls wird eine Originalität der Aussage deutlich, die trotz ihrer Reimlosigkeit von dichterischer Virulenz ist. Sehr anders wie bei vielen Reimlosen, die im Grunde nur Sprichwörter und kluge oder dumme Sentenzen ausgebrütet haben, wenn man die falsche Tarnung der Vers-Stellung auflöst. Hier bei Grass ist aber eine originale dichterische Bildschau lebendig – mit kräftigem Abstand zu den Manieristen und mit guter Nachbarschaft zur echten Dichtung. Hören Sie aus dem Buch mit dem leckeren Titel: »Die Vorzüge der Windhühner«

»Vorsicht, der Wind schlägt in Tüten,
In den Fingerhüten der Schneiderin auch.
Als sie mit Regen, mit ihrer eigenen leisen Fontäne
des Himmels Risse vernähte, halfen ihr Schwalben.«

Ist das nicht ausgezeichnet, auch wenn allerhand im Kosmos hier an die Stelle des anderen gesetzt ist – aber am Ende bevölkern doch die raschen Zickzack-Vögel der Hoffnung den Horizont.
Oder in dem Berlin-Gedicht:

»Wo wo wo
sind die alten Galane geblieben,
wo wilhelminischer Mörtel?
Jahrgänge! Jahrgänge!
Doch Trümmerfrauen sind keine Weinkenner.
Flaute Flaute
schreien die Trümmerfrauen
und lassen den letzten
wundertätigen Ziegelstein
zwischen den Zähnen knirschen.«

Mit diesem rabiaten Geräusch kehrt Grass in die Wirklichkeit zurück.
Also, verehrte Anwesende, hier war jetzt reichlich von dem Lyriker Grass die Rede, nicht weil, wie vielleicht vermutet wird, der Redner dem zentralen Problem, die Höhe und Tiefe seiner Prosa zu messen, aus dem Weg gehen will. Im Gegenteil. Retardierende Momente erhöhen die Spannung. Sie sind auch hier wesentlich, weil diese Gedichte in der Kenntnis der Mitlebenden hinter den Romanen zurückstehen und offenbar außerhalb jenes Teufelskessels, der die literarische Welt genannt wird, zumeist unbekannt sind.
Die Prosabücher nunmehr haben den Namen des Autors in erstaunlicher Weise bekannt gemacht. Die Umstände, die Zeit, ihr Inhalt und ihre umwerfende Gewalt und nicht zuletzt Sie selbst, Herr Grass, haben das Ihre getan, ihre Existenz zur Sensation zu machen. In der Tat, ich kenne seit Kriegsende und noch weiter rückwärts schauend kein Buch, das so sehr wie Ihre »Blechtrommel«, obwohl sie trotz dem ausgezeichneten Schluß 100 Seiten zu lang ist, mit solchem Elan, solcher Lässigkeit, mit fast peinlichem Instinkt für das Epische, mit gleich frischer Selbstverständlichkeit und solch unheimlicher Raffinesse durch einen großzügig infernalischen Einfall, diese Kriegs- und Nachkriegswelt darzustellen weiß, ohne, das ist wichtig, von dem Krieg zentral mehr Aufsehen zu machen, als von irgendeiner anderen, im Grunde banalen oder elementaren Sache.
Das erste, was Ihren Lesern, Herr Grass, auffällt und gerade schon auf den Anfangsseiten, ist nicht nur Ihre Optik, die auch das Minimalste erfaßt, sondern auch vor allem die Ordnung, mit der Sie das Gesehene, Gesagte, in Form Gebrachte aneinanderfügen – dergestalt, daß es schließlich eine riesige Addition wird, ein fast kubistisches Gefüge, in das Sie freilich dann durch ein dynamisches Tempo, das Sie hineintragen, bis ins Dramatische Vordringen und das eben noch roh Addierte durch Kunst regulieren... also über das Massieren der reinen Fakten schließlich im Visionären landen.
Danach also wären Sie zu allem anderen auch noch ein Visionär? Ich bin nicht verrückt genug, solche Titulaturen für Sie zu erfinden, obwohl die Wahrheit gewiß irgendwo hinter dieser Feststellung liegt. Es ist schon so: die Begebenheiten und die Figuren, die Sie lebendig machen, werden mit oder ohne Ihre Absicht zu realen Sinnbildern, statt sich als krampfhaft ins Symbolische hineingedrückte Tatsachen und Gestalten, dem Weltall darzubieten. Alles in allem: In ihren Büchern »Die Blechtrommel«, »Hundejahre« und »Katz und Maus« sind Sie ein kühner Epiker und in dieser Eigenschaft des Preises, der Ihnen heute verliehen wird, würdig und seinen eigentlichen Sinn bestätigend. Ja – aber wie sieht die Umwelt hinter diesem Preis, hinter Ihnen und hinter Ihren Büchern aus?
Ein Vaterland, von dem man nicht weiß, ob es wirklich keine Atomwaffen haben will oder ob es sie nicht heimlich stark begehrt, ein Frankreich, das mit de Gaulle in die Nähe der Diktatur gerückt ist und seine Gaullisten sogar mental nach Deutschland verpflanzt hat, kurz, eine Erdkugel voller Täuschungen von Moskau bis Lissabon und dem Kongo... ein China schließlich, das im letzten halben Jahrhundert eine der drei Weltmächte wurde, jenes früher gemütliche China, von dem mein Onkel mir erzählte, daß, als er es als deutscher Reichstagsabgeordneter besuchte, der Gouverneur einer Provinz ihm liebenswürdig vorgeschlagen hatte, zu seiner Unterhaltung, falls solches ihm gefällig sei, ein paar vielleicht sehr nette und völlig harmlose Leute rasch öffentlich enthaupten zu lassen.
Und Sie kommen dazu noch, Herr Grass, regional und auch mental aus dem Werder, aus Danzig und den Ostgebieten, von denen kaum ein Mensch in Hessen und wohl auch im ganzen Westen eine Ahnung hat, aus einer Landschaft, in der nicht der Rhein, sondern die Weichsel gilt, in der kaschubisch, russisch, polnisch, litauisch und deutsch nebeneinander gesprochen werden... zwischen Flößern und kleinen Geschäftsleuten, Analphabeten und hin und wieder Intellektuellen, zwischen Leuten, die bald »Führer« brüllen, bald wegen Hitler-Beleidigung eingesperrt werden... eine, trotz allem offenbar hübsch geordnete kleine Region in Meeresnähe, die dennoch, unter westlichen Aspekten gesehen, eine völlig unordentliche Welt ist, die aber von Ihnen im Rahmen der Kunst großzügig wieder zusammengesetzt und gegliedert wird. Nicht alles leicht zu fassen also für Menschen des Westens, aber suggestiv fesselnd nicht durch das Thema allein, sondern durch Sie, Herr Grass, denn wenn auch Ihr Ton oft recht vulgär und Ihre Gebärde rüde ist, so ist doch stets ein geheimnisvoller Vorgang vorhanden, hinter dem sich jede Handlung zum Illusionären hin wandelt – wie ja letzthin alles bei Ihnen wie bei jedem guten œuvre harte Tatsächlichkeit und dennoch abstrakt wird.
Ja – und ein zweites auffallendes Moment neben Ihrer Fähigkeit zu addieren und das Resultat schließlich explodieren zu lassen, das ist Ihre Kunst, zweiseitig zu schildern, also ganz und gar objektiv sein zu können. Sie haben keinen Malocchio und keine Voreingenommenheit, ob es sich nun um ein Aal-Essen, um die SA oder die Heilige Jungfrau handelt. Das kommt aus jenem hübschen Einfall, den Sie hatten, nicht nur die Zeugung Ihres Helden in der »Blechtrommel«, der bald als Ich-Person erzählt, bald höchst distanziert als der junge Oskar über sich berichtet, einzigartig originell zu gestalten – sondern diesen Burschen auch zu veranlassen, freiwillig nach drei Jahren sein Wachstum einzustellen, also Zwerg zu bleiben, personell aber über Verstand, Wertungsvermögen (und auch über erotische Fähigkeiten) zu verfügen, von denen die zwei ersten Eigenschaften, über die ich ja allein urteilen kann, Ihnen, seinem Schöpfer im Geiste gleich ist. Diese Oskar-Figur und auch andere Gestalten aus den anderen Büchern ermöglichen es Ihnen ohne Haß, ohne falschen Hurra-Ton, ohne makabres Besserwissen, die Zeit so zu erleben und darzustellen, wie sie ist und nicht wie Sie und andere wünschen, daß sie sei. Das Zeitgeschehen wird dabei durch Sie auf jeder Seite einbezogen, aber so, daß es nicht dominiert, sondern nur nebenbei ein bedauernswertes Symptom bleibt. Sie gönnen, um Gottes Glorie, dem Zwerg Oskar nicht einmal eine Geste des Mitleids und Sie selbst, Herr Grass, begnügen sich mit der achselzuckenden Bemerkung: »Was man nicht alles tut, wenn das Schicksal seinen Auftritt hat.« Und doch bin ich überzeugt, Sie schämen sich um die Menschen, wie Lasalle gesagt hat.
Und da ich gerade dabei bin, von Sachen zu reden, die man gemeinhin ungern in die Kehle bekommt, so möchte ich, damit man nicht meinen möge, hier werde doch eine uniforme Laudatio geliefert, mit Nachdruck sagen, daß das Kapitel »Jesus« in der »Trommel« mir mißlungen scheint, wenn nur unter dem Namen des Jesus von Nazareth eine jugendliche Bande plündernd durch das Kriegsende ziehen soll, um die Anarchie des zerbrechenden Hitlerreiches zu verkörpern. Da alles möglich ist, warum nicht dies? Aber es ist zu billig.
Und auch was Sie angesichts des 20. Juli sagen, wenn dies Ihre persönliche Meinung darstellt, ist keineswegs meines Sinnes. Jedoch Ihre zweiseitige Art, zu sehen und zu urteilen, bringt
Sie im Prinzip in die glückliche Lage, so gerecht wie möglich zu sein.
So plastisch, apart und originell die Unzahl Ihrer Figuren ist, die über die Rampe dahinjagen, sie stoßen jeweils an zwei Seiten an die Weltgeschichte. Eine Gestalt aus den »Hundejahren« zieht nach dem deutschen Westen, um zu »richten« (worunter die Zeitgenossen bestrafen verstehen), schläft dann dort unter der Duldung ihres Mannes, eines Sturmbannführers, der ihm verhaßt sein müßte, mit dessen Frau... und verführt schließlich, wenn ich nicht irre, die Tochter eines anderen »Schuldigen«. Per saldo: irgendwo wird es in diesem Buch in der Praxis schon nicht mehr geglaubt, daß die Menschen dieser Zeit aus »Schuldigen« und »Nichtschuldigen« bestehen.
Wahrlich, hier ist die Epoche, wie sie war, aber nicht so, wie sie nach der Meinung vieler Menschen gewesen sein sollte. Es geht Grass wie Gulliver, der so lange bei noblen Tieren gelebt hatte, daß er bei der Rückkehr ins Menschenreich sofort Selbstmord begehen wollte. Denn Grass als Kriegsgegner weiß, daß eine kluge Regierung selbst den lieben Gott zur Ableistung des Militärdienstes bewegen könnte. Er scheint manchmal ein Fatalist zu sein, aber der Zug der Vogelscheuchen, dieser gigantische Zug von maskenhaften Gestalten über die Deiche hinweg hat doch etwas vom apokalyptischen Atem, wie ihn die bedeutenden Menschenverächter besitzen, obwohl sie irgendwie und irgendwo wahrscheinlich die Menschen lieben.
Ja, meine Damen und Herren, wer kennt sich in den Menschen aus, selbst im Reich des Geistes gibt es nichts Sicheres. Sicher ist nur in dieser Welt: eine Patrone löst sich aus einer Pistole, in der sie steckt, nur auf Wunsch des Schießenden aus, aber nie auf Wunsch der Pistole. Ja, Herr Günter Grass, Sie sind ein Epiker – auch in der Hartnäckigkeit, mit der Sie Ihre Begabung kultivieren. Sie ließen sich eher eine Hand abhacken, als daß Sie sich davon abbringen ließen, über die Art, wie eine Schildkröte beim Salat-Fressen zubeißt, oder über die valutarische Besonderheit des Danziger Guldens genau und weitschweifig zu berichten.
Sie sind ein kenntnisreicher Mann, überall dabei: in der Astronomie, beim Hundedecken, bei Geschichtsdisputationen, bei Rassegesprächen und bei Küchenrezepten. Sie mischen sich in die aktuelle Politik und kennen wahrscheinlich sogar auch ihre Hintergründe. Das alles ist lobenswert. Wir brauchen Männer, die im Getümmel stehen statt solchen in den Elfenbeintürmen, deren wir weiß Gott genug haben. Sie handhaben ausgezeichnet die Kunst der Groteske und befassen sich nicht ganz so ausgezeichnet mit Attacken auf die Industrie, wobei Sie es vorziehen, sich im Scherz von Mehlwürmern beraten zu lassen... was freilich nicht leicht verständlich und wenig überzeugend ist.
Ist das also die Gegenwart? Sie ist es ohne Zweifel, aber glücklicherweise nicht von irgendeinem Spezialisten serviert. Sie, Herr Günter Grass, sind gegen jedes Stückwerk. Sie wollen, was Sie anfassen, stets auch ganz und gar fressen, selbst wenn Ihnen beim Futtern, oder, woran Sie wahrscheinlich gar nicht denken, Ihren Lesern dabei übel wird. Sie bleiben der Ironiker, der auch das Schicksal nicht ganz ernst nimmt. Wie bei der musikalischen Befragung des Führerhundes Prinz, der bei Mozart schweigt, bei Richard Wagner heult wie eine Ziege im Wochenbett, beim Anblick von Hitlers Porträt aber dessen Gesicht ableckt.
Meine verehrten Anwesenden, Freunde und Gegner, wir haben Günter Grass begleitet von Danzig nach Darmstadt, wo fast alle seine Bücher gedruckt worden sind, dank der Pflege seines Verlegers Eduard Reifferscheid. Die Zeit ist um. Wir müssen uns, unsere Laudatio unter dem Arm, verabschieden und ihn selbst endlich zu Wort kommen lassen. Wir haben die schwache Hoffnung, daß ihm diese Laudatio zum Teil gefallen haben möge und daß es uns nicht geht wie dem katholischen Dichter Jorries Charles Huysmans, der eines Tages, besorgt über Anatole Frances Lebenswandel und Unkeuschheit, diesem schrieb: »Verehrter Meister, seien Sie doch bitte mehr um Ihr Seelenheil besorgt« – und dem Anatole France antwortete: »Mein lieber Freund, gehen Sie bitte zum Arzt und lassen Sie Ihren Stuhlgang in Ordnung bringen.«