Georg-Büchner-Preis

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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Satzung

Präambel

Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.

§ 1

Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.

§2

Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.

§3

Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.

Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.

§4

Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.

Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.

Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.

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Golo Mann

Schriftsteller, Historiker und Publizist
Geboren 27.3.1909
Gestorben 7.4.1994
Mitglied seit 1957

Golo Mann, der mit historischer Forschung eine seltene Ausgewogenheit des Urteils und Meisterschaft der Darstellung verbindet.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Gerhard Storz
Friedrich Bischoff, Richard Gerlach, Rudolf Hagelstange, Udo Kollatz (Hessisches Kultusministerium), Karl Krolow, Fritz Martini, Otto Rombach, Horst Rüdiger, Heinz Winfried Sabais (Stadt Darmstadt), Dolf Sternberger, W. E. Süskind

Georg Büchner und die Revolution

Es gebührt sich, daß am Anfang meiner Rede Dank steht; Dank an den Kreis der Akademie, der mir den Georg-Büchner-Preis verliehen hat. Natürlich hat mich diese Ehrung gefreut. Überrascht hat sie mich auch, denn es geschieht ja wohl zum ersten Mal, daß kein Poet, sondern ein trocken historisierender Schriftsteller erwählt wurde. Sind ferner der Träger eines literarischen Preises und die große Gestalt, nach welcher der Preis benannt ist, im allgemeinen inkommensurabel, so scheint mir diesmal der Unterschied, der Abgrund zwischen beiden noch tiefer als gewöhnlich. Büchner war ein Dichtergenie, ich bin nichts weniger als das. Er war ein Kämpfer, ich bin das nicht. Er starb jung, sein Leben war ein kurzer Feuerbrand; ich bin alt. Ich habe viel Theorie gelesen, alte und neue, welches ein indirekter Weg zu den Sachen ist, und oft ein ungeschickter; Büchners Adlerblick richtete sich auf die Sachen selber, direkt und ungelehrt. Er war ein Rebell, setzte das französische »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!« als Motto über sein Pamphlet; ich kann ehrlich nicht sagen, daß ich die wenigen Paläste, alten Stils, die uns einstweilen noch übriggeblieben sind, hasse oder sie als schadenstiftend ansehe. Das mag freilich an den veränderten Zeiten liegen. Büchner meinte die Macht, wenn er »Paläste« sagte, und in unseren alten Schlössern wohnt keine Macht mehr. Jedenfalls ist die Sympathie für die schönen Überreste vergangener Lebensstile keine revolutionäre. Büchner, sagt man uns, war ein Revolutionär.

War er das wirklich? Mit dem ersten Blick, mit dem Blick auf den »Hessischen Landboten«, auf ein paar Briefe und überlieferte Gesprächsfetzen, ja. Mit dem zweiten, längeren, nein. Büchner war zu reich in seiner Seele, zu sensitiv, zu spöttisch, zu wissend, zu pessimistisch, zu neurotisch, auch zu lebensfreudig, natur-, berg- und waldfreudig, zu sehr dem Metaphysischen geneigt, als daß er zum Berufsrevolutionär auf die Dauer getaugt hätte. Ein Revolutionär resigniert nicht so schnell, wie er es tat. Ein Revolutionär von Beruf gibt auch in der Verbannung nicht auf, webt an seinen Plänen und Verschwörungen ungebrochen, jahrzehntelang. Nicht so Büchner. Was er blieb, was er wohl auch geblieben wäre, hätte er lang gelebt, war nur dies: ein Rebell. Damit meine ich einen, der keine Achtung vor der Autorität hat, keine vor den Traditionen, keine vor den Anführern der Weltläufte, den »Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte«, wie er sie nennt. Da wäre nun wieder ein Unterschied zwischen Büchner und dem Redner von heute nachmittag. Denn im Gegensatz zu Büchner glaube ich, daß die Paradegäule der Geschichte, zum Guten und Bösen, sehr wohl etwas tun können. Einige von ihnen sind mir lieb, andere nicht, weil in dem Compositum von Nutzen und Schaden, welches die Leistung aller dieser Ecksteher der Geschichte charakterisiert, bei ihnen der Schade, das Schlechte und Menschenfeindliche den Nutzen offenbar überwog. Und nicht zuletzt mag ich die, die durch den Charakter ihrer Sprache, also ihren Charakter schlechthin, den Ereignissen einen Stil gaben. Für Büchner war der Stil der Politik und der Politiker höchst gleichgültig.

Er begann im Zorn, im Ekel vor den sozialen Zuständen seiner Heimat. Das war schon in ihm, ehe er 18jährig nach Straßburg ging, wuchs dort im weiten Raum, in der freieren Luft Frankreichs; kam zum Durchbruch und zur versuchten Tat, als er nach Hessen zurückkehrte. Die Erkenntnis, die er nun entwickelte, und zwar völlig aus sich selbst heraus, ohne theoretisches Rüstzeug, hat er bis zuletzt festgehalten. Idee, Gedanke, Literatur können die Gesellschaft nicht verändern, selbst dann nicht, wenn die Schriftsteller zu Terroristen würden. Gewalt ist gut; ist recht und notwendig gegenüber einem Herrschaftssystem, das selber auf Gewalt beruht. Aber die Massen, nicht die Schriftsteller, müssen sie wollen und müssen die Veränderung wollen, weil der Hunger sie dazu zwingt. Es gibt kein anderes Motiv, stark genug, einen Umsturz der bestehenden Ordnung zu verwirklichen. Diese ihm eigenste These hat er jahrelang wiederholt. 1833: »Ich werde zwar immer meinen Grundsätzen gemäß handeln, habe aber in neuerer Zeit gelernt, daß nur das notwendige Bedürfnis der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann, daß alles Bewegen und Schreien des Einzelnen vergebliches Torenwerk ist. Sie schreiben – man liest sie nicht; sie schreien – man hört sie nicht...« Zwei oder drei Jahre später: »Das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt; der Hunger allein kann die Freiheitsgöttin, und nur ein Moses, der uns die sieben ägyptischen Plagen auf den Hals schickte, könnte ein Messias werden. Mästen Sie die Bauern und die Revolution bekommt die Apoplexie. Ein Huhn im Topf jedes Bauern macht den gallischen Hahn verenden.« Fragmentarisch oder nur annäherungsweise richtig, wie alle Erkenntnisse, welche sich auf die menschliche Situation beziehen, war diese doch neu, zumal in Deutschland, durchbrechend und bahnbrechend. In seinem kommunistischen Manifest hat Büchner sie in die Praxis umzusetzen versucht.

Der »Hessische Landbote« ist in der Geschichte der politischen Schriftstellern Deutschlands zu einer Art von Legende geworden. Mit gutem Grund. Dies aufwiegelnde Zerpflücken des hessischen Sechs-Millionen-Budgets, dies den Bauern zeigen, wohin ihre Steuern gingen, wer sie verpraßte oder brauchte, um die Zahlenden desto sicherer unterdrücken zu können, es war ein geniales Stück Demagogie, vollbracht von einem, der nicht etwa herabstieg, um bei seinen schlichten Lesern sich anzubiedern, sondern beim Schreiben seine ganze literarische Urkraft aufbot. Ich würde mir erlauben, hinzuzufügen, daß sechs Millionen vergleichsweise keine sehr hohe Summe für die Verwaltung des Ländchens war, obgleich sie zweifellos besser hätte verwendet werden können, als etwa für eine Armee von 6000 Mann, mit 25 Generalen. Jedoch schreibt der deutsche Historiker jener Jahre, Veit Valentin, dessen Herz entschieden links schlug, über die Verwaltung des Großherzogtums im ganzen: »Der rheinische Kleinstaat setzte sich durch mittels einer nüchternen, anständig temperierten, am französischen politischen Rationalismus wohl geschulten Staatsregierung... So hatte der preußische Gesandte recht, wenn er das Großherzogtum ›eines der bestverwalteten Länder Deutschlands‹ nannte.« Merkwürdigerweise hat Büchner im Gespräch Ähnliches gesagt. Er hat auch, während er noch alle Fürsten verjagt und ein einiges Reich gegründet sehen wollte, plötzlich Zweifel darüber geäußert, ob ein solches Ein-Reich eigentlich die Menschen glücklicher machen würde. Das heißt, er schwankte, selbst in dieser kurzen, fiebrigen Hoch-Zeit seines politischen Treibens. Er dachte, sah, wußte zu vielerlei. Als die Bauern auf sein Manifest nicht so reagierten, wie er gehofft hatte, verlor er das Interesse an der Sache.

In Deutschland konnte er sich nichts vorstellen, als einen Krieg der vielen Armen gegen die wenigen Reichen, einen eigentlichen Bauernkrieg, geführt von ein paar Studenten, Handwerksburschen, rebellischen Bürgersöhnen, wie er selber einer war; gegen den Adel, gegen das mit dem Adel verbündete oder ihm dienende, vorwiegend bürokratische, akademische Bürgertum. So entsprach es den engen, ländlichen Verhältnissen der frühen dreißiger Jahre. Daß er in einer im Grunde harmlosen, unkriegerisch-zivilisierten Epoche der deutschen Geschichte lebte, konnte Büchner nicht wissen. Keine Generation vergleicht sich im Ernst mit der Vergangenheit; mit der Zukunft kann sie es ohnehin nicht.

Das Erstaunlichste, im politischen wie im künstlerisch produktiven Leben Büchners scheint mir, was folgte. Als er in jenen Wintermonaten des Jahres 1835 in Darmstadt saß, ein Privatgefangener im Haus seines Vaters, ständig gewärtig der Verhaftung, von der er wußte, daß er sie nicht aushalten würde, daß sie ihn in Verzweiflung und Wahnsinn treiben würde, und als er nun in seiner Not zu dichten begann, war es kein Gedicht sozialen Protestes, was zustande kam; keine »Räuber«, keine »Luise Millerin«, zu welch letzterem Sujet der Hof zu Darmstadt sich wohl auch wenig eignete. »Dantons Tod« ist ja nicht eine Verherrlichung der Revolution, nichts weniger als das, und ist auch keine Verneinung. Es ist ein Drama vom Wirklichen, vom Unvermeidlichen, und unvermeidlich Düsteren, Blutigen, Gemeinen, Verrückten. Für Georg Büchner, in der höchsten Angst seiner schon gebrochenen Aufwiegler-Existenz, stellten die Alternativen, revolutionär und konservativ, sich nicht mehr. Ebenso sinnlos war ihm die Frage, ob die Revolution gut war oder ungut, ob sie sich hätte vermeiden lassen, ob sie dann und dann hätte anders gelenkt, gemäßigt, beendet werden können oder sollen. Das ist kein Tendenzstück. Den gültigen Kommentar gab der Dichter selber, lange ehe er an die Arbeit ging. »Ich studierte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, allen und keinem verliehen. Der einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genius ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich.« Das ist die Lehre des Dramas, insofern es etwas lehren will.

Hat es aber keine Tendenz, so hat es doch Wirkung. Auf den Leser, der heute zu Ihnen sprechen darf, hat es von jeher eine dem Prinzip der Revolution nicht vorteilhafte Wirkung gehabt. Wie anders? Der Held ist ja der revolutionsmüde Danton, der vollblütige, korrupte, ganz menschliche Danton, der nicht mehr glaubt, daß die Welt durch irgendein Mittel besser gemacht werden könnte als sie ist, weil sie fehlerhaft angelegt wurde von Anfang. Danton hat unsere Sympathie, weil der Dichter ihn so meint. Die Gegenhelden stoßen ab: der sadistische, das Volk und sich selbst belügende, in seinen hellsten Momenten aber sich selber nicht belügende Tugend-Schulmeister Robespierre, Saint Just, der den Massenmord als bloßes Naturgeschehen mit grausamem Sophismus rechtfertigt. Büchner antwortet, daß sie durchaus nicht abstoßen sollten, daß er sie nur so auf die Bühne stellte, wie sie waren, und treu sich an die Dokumente hielt. Es kommt aber darauf an, wie man die Dokumente arrangiert.

Wir wissen nicht, was Büchner geworden wäre, wenn er gelebt hätte, ein bedeutender Naturforscher, ein Mehrer seines literarischen Werkes oder beides. Eines aber wage ich zu behaupten: für die Revolution, für die Politik überhaupt war der Dichter von »Dantons Tod« verloren. Wer das »Volk« so sah, in seiner wetterwendischen Narretei, seiner Leichtgläubigkeit, seiner Dummheit und Obszönität, wer die Handelnden so sah, konnte selbst kein Handelnder mehr sein. Praktisch hat Büchner in seinen kurzen zwei Straßburger und Zürcher Emigrationsjahren auf alle Politik verzichtet, ein Entschluß, in dem das Treiben seiner Schicksalsgenossen ihn bestärkte. Er hatte sich geirrt und gestand es ein: in Deutschland war eine Revolution für wenige denkende, hochfliegende Menschen wohl wünschbar, die Situation dafür, die reale Möglichkeit aber nicht gegeben, kein Sinn darin, sich für ein Phantom zu opfern, und nur tiefes Mitleid am Platze für jene, die es trotzdem taten.

Er starb so jung, seine bleibenden Schöpfungen drängen sich in so unglaublich kurzer Zeit zusammen, daß er elf Jahre nach seinem Entschwinden, 1848, immer noch ein junger Mann gewesen wäre. Hätte er da wieder mitgemacht? Ich glaube es nicht, und zwar aus folgenden Gründen. Er hatte einen scharfen Sinn für Macht; ihn hatte er sich dank seines einzigen, gescheiterten politischen Experiments erworben. Darum hätte er schnell verstanden, daß die Unternehmen der Herwegh und Hecker so unpraktisch waren, wie sein eigenes gewesen war; daß die alten Monarchien mit ihren Beamten und Bauernsoldaten stärker sein würden, als die Rhetoren der Paulskirche. Und für eben die, für die liberale Bourgeoisie, für politisierende Schriftsteller und Professoren ohne Schwert fühlte er geringe Hochachtung. Es ist also plausibel, daß er ruhig in seiner republikanischen Schweiz geblieben wäre, die er in wenigen Monaten lieben gelernt hatte. Man mag dergleichen Spekulationen als müßig verwerfen. Immerhin könnte ich mich auf seinen Bruder Wilhelm berufen, der, wieder dreißig Jahre später, 1878, von Georg schrieb: »Er würde kein Nationalliberaler geworden sein, so wenig wie ich es heute bin.« Sicher, er wäre kein Nationalliberaler geworden. Von dem neuesten Paradegaul der Geschichte, Bismarck, hätte er sich so wenig imponieren lassen wie von älteren; er hätte den Lug des Hohenzollern-Glanzes durchschaut, wie er die liberale Komödie des französischen Bürgerkönigtums durchschaute. Der keinen Respekt vor der Autorität hatte, hatte auch keinen vor der Autorität des Erfolges, und wenn es unter deutschen Dichtern einen gab, der sich nichts vormachen ließ, so war es Büchner.

Ist sein Leben exemplarisch in dem Sinn, daß man den jungen Leuten von heute empfehlen sollte, es nachzuahmen? Kaum. Ich kann ja jungen Revolutionären nicht raten, sich aufs Dichten zu verlegen; ich kann ihnen auch nicht raten, im politischen Kampf so schnell zu resignieren wie er. Ihn zu lesen würde ich ihnen allerdings raten. Aus einer Erfahrung, so intensiv und aus dem Grunde redlich wie der Erfahrung Büchners lernt man, obgleich nicht genau zu sagen ist, was. Man lernt, sich menschlicher Wirklichkeit näher zu denken.

Von einem tschechischen Philosophen unserer Tage geht das Wort um, man müsse entweder Aufklärer oder Hegelianer sein. Büchner war ein Aufklärer; so warf er sich auf die Wissenschaft, welche vor ihm und in seiner Zeit die par excellence aufklärerische war. Wie er zu Hegel stand, darüber berichtete ein Freund: »Das Bewußtsein des erworbenen geistigen Fonds drängte ihn fortwährend zu einer unerbittlichen Kritik dessen, was in der menschlichen Gesellschaft oder Philosophie oder Kunst Alleinberechtigung beanspruchte oder erlistete. Daher sein vernichtender, manchmal übermütiger Hohn über Taschenspielerkünste Hegelischer Dialektik und Begriffsformulationen...«

Nun kann man Revolution aus zwei Ursprüngen heraus machen wollen, dem aufklärerischen oder dem hegelianischen. Revolution aus Aufklärung wäre dies: Menschliche Zustände besser machen zu wollen als sie sind, zumal da, wo sie schmachvoll und unerträglich sind, und sie besser machen zu wollen durch Gewalt, wenn kein anderes Mittel mehr taugt. Die Gewalt ist hier Nebensache: das Ziel nicht nur materielle Wohlfahrt, soziale Gerechtigkeit, sondern Autonomie des Menschen, Freiheit von Herrschaft, Furcht, Aberglauben. Was an diesem Ziel Illusion, was Möglichkeit ist, will ich nicht zu ermessen versuchen: Ohne Illusionen hat ein harter Realist, Wax Weber, geschrieben, werde auf Erden gar nichts Großes erreicht.

Revolution im Hegeischen Geist, will sagen, im Geist seiner revolutionären Schüler und Schülersschüler, wäre dies: den Umsturz der Gesellschaft überall herbeizuführen aus Kenntnis des einzigen weltgeschichtlichen Gesetzes heraus, damit es sich erfülle. Zwischen beiden revolutionären Motiven, dem aufklärerischen und dem hegelianischen, besteht ein unüberbrückbarer Gegensatz. Der größte, treueste Aufklärer unseres Jahrhunderts, und ein Revolutionär auf seine Art, Bertrand Russell, hat über Lenin geschrieben: »Lenin hielt sich für einen Atheisten; darin täuschte er sich aber. Er glaubte, die Welt werde von der Dialektik beherrscht und er sei ihr Werkzeug; genau wie Gladstone sah er sich als das menschliche Werkzeug einer übermenschlichen Macht.« – So der Aufklärer über den Hegelianer.

Der Begriff der Revolution, so wie wir ihn seit bald 200 Jahren haben, stammt aus dem Frankreich der 1790iger Jahre. Vorher hatte es dergleichen niemals gegeben. »Revolutionen« in der Mehrzahl wohl; aber jeder Sturz eines Günstlings wurde so genannt. Auch Büchner stand unter dem Eindruck des ungeheuren französischen Lehrgangs, wobei er, untheoretisch wie er war, den Widerspruch zwischen Frankreichs radikaler Bürger-Revolution, den republikanischen Verfassungen, den Menschenrechten auf der einen Seite, dem primitiven Bauernsozialismus seines »Landboten« nicht durchschaute. Es mußten geschultere Denker kommen, um ihn zu durchschauen; es mußte dafür auch, und das geschah ja schon zehn Jahre nach Büchners Tod, eine Ökonomie am Horizont erscheinen, die nicht mehr ländlich war. Seither hat es mit der Sache der Revolution eine sonderbare Entwicklung genommen.

Politische und soziale Ideen sind an sich alles und gar nichts. Etwas werden sie nur, indem sie sich mit einem anderen verbinden, das nicht aus Ideenstoff gemacht ist: mit Individuen, Völkern, Staaten, gesellschaftlichen Mächten, die ihrerseits geschichtlich sind, die geronnene Vergangenheit sind und von sich selber, von ihrer Vergangenheit nicht loskommen, sie mögen es so radikal anstellen, wie sie wollen. In dieser Verbindung wird die ursprüngliche Idee sich bis zur Unkenntlichkeit verändern. Aus der Geschichte geboren, wird sie von ihr wieder eingeholt und eingeschlungen.

Die radikale französische Demokratie wurde binnen wenigen Jahren zum Imperium, das andere Völker dreist beherrschte und ausbeutete; das wurde sie lange, bevor Napoleon die Zügel ergriff. »Die Grundsätze sind für die Schulen, das Interesse ist für den Staat«, wie ein geistiges Oberhaupt der Jakobiner formulierte. Was in Deutschland nach langen Irrungen herauskam, war die tiefstehende Wirklichkeit des Hohenzollernreiches und der Nationalliberalen. Man besaß nun die wesentlichsten bürgerlich-revolutionären Errungenschaften, aber besaß sie ohne Kampf, durch einen Vergleich mit der alten monarchisch-feudalen Obrigkeit. Im Zeichen dieses Paktes wurde selbst die am stärksten emanzipatorische Kraft, die Wissenschaft, zum Lakaien der Macht degradiert. Im späten 19., im frühen 20. Jahrhundert hat nicht die Revolution Europas Schicksale bestimmt, sondern die Welt der nationalen Machtstaaten. Sie standen im Zeichen, nicht der Revolution, sondern des Krieges. Die Kriege, die sie gegeneinander führten und die ökonomisch völlig sinnlos waren, haben uns dahin gebracht, wo wir heute sind. Ohne sie, ohne den militärischen Zusammenbruch von 1917, wäre auch die russische Revolution nicht gekommen, jedenfalls nicht damals und in dieser Form. Der deutsche Machtstaat hat sie ermöglicht, durch seine militärischen Siege wie auch durch seine Geheimdiplomatie, die sich bewußt in den Dienst der Revolution stellte. Der Glaube, wonach Macht und Machthaber einer untrüglichen Vernunft folgen, der Glaube an die sogenannte Staatsraison ist ein Aberglaube wie ein anderer. Meistens handeln Machthaber irrig, überschlau, nervös, dumm und blind, selbst vom Standpunkt ihres eigenen Interesses aus geurteilt. Büchner: »Die Dummheit gehört zu den allgemeinen Eigenschaften der menschlichen Dinge...«

Das gedankliche Vermächtnis der Revolution wurde zunächst monopolisiert von einem, der noch im Reich der Ideen hauste, einem Philosophen, Marx. Das war an sich schon eine nicht vorgesehene, irrationale Entwicklung; das Testament der Aufklärung geriet in das Gefängnis eines dogmatischen Lehrgebäudes, in welchem einige für ihre Zeit, selbst noch für unsere Zeit treffende und tiefe Gedanken nisteten, das aber als Ganzes genommen abergläubische Wirkung tat. Durch dies scharfe Gedankenbad muß gegangen sein, wer über Geschichte und menschliche Situation mitreden will; man ignoriert es zu seinem Schaden; Schaden nimmt meiner Überzeugung nach auch, wer nicht wieder herauskommt. Was folgte, war noch sonderbarer und unvorhersehbarer. Marx wurde seinerseits monopolisiert von Lenin, der eine Philosophie in ein Instrument zur Machteroberung, zum Ausmanövrieren der Konkurrenten verwandelte. Seitdem hört sie auf den unschönen Namen Marxismus-Leninismus.

Lenin war Russe, viel mehr als er es sein wollte, denn er wollte ja wohl ehrlicherweise Kosmopolit sein. Es kam hier auf seinen Willen nicht an. Als Russe, und nachdem er seine Revolution in Rußland gemacht hatte, mußte er sich russischen Wirklichkeiten anbequemen. Seine Nachfolger haben das dann unvergleichlich kräftiger getan; so gerade heraus, wie jener jakobinische Philosoph, den ich eben zitierte.

Durch das 19. Jahrhundert hindurch war Rußland für die europäische Linke ein Hauptgegenstand des Hasses. Büchner: »Wenn aber die Russen über die Oder gehen, dann nehm ich den Schießprügel...« Ganz ähnlich haben Marx, Engels, Bebel geschrieben; ähnlich hat Thomas Masaryk gedacht.

Der müßte blinder und dümmer als gewöhnlich sein, der die Leistung der bolschewistischen Parteiherrschaft, der die tiefen Veränderungen bestritte. Trotz allem ist in dem russischen Imperium manches übriggeblieben oder wieder auferstanden von dem, was es vor hundert Jahren zum Gegenstand des Hasses der europäischen Linken, zum Hort der Könige machte. Die Gleichsetzung von »Proletariat« und »Volk«, von »Partei« und »Proletariat«, von »Partei« und »Parteiführung«, von Volk, Proletariat, Partei und Parteiführung mit einem einzigen Tyrannen oder, seit dessen Tod, mit einem Kreis von Machthabern, hat in einer neuen, ungleich zeitgemäßeren und wirkungsvolleren Form des Zarismus geendet. Eine kleine Gruppe von Geheimnisträgern entscheidet nach ihrem Belieben, was Marxismus-Leninismus denn jeweils sei, entscheidet über das Schicksal ganzer Nationen und folgt dabei dem, was man Staatsraison nennt. In solcher Anordnung die »Herrschaft der Arbeiterklasse« zu sehen, ist unter den vielen Tragikomödien der Irrungen, welche die Geschichte bietet, eine der wunderlichsten; ein ungeheurer Betrug. Den Betrug zu durchschauen wäre von Nutzen für jene, die sich an ihrem Ort in einer ernsthaft revolutionären Situation befinden. Im übrigen werden die großen Mächte in absehbarer Zeit bleiben, was sie sind, sie haben die Macht dazu. Daß wir in einer gefährlichen Welt leben, ohne jeden Vergleich gefährlicher als die Welt Georg Büchners war, daß unsere Bequemlichkeiten und Freiheiten unter dem unsicheren Schutz des Schreckensgleichgewichtes existieren, unter dem Schutz »dieser krankhaften Angst vor den Nuklearwaffen«, wie ein Kandidat für die amerikanische Vizepräsidentschaft es unlängst taufte, in einem toten, von den Hauptkampfhähnen einstweilen ausgesparten Winkel, diese Tatsache hat etwas tief Beschämendes; es gehört aber zur intellektuellen Redlichkeit, sie zu sehen, wie sie ist.

In den Gegenden, in denen und für die der Begriff der Revolution zuerst geprägt wurde, in Westeuropa, in Deutschland und dann in Amerika, haben die Dinge wieder einen anderen, unvorhersehbaren Verlauf genommen. Vereinfachend nach dem Worte Büchners könnte man sagen, daß es das Huhn im Topf jedes Bauern war, durch welches die Revolution die Apoplexie bekam. Das wäre an sich durchaus kein Unglück. Es ist aber die Wirklichkeit mit Schlacken behaftet, welche die Utopie nicht kennt. Wie konservativ nicht nur die amerikanische Arbeiterschaft geworden ist, auch wie geneigt zur Brutalität gegen Minderheiten, die noch im Elend sind, wie versucht von einer amerikanischen Spielart des Faschismus, dafür erleben wir jetzt melancholische Zeichen. Über der Wohlstandsgesellschaft, gegen die Inseln der Not, die im Meer des Wohlstandes schwimmen, steht auch dort der militärische Machtstaat und Polizeistaat in Dimensionen, die jeden geschichtlichen Vergleiches spotten.

Es gibt Rebellen drüben in Amerika; es gibt gesellschaftskritische, auch eigentlich revolutionäre Zeitschriften, und sie scheinen mir besser geschrieben als die bei uns. Sie haben von Marx gelernt, was von ihm zu lernen ist, aber erheben nicht den Anspruch dogmatischer Allwissenheit, sie befassen sich viel genauer mit der Realität am Orte selber. Ein bescheidener Erfolg ist ihnen, ist ihren Anhängern kürzlich zuteil geworden. Sie waren es, die den gegenwärtigen Präsidenten zwangen, sich vorzeitig in den wohlverdienten Ruhestand zurückzuziehen; aber dieser Erfolg scheint ein Pyrrhus-Sieg gewesen zu sein. Im Großen gilt für die amerikanischen Rebellen das Wort Büchners: »Sie schreiben – aber man liest sie nicht; sie schreien – aber man hört sie nicht...« Sie haben die ungeheure Masse nicht nur des Staates, sondern der Gesellschaft gegen sich. Der demokratische Prozeß – wenn man dies Wort auf eine so tief heruntergekommene Sache anwenden darf – der demokratische Prozeß findet eben jetzt so statt, als ob es sie nicht gäbe. Wie sehr ich meine Augen anstrenge, ich kann eine revolutionäre Möglichkeit in den Vereinigten Staaten nicht erkennen. Verfall könnte ich mir mit einiger Phantasie vorstellen, ja selbst Zerfall in ein Bündel von Tyranneien, nicht im nächsten Jahr, aber in den nächsten Jahrzehnten. Revolution im klassischen Sinn des Wortes nie mehr.

Trotz alle dem eben Berührten geht das Wort wieder um, ist Revolution in den Köpfen unserer Jugend, ungefähr wie 1834, wenn auch unter gründlich verschiedenen Bedingungen. Damals war die deutsche Gesellschaft zu ländlich, zu arm, zu undicht für eine Revolution französischen Stils; heute ist sie zu produktiv. Damals wurden aus einem fortgeschritteneren Lande, Frankreich, Begriffe hereingetragen, die nicht paßten. Das ging bei den jungen Leuten bis zur Kleidung:


»Ein schlanker, großer junger Mann

Geziert mit roter Jakobiner-Mütze

Im Polen-Rock, schritt stolz er durch die Straßen...«


wie Wilhelm Büchner später über seinen Bruder dichtete. Heute kommen die revolutionären Begriffe, auch wohl Moden, aus Ländern, die aus genau entgegengesetztem Grunde einen Vergleich mit Deutschland nicht erlauben. Solche Übertragungen aus der Fremde können fruchtbar sein; es kommt darauf an, wie man es macht. Ich würde mich über den rebellischen Geist in der deutschen Jugend freuen, obgleich von weitem, und tatsächlich freue ich mich über sehr vieles, was ich sehe und erfahre. Von den in den vierziger Jahren Geborenen könnte man, wie von Georg Büchner, sagen, daß sie sich nichts vormachen lassen. Ihr Lebens-, Zeit- und Zukunftsgefühl muß völlig anders sein als das meiner Generation. Sie haben keine Achtung mehr vor falscher, nur formaler Autorität und lieben die großen Gesten nicht, bis zum Zynismus; Zynismus ist besser als Heuchelei. Wenn aber die Staatsraison der Mächtigen arrogant, dumm und blind ist, so gilt Ähnliches mitunter auch für das Wesen der Rebellen und Ohnmächtigen. Es ist zum Beispiel ein hochmütiges, volksfremdes Ziel, die sogenannte Konsumgesellschaft als solche zerstören zu wollen. 100, 150 Jahre lang war es die große Anklage der europäischen Linken, daß die Leute nicht genug zu konsumieren hätten. Büchner: »Der materielle Druck, unter welchem ein großer Teil Deutschlands liegt, ist ebenso traurig und schimpflich als der geistige; und es ist in meinen Augen bei weitem nicht so betrübend, daß dieser oder jener Liberale seine Gedanken nicht drucken lassen darf, als daß viele tausend Familien nicht imstande sind, ihre Kartoffeln zu schmälzen.« Heute sind sie dazu imstand, bildlich gesprochen. Wenn ich aber an dem kleinen Ort am Bodensee, wo ich manchmal wohne, die jungen Handwerker und Arbeiter samstags und sonntags mit ihren schmucken Segelbooten auf See gehen sehe, so kann ich mit dem besten Willen nichts Schändliches darin finden; auch dann nicht, wenn der Nachbar, oder wenn Reklame sie zu dem Sport angeregt haben sollte. Die Frage, wo Anreiz zum Konsum sich überschlägt, wo er gemein wird, wo mehr gesellschaftlicher Reichtum für das Allgemeinwohl abgezweigt werden muß, ist eine unendlich vielschichtige und dringende, eine Zentralfrage unserer Zeit; kaum ein Gegenstand revolutionären Protestes. Revolution aus ihren klassischen Ursachen heraus ist eine Sache. Revolution aus schierem Ärger darüber, daß die klassischen Ursachen fehlen, wäre eine andere, in den Geschichtsbüchern bisher nicht zu findende. Was die Übertragung von Techniken des Widerstandes aus den Vereinigten Staaten betrifft, so ist zu sagen, daß aus den und den Gründen die Brutalisierung der Gesellschaft in Deutschland das Ausmaß, das in Amerika gilt, bei weitem nicht erreicht hat. Allerdings könnte man es mit der Zeit bekommen, wenn man es unbedingt haben will, dergleichen ist potentiell immer da. Ich würde den Vorteil nicht einsehen. Sollte der Zweck nur sein, die Bundesrepublik zu »entlarven«, dann würde ich meinen, sie bleibt besser unentlarvt.

Unter den Äußerungen radikaler deutscher Jugend, die ich kürzlich hörte, hat mich am tiefsten die betroffen, die sich auf die Tschechoslowakei bezog und die ungefähr so lautete: »Ein paar sozialdemokratische Idioten, die vielleicht etwas für ihre idiotischen Bundesgenossen, die Schriftsteller, tun wollten, aber nichts für die Arbeiter und Bauern.« Vor soviel Arroganz und Ignoranz graust mir. Übrigens war der junge Mann, der jene Bemerkung machte, natürlich weder Arbeiter noch Bauer. Ein Intellektueller war er, und ein schlechter Intellektueller, der, ehe er etwas gelernt hat, schon alles zu wissen glaubt.

Ich habe erwähnt, daß Büchner nicht an die revolutionäre Macht der Literatur glaubte, sondern sich Bewegung allein von den elementaren Bedürfnissen der Massen erwartete. Die Geschichte der Tschechen und Slowaken in jenen acht denkwürdigen Monaten, Januar bis August 1968, könnte seine Ansicht zu widerlegen scheinen. Schriftsteller und Professoren haben, wie wir wissen, den Prager Frühling vorbereiten helfen; die deutlichsten Eindrücke, die wir auf seiner Höhe hier draußen empfingen, kamen von der Publizistik. Je mehr man sich aber nachträglich in diese glorreiche Geschichte vertieft, desto klarer sieht man, wie hier, für einmal, protestierende und wollende Literatur sich im Einklang mit dem Großteil der Nation, der beiden Nationen befand, wie sie aufgestaute Bitternisse und Wünsche artikulierte, so daß ihre Wirkung uns keine Rätsel aufgibt. Es scheint auch, daß die neue Parteileitung den Schriftstellern bewußt freies Spiel gab, die Schleusen, hinter denen Kritik und Wahrheit eingedämmt gewesen waren, bewußt öffnete, um so den Widerstand des alten Regimes loszuwerden. Ferner ist in der Geschichte der tschechoslowakischen Erneuerung das wirtschaftliche Problem ein mitentscheidendes gewesen. Daß die Ökonomie stalinscher Prägung am Ende war, wußte man längst; Reformversuche wurden längst gemacht; sie scheiterten am alten Zentralismus und Bürokratismus. Die Parteileitung gab im Frühling volle Gedankenfreiheit, um ihren eigenen reaktionären Flügel zu überspielen; sie tat es auch, weil sie verstanden hatte, daß Freiheit unteilbar ist und im ökonomischen Bereich, also Arbeit für menschliche Bedürfnisse anstatt für den Selbstzweck schwerindustrieller Expansion, nicht sein kann, wenn sie nicht auch im geistigen Bereich ist. Materielle, politische, geistige, moralische Motive haben zusammengewirkt.

Dieser Vortrag begann mit einer bescheidenen, unreifen, aber edel gemeinten Verschwörung, die sich mit dem Namen Büchner verbindet. Er möge enden mit einem Wort über die Kette von Ereignissen in unserem Nachbarland, die uns alle mit Kummer erfüllen. Nie, in unserer Zeit, ist ein ernsterer Versuch gemacht worden, das, was mit einem Modewort die Entfremdung heißt, zu überwinden: Entfremdung zwischen den Berufsklassen, den Generationen, den Nationalitäten, Entfremdung zwischen Denken und Wirklichkeit, Entfremdung der Macht. Man mag diesen Versuch sehr wohl wissenschaftlich nennen; Ökonomen,

Soziologen, Psychologen haben ihn durchdenken helfen. Aber er war nicht allwissend, nicht totalitär, und lenkte zurück zu dem, was von den großen Traditionen der tschechischen Geschichte lebendig und brauchbar ist. Wenn alle Dokumente, von denen wir bisher nur einen Teil in deutscher Sprache haben, einmal beisammen sind, so möchten sie wohl ein Grundbuch über die großen Fragen ergeben, wie eine industrielle und wissenschaftliche Gesellschaft am glücklichsten einzurichten sei. Indem man sie, allmählich und endlich, in den Genuß der heute möglichen materiellen Annehmlichkeiten bringen wollte, kannte man die Gefahren eines künstlich übersteigerten Privatkonsums sehr gut; sehr genau die Infamie zu Gewinnzwecken ausgebeuteter Sensationen. Auf diesem Weg war die Tschechoslowakei nicht. Beide Seiten, Parteiführer und Volk, blieben sozialistisch in dem Sinn, daß sie nicht im Traum daran dachten, das Privateigentum an den Produktionsmitteln wieder herzustellen; ein Prinzip, das man auf Marx und Lenin gründen kann, obgleich es notfalls auch ohne ginge. Im übrigen glaubten sie sich frei, über ihre Spielart des Sozialismus zu bestimmen.

Das war ihr Irrtum. Ein Irrtum nicht über die eigene Nation, ihren guten Geist, ihre Möglichkeiten, sondern über die schieren Machtverhältnisse auf Erden. Es wäre ungerecht, diesen Irrtum einen typischen Schriftsteller-Irrtum zu nennen. Wohl sind Schriftsteller gewöhnt, das Moment der Macht zu unterschätzen. Selber muß ich mich dessen schuldig bekennen. Vergebens habe ich mich viele Jahre lang mit der Geschichte von Macht und Mächten befaßt, von Thukydides bis in unsere Tage, vergebens habe ich mir das Wort Lord Actons »Power tends to corrupt and absolute power corrupts absolutely« gemerkt und Bücher gelesen, »Die Arroganz der Macht«, »Die Dämonie der Macht« und wie sie heißen. Praktisch, in dieser Gegenwart, habe ich doch nicht geglaubt, daß Macht sich so verhalten würde, wie sie sich dann verhielt, und die meisten unserer tschechischen und slowakischen Kollegen mögen im gleichen Fall sein. Aber ja nicht sie allein. Die erfahrensten Parteileute, die ältesten Kremlkenner, innerhalb der Tschechoslowakei und draußen, jene, die es am ehesten wissen mußten, haben offenbar sich ganz ebenso geirrt. Das Unvernünftige muß man immer fürchten, aber vorausbestimmen konnte man es nicht. Messen wir also der Literatur nicht das vornehmste Verdienst am Prager Frühling bei und nicht die vornehmste Schuld am Jammer des Herbstes. Sie tat ihren Teil, und tat ihn gut. Festzustellen bleibt, daß dieser Versuch einer gewaltlosen sozialistischen Revolution mit dem Ziel freier menschlicher Gemeinschaft nicht an sich selber gescheitert ist, nicht sich als von innen her unstimmig erwiesen hat. Er ist durch fremde Macht erstickt worden.

Meine Damen und Herren, es ist nicht mein Recht, den mir verliehenen Georg-Büchner-Preis auf eigene Faust weiter zu verleihen. Jedoch möchte ich die mit dem Preis verbundene Summe der Akademie zur Verfügung stellen, so, daß sie etwa zweien unserer jetzt im Ausland und in Unsicherheit lebenden tschechoslowakischen Kollegen zugute kommen kann. Ein Tropfen auf den heißen Stein, ich weiß es, und ein ganz unpolitischer Tropfen. Wenn wir im Frühjahr uns in die tschechoslowakischen Dinge nicht einzumischen versuchen durften, so dürfen wir es auch heute nicht, heute noch weniger; und ich kann nicht verstehen, warum das, was in der Tschechoslowakei sich an Widerstand gegen den Bedrücker noch zeigt, in Deutschland so gierig an die große Glocke der Presse und des Fernsehens gehängt wird. Es ist doch offenbar, daß wir dadurch nicht helfen. Aber ein kleines Zeichen der Sympathie für jene, die ihren so sehr an die Sprache gebundenen Beruf nun außerhalb ihres Landes zu betreiben gezwungen sind, das glaube ich, dürfen wir geben.