Georg-Büchner-Preis

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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Satzung

Präambel

Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.

§ 1

Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.

§2

Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.

§3

Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.

Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.

§4

Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.

Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.

Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.

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Clemens J. Setz

Geboren 15.11.1982

Mit staunenswerter Vielseitigkeit, mit enzyklopädischem Wissen, mit einem Reichtum der poetischen und sprachschöpferischen Imagination demonstriert Clemens J. Setz eine radikale Zeitgenossenschaft...

Jurymitglieder
Ernst Osterkamp, Ursula Bredel, Michael Hagner, Monika Rinck, Lukas Bärfuss, Elisabeth Edl, Maja Haderlap, Ilma Rakusa, Marisa Siguan und Stefan Weidner sowie je ein Vertreter der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Landes Hessen und der Stadt Darmstadt

Laudatio von Ijoma Mangold
Literaturkritiker, geboren 1971

Das literarische Metaversum

Geschätzte Akademie, verehrter Preisträger, sehr geehrte Damen und Herren,

darf ich mit einer Frage beginnen, auf die ich selber keine Antwort habe, die aber trotzdem keine rhetorische ist? Was heißt es, Reise nach Jerusalem zu spielen, wenn es genau so viele Stühle wie Spieler gibt?

Wenn ich zu lange darüber nachdenke, beginnt der Boden unter den Füßen zu schwanken. Deshalb besser nicht zu lange darüber nachdenken, sondern schnell zu dem Schluss kommen: Dann ist das Spiel natürlich sinnlos. Es sei denn, man hat eine sehr radikale Vorstellung von Inklusion – wie Dr. Rudolph in Clemens Setz‘ Roman „Indigo“.
In „Indigo“ lernen wir die Internatsschule Helianau kennen, in der Kinder leben, die am sogenannten Indigo-Syndrom leiden, man nennt sie I-Kinder, sprachlich weniger sensible Zeitgenossen sagen auch: Dingos. Der Mathematik-Lehrer Clemens Setz, Hauptfigur von „Indigo“, bitte nicht verwechseln mit unserem Preisträger, zuckt immer zusammen, wenn er den Ausdruck „Dingo“ hört. Heute wüsste jeder, dass so eine Ausdrucksweise „ableistisch“ ist, aber zum Entstehungszeitraum des Romans gehörte dieser Begriff noch nicht zum Standard-Vokabular.

Indigo-Kinder leiden an einer grausamen Disposition: Wer sich ihnen nähert, wird von Übelkeit, Schwindel und Kopfweh befallen. Sie haben eine ungesunde Aura, eine kontaminierende Ausstrahlung. Da man sich von ihnen fernhalten muss, leben sie in radikaler Isolation. Besonders grauenvoll ist das für die Eltern von Dingos: Sie müssen ihr natürliches Nähe-Bedürfnis unterdrücken.

Sie sehen: Mag die Welt auch ein schlimmer Ort sein, voll Unglück, Leiden und Ungerechtigkeiten aller Art – die fiesesten Krankheiten denken sich noch immer die Schriftsteller aus. Verglichen mit der Art seelisch-körperlicher Einzelhaft, zu der die Indigo-Kinder verdammt sind, erscheinen einem die Social Distancing-Maßnahmen, die wir seit Corona kennen, harmlos und sanft.

Nun, besagter Dr. Rudolph vom Internat Helianau arbeitet nicht nur mit Dingos, sondern allgemein mit Kindern, die von der Norm abweichen, zum Beispiel auch mit Kindern mit Down-Syndrom. Die Psychologin Häusler-Zinnbret war dabei, als Dr. Rudolph mit diesen Reise nach Jerusalem spielte, und sie sieht die Therapiemethoden ihres Kollegen kritisch. Dem Mathematiklehrer Clemens Setz, der über Helianau recherchiert, berichtet sie: „..die Kinder sind im Kreis gelaufen und dann: bumm!, haben sie sich hingesetzt. Und dann haben sie sich gegenseitig angeschaut, als wollten sie sagen: Und was hat das jetzt für einen Sinn? Aber Dr. Rudolphs Theorie war, dass niemand ausgeschlossen werden darf, erst recht nicht das langsamste Kind. Keine Gewinner, keine Verlierer. Naja, wie gesagt, ein Fanatiker.“

Man könnte auch sagen: einfach eine andere Spielanleitung. Und auch die Bücher von Clemens J. Setzkommen mir oft wie Experimente vor, die herausfinden wollen, was man an Erkenntnis gewinnt, wenn man die Spielanleitung des Lebens und Lesens auf scheinbar „sinnlos“ umstellt. Dass ihm das auf eine verblüffend selbstverständliche Art gelingt, mag auch damit zu tun haben, dass Clemens Setz Synästhetiker ist: Farben haben für ihn einen Klang, Wörter eine meteorologische Atmosphäre. Und Gefühle eine ästhetische Außenseite. Für den Synästhetiker hat alles eine zusätzliche Sinn-Dimension, die aber gerade nicht die der Semantik ist. In Clemens Setz‘ Selbstauskunftsbuch „Bot – Gespräch ohne Autor“ steht der Satz: „Ich bin ein Synästhet, der selbst Demütigungen in verschiedenen Farben erlebt.“ Wenn Emotionen ein Farbspektrum aufmachen, dann sind sie jedenfalls etwas anderes, als sich der bürgerliche Roman unter einem tiefempfundenen Gefühl vorstellte.

Für Natalie aus „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ (schon der Titel eine unwiderstehliche Vermischung der Kategorien von Raum und Zeit) fühlt sich das Wort Molch so an, als könnte es perfekt das Habitat für Molche sein: „In Molch hätten ohne weiteres Molche einziehen und leben können.“

Vielleicht sind Worte gar nicht so sehr Sinnträger als Räume, durch die wir uns bewegen?

Sie, verehrte Akademie, haben es bestimmt schon mitbekommen: Facebook heißt jetzt Meta. Metaverse ist das nächste große Ding. Sollten Sie Tik Tok verpasst haben, ist es für das Metaverse noch nicht zu spät. Das Metaverse ist eine Art virtuelles Paralleluniversum, in dem sie Immobilien erwerben können, die sie mit einem Krypto-Token bezahlen, in dem es Gucci-Handtaschen gibt, die mehr kosten als jene, die man sich physisch um den Arm hängen kann, in dem sie Computerspiele spielen, bei denen sie im Erfolgsfalle in einer Währung bezahlt werden, mit der sie dann wiederum jene Gucci-Taschen kaufen können. Naja, für uns Fiktionsprofis eigentlich nicht ungewöhnlich. Warum erzähle ich Ihnen vom Metaverse? Weil ich den Eindruck habe, dass Clemens J. Setz‘ Werk so eine Art literarisches Metaversum ist, in dem es darum geht, mitzuspielen, ohne aus kulturellem Dünkel auf die Rechenleistung von Computern zu verzichten. Die Grafik-Karte als poetische Chiffre. Ich möchte nämlich behaupten: Die Akademie hat in diesem Jahr einen Autor ausgezeichnet, dessen Werk sich maximal weit von der traditionellen Buchkultur und ihren Lektürepraktiken entfernt und neuen medialen Repräsentationsformen geöffnet hat. Nicht nur, weil Setz ein extrem Technologie-affiner Schriftsteller ist, nicht nur, weil er ein großer Kenner der Science-Fiction-Literatur ist, nicht nur weil er über Jahre bewiesen hat, dass Herablassung gegenüber Twitter spießig und es produktiver ist, die strenge Form der 140-Zeichen zu nutzen, um darin Gedichte zu schaffen. Sondern weil mir seine Bücher oft vorkommen, als würden sie wie Computerspiele funktionieren, wie Aufforderungen, die Gedankenexperimente der Romanwelt regelgerecht nachzuspielen.

Natalie, besagte Hauptfigur aus der „Stunde zwischen Frau und Gitarre“, ist mit ihren exzentrischen Zeitvertreiben geradezu eine Spielaufforderung an den Leser. Warum nicht mal mit dem eigenen Partner das Non-Sequitur-Spiel nachspielen, das Natalie mit ihrem Freund als Intimitätsritual zelebriert? Dabei geht es darum, in einem Dialog jeweils nur Sätze zu sagen, die in keinem sinnvollen Anschlussverhältnis zu dem vorausgegangenen Satz stehen. Also strenge Regelbefolgung als Verfahren, Semantik auszuschließen. Und ist nicht eigentlich jedes Liebesgeflüster über Semantik erhaben? Aber ich möchte nicht zu poetisch werden. Ein anderer Zeitvertreib von Natalie besteht darin (nur für Fortgeschrittene), dass sie fremden Männern nachts in einer Unterführung Blow-Jobs anbietet und dabei die Geräusche und Gespräche mit ihrem iPhone aufzeichnet, um daraus später Klang-Collagen zu mischen, die sie sich dann als Podcast anhört.

Oder sie gibt allen Objekten, denen sie auf dem Weg zu ihrer Arbeit begegnet, Namen, und am nächsten Tag überprüft sie, an welche Namen sie sich noch erinnert: Ah, Pitt, die automatische Tür am Spar-Supermarkt! Oder sie stellt ihren Fernseher und ihren Laptop auf die selbe Live-Übertragung ein: „Durch die Verzögerung des Internetstreams kam es zu einer angenehmen Verdoppelung der Geräusche und Äußerungen, zu einem Echo. Das Zimmer wurde dadurch noch etwas räumlicher als sonst.“

In der Schlussphase ihrer Beziehung zu Markus schlägt sie diesem anspruchsvolle Kommunikationsspiele vor, um den Alltag etwas aufzupeppen. „Sie schlug ihm vor, eine von vier Drogen in leichter Dosierung zu nehmen, Psilocybin-Pilze, MDMA, Cannabiskekse oder Amphetamine, und ihr unter der Wirkung einen Liebesbrief zu schreiben, und sie müsste raten, welche Droge aus ihm sprach.“ Nicht mehr die Seele soll sprechen, sondern die Neurochemie.

Auch der Avatar im Computerspiel hat keine Seele, und Clemens J. Setz‘ literarisches Metaversum ist ein großes antipsychologisches Experiment – was in einer Epoche der Großrenaissance des psychologisch-realistischen Romans etwas Ungewöhnliches darstellt. Als kybernetisch informierter Autor beschreibt er die Psyche seiner Figuren gerne als Funktion von Wenn-Dann-Bedingungen: „Wenn einem Blitzen kein hörbarer Donner folgte, hatte Robert immer das Gefühl, sich räuspern zu müssen.“

Man könnte auch sagen: Diese Figuren hätten in einem Turing-Test gute Chancen, als Maschine durchzugehen. Während im klassischen Turing-Test es darum geht, dass ein Computer simulieren kann, ein Mensch zu sein, ist es der Ehrgeiz der Setz’schen Erzählperspektive, dass ein Mensch simulieren kann, wie eine Maschine zu funktionieren. Kein Zufall, dass Setz selbst in dem bereits erwähnten Buch die Selbstauskunft an einen Autor-Bot delegiert hat.

Während die Literatur traditionellerweise im unverfügbaren poetischen Wort die irreduzible Unverwechselbarkeit des künstlerischen Subjekts feiert, scheint es der Ehrgeiz der Setz’schen Gedankenexperimente zu sein, auch dem Maschinenwesen ein Maximum an Empathie entgegenzubringen.

In seinem Erzählungsband „Der Trost runder Dinge“ gibt es die Erzählung „Das Schulfoto“. Da sitzt Herr Preissner der Schuldirektorin seiner Tochter gegenüber. Es scheint ein Problem zu geben, das mit einem Klassenfoto zu tun hat, das Herr Preissner nun doch nicht haben will. Die Direktorin hat einen Verdacht: Er will es nicht haben, weil auf diesem Gruppenfoto auch der Mitschüler Daniel abgebildet ist – und Daniel ist, wie im Lauf der Erzählung immer klarer wird, nun, wie soll man sagen: eine irgendwie kistenförmige Entität, kein Mensch aus Fleisch und Blut, eher ein Apparat. Mit dieser radikalen Alteritätserfahrung scheint Herr Preissner ein Problem zu haben. „Ich weiß“, versucht die in alle Richtungen einfühlsame Direktorin den Herrn Preissner zu beruhigen, „dass es ein ungewohnter Anblick ist. Aber Ihre Jessica zum Beispiel, die sieht den Apparat jeden Tag. Sie lernt, mit solchen Differenzen im Alltag umzugehen. Dafür sind Integrationsklassen da.“

Doch trotz gutem Willen fühlt sich Herr Preissner überfordert: „Okay, es enthält .... Irgendwie ... ein Kind, das auch beim Unterricht mitmachen kann, solang es da drin ist und solang man das Ding nicht aus-...“ Er bricht erschöpft ab. Beim letzten Schulausflug, fährt er dann fort, sei dieser Apparat, der noch nicht mal einen „Blick“ habe, sondern eher wie eine Steckdose aussehe, den Hügel runtergekullert und habe dabei immer stärker vibriert. Und an dieser Stelle sucht Herr Preissner nach einem Vergleich, und er kommt auf diese Waschmaschinen, die jetzt überall im Internet zu sehen seien, die man mit einem Ziegelstein befüllt, um sie dann in den Schleudergang zu versetzen, was zu ihrer theatralischen Selbstzerlegung führe.

Die Originalität von Literatur kann man auch daran messen, welche ungewöhnlichen Verbindungen sie herstellt. Ich wüsste keinen zweiten deutschsprachigen Autor zu nennen, dessen Bücher dazu führen, dass der Leser plötzlich bei Youtube „Waschmaschine und Ziegelstein“ eingibt, aber ich kann Sie versichern, es lohnt sich, es gibt viele Treffer und es sieht wirklich absolut fantastisch aus, wie diese Waschmaschinen in ihrem physikalischen Furor hin- und herruckeln, nach und nach fallen immer mehr Teile ab, sie kippen um, es beginnt zu rauchen und zu qualmen, und obwohl es völlig klar auf ihre finale Selbstzerlegung hinausläuft, hört die Waschmaschine nicht auf zu schleudern und zu schleudern. Unbeugsame Moral, Auftragserfüllung bis zum Ende.

Ich will diese Waschmaschinen-Videos nicht überinterpretieren, aber in ihrer logischen Spielanordnung scheinen sie mir das Gegenteil zu sein von Reise nach Jerusalem mit ebenso vielen Stühlen wie Spielern.

„Dass das noch ein Kind sein soll...“, seufzt Herr Preissner. Er ist noch ganz in der alten Exklusionslogik befangen: „Ich meine, wenn ich es nicht einmal mehr abends zudecken kann, dann ist es doch kein Kind mehr.“ Die Schuldirektorin: „Er interagiert ... Das ist alles, worauf es ankommt.“

Wie im Behaviorismus geht es um beobachtbares Verhalten. Jeder Mensch ist eine Black Box, wir sehen nur sein Verhalten und müssen von diesem auf Innerpsychisches zurückschließen.

How is it like o be a bat, fragte der Philosoph Thomas Nagel in einem berühmten Text. Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? Die Verschärfung dieser Frage durchzieht das Setz’sche Werk: Wie ist es, ein Apparat zu sein, der zwar an Weihnachten am Krippenspiel teilnimmt, aber wenn er einen Hügel runter kullert, sich benimmt wie eine mit Ziegelsteinen beladene Waschmaschine im Schleudergang?

Man soll die Seelentiefe eines Menschen nicht über- und die einer künstlichen Intelligenz nicht unterschätzen. Der Mensch wähnt sich der Maschine überlegen, weil er sich für unverwechselbar und individuell hält. Das Internet hingegen ist eine Kopiermaschine, Einzigartigkeit und Singularität ist da nicht vorgesehen (zumindest war das bisher so – jetzt ändert sich das gerade im Zeichen von Blockchain und NFTs, also digitaler Einzigartigkeit). Weil Information im digitalen Raum unendlich kopierbar ist, und zwar ohne Kosten, deshalb gibt es das Phänomen Spam-Mail. Wir fühlen uns von Spam-Mail emotional nicht abgeholt, weil Spam-Nachrichten für unser Gefühl zu viele Adressaten gleichförmig behandeln und uns mithin zu wenig mit der Beteuerung unserer Einzigartigkeit schmeicheln.

Dass das kleinherzig sein könnte, davon gibt Setz‘ Erzählung „Spam“ einen Eindruck:

„Lieber Herr Dear/Sir,

es ist mir gekommen zu meiner Aufmerksamkeit, dass Sie nicht mehr in Wien wohnen, die Stadt wo sich wir uns kreuzten vor Jahre her. Dass Sie sich erinnern mich kann ich nicht erwarten, da die Weltgeschichte von geringen Leuten oft es sich zieht ins Bodenlose, aber wenn Sie für einen Augenblick meine Aufmerksamkeit hallo dann ist Ihnen vielleicht getan damit innerhalb des Fegefeuers Aufschub von einigen Jahrhunderten-Skipahead – dies nur zu Scherz.

Mein Name ist Sarah Martingal.“

Und wie Sarah Martingal die Register wechselt, von Eros zu Agape, von Liebe zu Sex, wie sie eingesteht, wie sie sich in ihn verliebt hat, damals, in Wien, wie sie ihn seither immer vor sich sitzen sieht auf dieser Bank, wie es dann, wenn ich das richtig verstehe, sogar zur Zeugung eines Kindes gekommen ist, Daniel heißt er: „So klein, so zart der Kopf ist ein rundes Wunder gewesen von kahler Sanft, träume im Wachzustand, nur Koma ist näher am glücklichen Tod durch Paradies.“ Dank ihrer Beteiligung an einem Militärputsch in Afrika ist sie erfreulicherweise im Besitz eines sehr großen Vermögens, nur die Transaktionsgebühren könne sie bei der Kontoabhebung nicht allein stemmen. Wie viel Lebensmut, wieviel Lebensweisheit, welch Überschwang und welche emotionale Energie sprechen aus Sarah iund kämpfen sich so unverdrossen durch Google-Translate! Man muss schon ein Herz aus Stein haben, um sich von diesem sprachlichen Overkill, dieser poetischen Verschwendung nicht auch ein bisschen gerührt zu zeigen.

Clemens J. Setz ist ein großer Fan des Sci-Fi-Autors Philip K. Dick, in dessen Romanhandlungen, wie Setz an anderer Stzelle schreibt, „ständig irgendwelche künstlichen Wesen ein eigenständiges Leben zu erkämpfen versuchen“. Sarah ist von einem eigenständigen Wesen noch etwas entfernt, aber ein erster Schritt ist schon einmal gemacht.

2016 hat Clemens J. Setz einen TED-Talk in Graz gegeben. Ein bisschen hat er da auch wieder Bot gespielt, in dem er die Genre-Elemente des gut eingeführten Inspirationsformats TED-Talk sehr regelkonform nachgebaut hat. Auch hier wieder: Gehen Sie zu Youtube! In diesem TED-Talk spricht er von seinen Vorbildern und er zeigt das Foto einer Frau mit Namen Renate Fuczik. Sie sei die Sprecherin der österreichischen Zeitansage gewesen: „Beim nächsten Ton ist es 11 Uhr 20 und fünfzig Sekunden - Pieps“. Und auch hier ereignet sich wieder ein typischer Setz-Effekt: Wie nämlich aus einer bizarren Kombination aus Formparodie, Technik-Beschreibung, Maschinen-Fetisch und kühler Traurigkeit etwas entsteht, was ich nicht anders zu benennen wüsste denn als: anrührendes Gefühl.

Setz berichtet, er habe die alte Nummer der Zeit-Ansage erneut gewählt, da sei ihm gesagt worden, sie sei nicht mehr aktuell, er müsse eine neue, deutlich längere Nummer wählen (im Video verzieht Setz an dieser Stelle etwas abgestoßen das Gesicht, als sei die längere Ziffernfolge wieder eine besonders typische Gespürlosigkeit). Und dann dies: Unter der neuen Nummer meldet sich nicht mehr die Stimme von Renate Fuczik, sondern eine professionellere (wieder verzieht Setz das Gesicht), vor allem aber viel erotischere Stimme. „Ich war tief beleidigt, entsetzt. Ich fühlte mich entkernt und entleert.“ Denn als er vier, fünf Jahre alt gewesen sei, habe er immer dieser alte Nummer gewählt, wenn er nachts allein zu Hause zurückgelassen worden sei, weil seine Mutter in irgendwelchen Kneipen nach seinem Vater gesucht habe.

Wir neigen dazu, Algorithmus und Individualität, Maschine und Empathie als Oppositionsbegriffe zu betrachten. Setz lehrt uns eines Besseren. Denn er, der immer wirkt, als könne er mit zwölf Bots gleichzeitig Reise nach Jerusalem spielen, ist geradezu ein Extrem-Empathiker. Nichts Nicht-Menschliche ist ihm fremd, keine Abweichung unzugänglich. In „Indigo“ nennt Setz die Glockenkurve der Gauss`schen Normalverteilung einen „Helm, den die Natur trägt, um sich gegen Anomalien zu schützen.“ Setz, könnte man sagen, haut der Natur ihren Helm immer wieder runter und macht sie dadurch verletzlicher. Das Abweichende ist dabei immer zugleich das Kranke und das Perverse, das Vulnerable und das siegreich Selbstbestimmte, das Unkonventioenelle und das Bedürftige.

Pflegeheime im weitesten Sinne sinddeshalb von „Frequenzen“ über „Indigo“ bis zur „Stunde zwischen Frau und Gitarre“ und „Die Bienen und das Unsichtbare“ zentrale Orte des Setz’schen Metaversums. Es sind unheimliche Orte, weil in ihnen Fürsorge und Überwachung, Schutz und Manipulation, Empathie und Entmündigung, Einschluss und Ausschluss seltsam oszillieren. Menschen, die aus der Norm fallen, werden in besonders normierter Regulation gehalten. Aber daraus entstehen Parallelwelten, die dann wieder ihre eigenen Freiheitsgrade hervorbringen und die Unterscheidung zwischen dem Gesunden und dem Perversen kollabieren lassen.

In „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ arbeitet Natalie Reinegger in einem Wohnheim für Behinderte, die hier Klienten genannt werden. Ihr Bezugsklient Alexander Dorm sitzt im Rollstuhl und ist außerdem ein Stalker. Jahrelang hat er einen gewissen Christopher Hollberg mit Liebesbriefen überschüttet, sich an seine Fersen gesetzt, ihn verfolgt und sich in seine Privatsphäre hineingedrängt. Einmal muss es ihm sogar gelungen sein, Passanten davon zu überzeugen, ihn in seinem Rollstuhl so weit in die Höhe zu heben, bis sein Gesicht plötzlich vor dem Fenster der Wohnung von Hollbergs Familie wie eine Geistererscheinung auftauchte. Als eines Tages ein toter Vogel in Hollbergs Wohnung liegt, und alle Spuren weisen auf Dorm als Urheber hin, verzweifelt Hollbergs Frau und bringt sich um. „An dieser Stelle“, und ich zitiere jetzt aus dem Roman, „an dieser Stelle tritt nun her majesty the total fucking weirdness auf.“ Als Herr Dorm nämlich, als Stalker verurteilt, nach der U-Haft in das Wohnheim eingewiesen wird, ist es Hollberg, der ihn regelmäßig besucht. Natürlich ist das völlig krank, findet auch Natalie, aber die Wohnheimleiterin Astrid sieht das anders. Sie spricht von einem „Arrangement“: Es sei eine Chance für Herrn Hollberg, statt auf Rache zu sinnen, mit seinem Schmerz positiv umzugehen. Hollberg selber, zur Rede gestellt, sieht das nicht anders: Dass er Gedichte über Dorm verfasst, in denen er diesen demütigt und verspottet, und dass dieser jene Qualen masochistisch in sich hineinsauge wie süßen Honig, sei eine Win-Win-Situation. Die Co-Abhängigkeit zweier Perversionen als stabile Seitenlage.

Clemens J. Setz‘ zuletzt erschienenes Buch „Die Bienen und das Unsichtbare“ ist eine glanzvolle erzählerisch-essayistische Suche oder „quest“ nach den Gründen, warum Menschen Plansprachen erfinden. Der Impuls ist fast immer der tiefsitzende Verdacht, dass in unseren gewachsenen natürlichen Sprachen eine gefährliche Zweideutigkeit und deshalb Korrumpierbarkeit lauert, die letztlich für die Uneinigkeit und den Unfrieden unter den Menschen verantwortlich ist. Als würde aller Zwist mit einem Missverständnis beginnen. In Blissymbolics gibt es zum Beispiel extra ein Zeichen, das ankündigt, dass das Folgende nicht buchstäblich, sondern figurativ zu verstehen ist. Es ist die Utopie einer Sprache, die vollständig rational ist.

Gleichzeitig sind die Schöpfer dieser Kunstsprachen, ob es Volapük oder Talossisch ist, oft auch menschenscheue Träumer, die sich mit der Erfindung ihrer Sprache in phantasievolle Parallelwelten bewegen, um dem Schmerz dieser Welt zu entkommen.

Wie die Roboter haben auch die Plansprachen keine Vergangenheit. Clemens J. Setz dürfte unter allen Büchnerpreisträgern vermutlich derjenige sein, der am wenigsten von der Vergangenheit zehrt und am meisten auf das Neue und die Zukunft setzt. Nur einmal hat er sich, geradezu zu seiner Überraschung, auf der Seite des Antiquarischen, auf der Seite einer älteren Schriftschicht wiedergefunden. Er hat ja, wenn auch nur rudimentär, Volapük gelernt, diese Plansprache, die der Pfarrer Johann Martin Schleyer seit 1879 geschaffen hat. Auch das Volapük, obwohl es über einen Sprach-Papst verfügt, der die Reinheit des Projekts verteidigt, hat seit seiner Entstehung Wandlungen durchschritten. Und irgendwann begriff Setz, dass er Alt-Volapük gelernt hat. Nun, er nimmt es gelassen: „Aber gut, warum auch nicht Alt-Volapük lernen? Ist schließlich noch toter als Neu-Volapük“

Und dann erinnert er an Isaac Bashevis Singer, der 1978 in seiner Nobelpreis-Bankettrede erklärt hatte, warum er auf Jiddisch, also in einer sterbenden Sprache, schreibe: „Firstly, I like to write ghost stories and nothing fits a ghost better than a dying language. The deader the language the more alive is the ghost.”

„Und Gespenster“, kommentiert Setz, „sind bekanntlich immer eine gute Idee.”

Und fährt fort – und das ist wichtig, weil wir noch keinen vollständigen Begriff von Setz haben, wenn wir nur das Spielerisch-Kybernetische sehen und nicht die Momente von Not und Bedürftigkeit: „Es ist übrigens gut möglich, dass mir gerade das Grimmige-Päpstliche an Schleyer insgeheim sehr gefiel. Mir scheint, ich war damals auf dem Weg zu genau so einer Geisteshaltung. Ich hatte Angst, zu erblinden, ich führte mich tyrannisch oder stalkerisch auf. Ich lag tagelang in dunklen Räumen, ich bellte Befehle, quälte alle Menschen in meinem Umfeld.“

Ich glaube, mit diesen drei Vektoren, Roboter, Gespenst und seelische Pein, lässt sich das Setz’sche Metaverse in voller Dreidimensionalität ausspannen. Ausspannen, nicht durchdringen. Denn die Literatur und noch mehr die Bücher von Clemens J. Setz sollen und dürfen rätselhaft bleiben. Kehren wir noch einmal zu dem bereits erwähnten TED-Talk zurück. Da nennt er als seine Vorbilder neben Frau Renate Fuczik auch „Alien-Autopsie“. Im Privatfernsehen der frühen neunziger Jahre seien immer irgendwelche Aliens aus Pappmaché mit leeren Blicken durch Experten in Uniform einer Autopsie unterzogen worden – ohne erhellendes Ergebnis. Auch er, fügt Setz dann für seine Verhältnisse geradezu kämpferisch hinzu, möchte dereinst, im Falle seiner Autopsie, den Experten ein Rätsel bleiben „Wenn nach uns, nach meiner, nach eurer Existenz, alles eindeutig ist, dann haben wir versagt.“ Ich würde sagen: Noch ist das Kind nicht in den Brunnen gefallen.