Johann-Heinrich-Merck-Preis

The »Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay« (Prize for Literary Criticism and Essay Writing) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1964, financed by the Darmstadt-based Merck pharmaceutical company.
It is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt. The Johann Heinrich Merck Prize has been endowed with €20,000 since 2013.

Wolfram Schütte

Journalist, Literary critic and Film Critic
Born 16/9/1939

... in dessen Texten sich eine stupende Bildung mit einer präzisen Wahrnehmung des wirklich Neuen und Originären zu einem engagierten Plädoyer für die Autonomie der Kunst wie für die Freiheit der Kunstkritik verbindet.

Jury members
Juryvorsitz: Präsident Heinrich Detering
Vizepräsidenten Aris Fioretos, Gustav Seibt, Nike Wagner, Beisitzer Peter Hamm, Joachim Kalka, Navid Kermani, Per Øhrgaard, Michael Stolleis, Jan Wagner

Laudatory Address by Thomas Assheuer

Wofür steht WoS?

Wer das Glück hatte, lieber Herr Schütte, in Ihr intellektuelles Magnetfeld zu geraten, der lernte von Ihnen sehr bald und sehr entschieden dies: Das Private und das Persönliche dürfen keine Rolle spielen. Im kulturellen Sektor oder, wie sentimentale Menschen zu sagen pflegen, im Feuilleton geht es um die Sache, und zwar nur um die Sache. Das Ich ist eine eiserne Ration, denn es zählt die Kunst und nicht der Hausbesuch. Der Künstler verschwindet in seinem Werk, der Intellektuelle in seinem Argument, und der Kritiker verschwindet in seiner Kritik. Was sonst noch über die Einzelarbeiter des Geistes zu sagen ist, das bleibt diskret unter uns.
An diesen guten Brauch will ich mich halten. Ich werde kurz sagen, was Sie der Erwähnung vermutlich kaum für nötig erachten, nämlich dies: Dass Sie der herausragende Kopf einer Frankfurter Zeitung waren, die es in ihren besten Zeiten mit den Mitbewerbern allemal aufnehmen konnte und über die man heute sagen muss: Nachdem ihr WoS, ihr Wolfram Schütte, von Bord gegangen war, da war die FR schon nicht mehr die Alte, und heute ist sie nur noch ein Schatten ihrer selbst, verschwunden in den offenen Armen jener Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die in ihrem Feuilleton das »Gespenst des Kapitals« unterdes ebenso zu fürchten scheint wie Wolfram Schütte vor dreißig Jahren.
Ich erwähne beiläufig, dass Ihr Name untrennbar verbunden ist mit dem frühen Aufstieg und dem späten Ruhm des neuen deutschen Films; er verdankt Ihnen unendlich viel, er verdankt Ihnen die Anerkennung durch Kritik. Sie »brannten« für die weiße Magie der siebten Kunst, so wie Sie immer für etwas »brennen«. Auf den ersten Blick haben Sie Rainer Werner Fassbinders Genie erkannt und gegen die kompakte Majorität des »gesunden Volksempfindens« verteidigt, das in Gestalt unserer weltberühmten Boulevardzeitung und in unsterblicher Treue zu sich selbst dem Regisseur gleich wieder das Maul stopfen wollte.
Sie erfanden jedoch nicht nur eine Kritische Theorie des neuen deutschen Kinos; Sie haben im Feuilleton die kulturell Ausgehungerten in Empfang genommen – jene Neugierigen, die dem Halbdunkel der langlebigen 1950er Jahre knapp entronnen und vom »Jargon der Eigentlichkeit« zermürbt waren. In Empfang genommen haben Sie auch die ganz Jungen, die von ihren Deutschlehrern mit staatstragenden Fibeln wie Wort und Sinn abgespeist worden waren, mit einer scheintoten Literatur, die dem Leser mit jeder Zeile versicherte, ihre Verfasser seien unter Hitler sauber geblieben.
Ja, er existierte leibhaftig: Der nachwirkende Geist der Adenauerzeit war keine Erfindung der Frankfurter Rundschau, es gab diese intellektuell verklebte Bürgerlichkeit, die Thomas Mann für einen Verräter hielt und sich vor der deutschen Schuldgeschichte mit Goethe in die höheren Sphären einer tieferen Geistigkeit davonstehlen wollte – in eine nationale Bildungsreligion, die angeblich im klassischen Weimar ihren Anfang nahm, um schamlos verschämt an Buchenwald vorbei aufzusteigen und uns als nebulöser deutscher Geist aus der Zukunft entgegenzukommen.
Die Restauration des »deutschen Geistes« nach der Epoche seines Selbstverrats – das machten Sie, der unmissverständliche Linke, nicht mit, und Ihre ganze Zeitung machte sie nicht mit. Das Feuilleton, das Sie zusammen mit Peter Iden und Hans-Klaus Jungheinrich auf die Beine stellten, antwortete den tonangebenden Kreisen allerdings mit einer ganz unscheinbaren Geste: Schaut her, es gibt noch etwas anderes auf der Welt. Andere Bilder, eine andere Musik, ein anderes Denken und vor allem: eine andere Literatur, es gibt auch Heinrich Mann und Arno Schmidt und viele andere. Und sie sind fabelhaft.
Ihnen, Herr Schütte, hatte es vor allem der ins Leben vernarrte Existenzialismus angetan, Jean-Paul Sartre und Albert Camus, die keine politischen Freunde waren – Sie aber hielten beiden die Treue; zwei geschiedene Solitäre, vereint durch das Lebensgefühl, dass es sie durch einen absurden Zufall in eine Welt verschlagen hat, in der man sich in Einsamkeit und Freiheit auf nichts und niemanden verlassen darf. Nur auf sich selbst.
Wie kein Zweiter warben Sie für die Nouvelle Vague. Sie machten das Publikum – da hatten Sie bereits Gertrud Koch und Karsten Witte ans Haus gebunden – mit Claude Chabrol, Eric Rohmer, François Truffaut und vielen anderen bekannt, vorneweg aber mit einem artistischen Melancholiker, Ihrer vielleicht größten cineastischen Leidenschaft: dem Regisseur Jean-Luc Godard. Wie vor ihm Sartre, so hatte auch Godard seinen Marx mit Heidegger gelesen – diese Doppelbelichtung war brisant, und Sie wussten es. Der Film Die Verachtung gerät in antikisierender Kulisse zu einer Abrechnung mit dem »Zeitalter des amerikanischen Weltbildes«, zu einer ganz unpathetischen Klage über die Kommerzialisierung von Kunst und Liebe in einer Gesellschaft, deren Insassen ihre Worte tauschen wie Geld.
Godards delikates Spiel mit der Wiederkehr der Tragik im aufgeklärten kapitalistischen Europa hätte politisch ernsthaft schiefgehen können, aber Sie schienen dem Leser zu versichern, in diesem spekulativen Zugriff bestehe nun einmal die Freiheit der Kunst und die Radikalität der ästhetischen Moderne. Bei Godard müsse man sich keine Sorgen machen – er stehe mit beiden Beinen fest auf Voltaire'schem Podest.
Von heute aus gesehen war dieser Schachzug kein Zufall, er war Ihr Programm. Sie machten die Philosophen, Schriftsteller und Regisseure aus Frankreich zu unseren Alliierten und ernannten Godard und Fassbinder grenzüberschreitend zu »diametralen Freunden«, zu compagnons de route. Mit einem Wort: Sie imprägnierten die Nachkriegskultur mit bedenkenloser ästhetischer Freiheit und republikanischem Geist. Das ist Ihr Beitrag zur Selbstaufklärung der Bundesrepublik, und dieser Beitrag ist bedeutend. Der Funke sprang über, und als schließlich die Provinz urbanisiert war und man einfach lesen musste, was Schütte aus Cannes zu berichten hat, da schien sogar ein anderer Blick auf die eigene kulturelle Herkunftsgeschichte möglich zu sein.
In dieser Wendung steckt die Ironie all der zermürbenden Kulturkämpfe, die Sie mit dem Florett und wahrhaft furchtlos mit ästhetisch und politisch Andersgläubigen ausgetragen haben. Ausgerechnet das als links verschriene Feuilleton, jene verhassten Kultur-68er, die mit chronischer Besessenheit bis heute für alles Widrige haftbar gemacht werden – ausgerechnet diese vaterlandslosen Gesellen halfen mit, das Selbstbild der schuld- traumatisierten Nachkriegsrepublik zu schärfen.
Mich erinnert dies an Wim Wenders' Im Lauf der Zeit, an jenen Film, der wie unter Schock und in unendlich langsamen Bewegungen die deutsch-deutsche Grenzlandschaft durchmisst, die manifeste Leere der geteilten Nation, ihre zerbombten und abgerissenen romantischen Traditionen. Gegen Ende trifft Hanns Zischler an einer winzigen Bahnstation einen Jungen, sie sprechen über das Leben der Wörter und die veränderte Wahrnehmung der Welt, als müsste das Land neu alphabetisiert werden. Das war ein Akt tastend trauernder Wiederaneignung, nichts wird hier entkriminalisiert und verdrängt. Es schien, als hätte erst die Konfrontation mit der ästhetischen Moderne – also Ihr Programm! – die Sicht auf das Alte und Verlorene geöffnet, nicht als Freispruch, wohl aber als kritische Prüfung. Sie, Herr Schütte, verehrten die nicht-reaktionäre deutsche Romantik, und Jean Paul ist Ihr Held. Und 1999, zu Goethes 250. Geburtstag, haben Sie – auch das war eine Wiederaneignung – dem Weimarer »Dichterfürsten« eine überbordende, zu Recht gerühmte Beilage gewidmet, nicht mit subalterner Devotion, sondern mit hermeneutischer Liebe.
Nun gut, das ist neudeutsche Kulturgeschichte, sie sagt wenig über die Hintergrundstrahlung Ihrer Texte, über Ihre heimliche Passion. Wofür also steht die Chiffre WoS?
Ich habe eine Vermutung und nähere mich zunächst Ihren Empfindlichkeiten. Kunst als sinnstiftende Deckungsreserve, als tröstender Ausgleich für erlittene Modernisierungsschäden im Spätkapitalismus? Das war bekanntlich die bittersüße Medizin neukonservativer Doktoren, aber dass Sie sich nach dieser Rezeptur die Finger geleckt hätten, wird man nicht behaupten können. Auch mit der Ästhetik der »Postmoderne« schlossen Sie keine Freundschaft, denn die Postmoderne war für Sie der Blindenstock des Kritikers, der sich im Garten des Schönen verlaufen und den Mut zum Urteil verloren hat. Und die »Kultur für alle«, der gutartige sozialdemokratische Kulturbegriff? Natürlich, sagten Sie, Kultur für alle, für wen denn sonst. Aber Kunst als ästhetisch aufgeschäumte Sozialkritik? Daran wollten Sie nicht glauben, daran wollten Sie sich nicht einmal gewöhnen.
Dass es in Ihren Kritiken ästhetisch komplizierter zuging, liegt naturgemäß an Frankfurt, an der Stadt der Aufklärung in ihrer intellektuell reizvollsten Spielart, nämlich als Dialektik, oder volkstümlich gesagt: als Einsicht, dass Aufklärung idiotisch wird, wenn sie von ihrem Gegenstand nichts mehr übrig lässt und am Ende auch noch die Bilder und Erzählungen ruiniert, in deren Spiegel die aufgeklärte Freiheit sich selbst betrachtet. Das Resultat ist leere Emanzipation; sprachlos blickt sie herab auf »Aufkläricht«, und das meint bei Ihnen das traurige Häufchen aus sinnlosem Sinn, es meint den preiswert errungenen Triumph des Aufklärers über das Alte und scheinbar Unverständliche.
»Aufkläricht« stammt nicht zufällig aus der Begriffs-Schmiede Ernst Blochs, der wusste, dass man sich davor hüten musste, das politisch Gerechte mit dem Existenziellen zu verwechseln, die Logik der Gesellschaft mit dem Leben des Subjekts. Die genossenschaftliche Gütererzeugung, also der Sozialismus (und das ist jetzt Bloch und nicht Schütte), nimmt vom Einzelnen »alles erbärmlich Störende hinweg, [...]; aber sie läßt dafür das Leid, die Sorge und die ganze sozial unaufhebbare Problematik der Seele stärker als jemals hervortreten«.
Sie ahnen, worauf ich hinauswill: Ich will sagen, dass das existenzialistische Timbre Ihrer Texte von Anfang an nicht zu überhören ist, die Semantik des unverkürzten Lebens und das Verlangen nach Intensität, nach Erfahrung und Gegenwärtigkeit. Fassbinders Werk, schrieben Sie, kreise um Liebe, Tod, Verrat, Freundschaft, Unterdrückung, Abhängigkeit, Gewalt – solche Künstler bräuchten wir, »damit wir uns selbst nicht aufgeben«. Kunst kriecht hier nicht auf der Geisterbahn des unabwendbaren Fortschritts, sie ist Existenzverschärfung, sie steigert, mit Bloch gesagt, die »Problematik der Seele« – bevor die Theorie zulangt und lebende Menschen, das ist wieder Ihre Formulierung, »an den Gitterstäben der Soziologie erhängt«.
Das ist kein antibürgerlicher Kunstbegriff; es ist ein anderes Verständnis der bürgerlichen Kunst und doch die entschiedene Antithese zur konservativen Kunstreligion. Die Kunstreligion, das ist Ihr Verdacht, liest jene Wahrheiten aus dem Ästhetischen heraus, die sie vorher stillschweigend in sie hineingelesen hat. Zum Skandal wird die Kunstreligion dann, wenn ihre unsterbliche »Tiefenwahrheit« zynisch ist gegenüber den Sterblichen, wenn sie mit den Wölfen heult oder Propaganda macht für die Herren des Morgengrauens. Das war der moralische Grund (und das Wort Moral haben Sie nie denunziert), warum Ihre ästhetische Verehrung für den größten lebenden Dichter deutscher Sprache in einer serbischen Niemandsbucht ein jähes Ende fand.
Allerdings: Ihre Behauptung, die Wahrheit liege nicht, wie in der Kunstreligion, hinter dem Werk, sondern im Werk selbst, in seiner Komposition, beschert dem Kritiker eine Menge Arbeit. Denn daraus folgt ein schier maßloser Selbstanspruch an Genauigkeit und philologisch dichte Beschreibung.
Tatsächlich mikroskopieren Sie Kunstwerke; Sie hören das Farbenspiel der Texte und entziffern die Bilder – und zwar inständig, mit einer Geduld und Ausführlichkeit, die sich nicht damit erklären lässt, dass Zeitungen damals nicht nur lange, sondern sehr lange Texte druckten. Wer Kunst mit politischer Agitation verwechselte, dem erklärten Sie mit Godard, der Stil sei »die äußerliche Seite des Gehalts und Gehalt der Inhalt des Stils. Sie können nicht getrennt werden«. Erst der ästhetische Eigensinn eines Werks unterbricht die eingespielte Wahrnehmung, und erst dann besitzen »Kino-Bilder eine seinssetzende Macht«.
Man sieht, die Kunst trägt bei Ihnen eine schwere Last, aber das ist nun einmal so in Frankfurt am Main, und darin folgen Sie Adorno, dem Sie ein eigenes Buch gewidmet haben. Weil es allein um Erkenntnis geht, weil ein Roman sogar den Weltlauf verändern kann, sind Ihre Texte auch angemessen rücksichtslos – Sie fühlen sich für das Bildungsniveau Ihrer Leser nicht verantwortlich und versuchen erst gar nicht, multiple Meinungsanschlussfähigkeit herzustellen, die Einfühlung in das mutmaßliche Durchschnittsinteresse des statistisch ermittelten Standard-Lesers, der aus Sorge um sein Seelenheil von kognitiven Zumutungen verschont werden muss.
Gleichzeitig erscheint bei Ihnen die Kunst stets als gefährdete Gattung, bedroht von einer Armada übergriffiger Mächte, als da sind: der manipulierte Massengeschmack, Mittelmaß und Wahn der regierenden Klasse, Staatskanzleien aller Herren Bundesländer und natürlich das allesfressende Monster, die große Kulturverwertungs-Industrie, wobei Sie nichts gegen den Markt an sich einzuwenden haben (erst recht nicht, wenn er bildschöne, unter italienischer Sonne gereifte Alfa Romeos vom Band laufen lässt).
Gut möglich, dass ich Ihre Präventiv-Apokalypse damals übertrieben fand, aber heute muss ich einräumen: Das Ökonomische und das Kulturelle sind sich näher gekommen. Die schöne Idee, dass sich eine Gesellschaft kontrovers, aber doch in kollektiver Aufmerksamkeit in ihrer Kultur spiegelt und ein Bild ihrer selbst gewinnt – diese Idee ist uns fremd geworden, vermutlich müssen wir sie uns abgewöhnen.
Gewiss hat es sein Gutes, wenn nun ein überkonfessioneller Betriebsfrieden einkehrt und die Deutungskämpfe vorüber sind, die in den Zeiten der alten Bundesrepublik am wehrlosen Körper der Kunst ausgefochten wurden. Damit hat sich allerdings auch die Gestalt der Kritik verändert. Für Sie, Herr Schütte, ist Kunstkritik explorativ, sie ist augenöffnend und eingreifend – sie zielt auf Erkenntnis und Wahrheit, ihr Spiel ist Ernst.
Dieser kognitive Anspruch hat sich erkennbar ermäßigt. Kritik ist heute eher narrativ, einfühlend und atmosphärisch, die Ausübenden verstehen sich zuerst einmal als dienstbare diplomatische Mittler denn als Strategen im Literaturkampf. Christopher Schmidt hat es in der Süddeutschen Zeitung in kalkulierten Übertreibungen unlängst so beschrieben: Der Kritiker serviert gute Laune, er sagt oft »Ich« und duzt den Leser wie einen alten Kumpel; er cremt ihn mit sahnigen Sätzen ein, kurz: Er auratisiert das Werk im Sonntagszeitungs-Feierton, aus durchaus berechtigter Sorge, es könne in der Gesellschaft des Spektakels unbesungen untergehen.
Der Status des Kulturellen, so heißt das, hat sich in den ästhetisierten Lebenswelten des symbolischen Kapitalismus verändert, und das haben Sie schon zu einer Zeit gesehen, als davon noch gar nichts zu sehen war. Der Künstler und sein Kritiker sind heute Teil eines Star-Systems, von ihnen wird erwartet, dass sie die vertraute Welt nicht fremd, sondern deren verstörende Fremdheit vertraut und plausibel machen. Erlebnis statt Bedeutung; affektiver Kult statt entbergende Kritik.
In diesem Kunstsystem soll ästhetische Erfahrung nicht – wie bei Ihnen – die Macht der Gewohnheit unterbrechen; sie soll beruhigende Weltsynthesen erzeugen und uns Furchtsamen versichern, dass die Realität, die tagtäglich in ihre Bestandteile zu zerfallen droht, immer noch als eine zusammenhängende existiert. Für diese therapie-ästhetische Stimmungsaufhellung, für den Trost dieser neuen Kunstreligion, heben wir dankbar jeden semantischen Krümel auf, der vom Tisch des abwesenden Herrn zu Boden fällt.
Einen Vorwärtsverteidiger wie Sie, Herr Schütte, wird das nicht anfechten – denn gegen die Tendenz des Zeitalters muss das einzelne Werk nun erst recht ins Leben interpretiert werden. Wenigstens daran hat sich nichts geändert, und wir dürfen beruhigt jenem Rat folgen, den Sie uns mit Godard mit auf den Weg gegeben haben. »Wir müssen lernen, Bilder anzuschauen wie Mediziner Röntgenaufnahmen und Polizisten Fahndungsfotos.«