Johann-Heinrich-Merck-Preis

The »Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay« (Prize for Literary Criticism and Essay Writing) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1964, financed by the Darmstadt-based Merck pharmaceutical company.
It is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt. The Johann Heinrich Merck Prize has been endowed with €20,000 since 2013.

Ulrich Weinzierl

Journalist, Literary critic and Author
Born 7/3/1954
Deceased 13/1/2023
Member since 2001

Ulrich Weinzierl, dem Kritiker, der in Rezensionen und Kulturberichten mit sicherem Urteil und dem Charme der Ironie das klassische Wiener Feuilleton zu neuen Ehren bringt...

Jury members
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann
Vizepräsidenten Elisabeth Borchers, Norbert Miller, Ivan Nagel, Beisitzer Iso Camartin, Eckhard Heftrich, Hans Wollschläger

Laudatory Address by Eckhard Heftrich
Germanist, born 1928

Wirkung durch den Stil

Die offizielle Bezeichnung des Preises, der in diesem Jahr an Ulrich Weinzierl vergeben wird, lautet nicht: Johann-Heinrich-Merck-Preis für Kritik oder Essay. Diejenigen, die einst den Preis ersonnen und ihm außer dem Namen Merck die Definition Preis für Kritik und Essay gegeben haben, gingen offenkundig von der allgemein verbreiteten Vorstellung aus, daß Literaturkritik und Essayistik zwar nicht gänzlich ein und dasselbe seien, wohl aber in der Regel von ein und derselben schreibenden Person je nach Bedarf, und allemal gleichermaßen gut ausgeübt werden könne. Mit anderen Worten: schreibt einer zwischendurch anstatt einer Rezension einen größeren Aufsatz, etwa zum Saekularjahr eines Dichters, betätigt er sich anstatt kritisch essayistisch. Wenn er gar, nach einer Weile, solche Aufsätze mit einer Handvoll längerer Rezensionen in einem Buch versammelt, dann hat er es auch zum vollgültigen Essayisten gebracht.
Einer strengeren Auffassung sowohl von der Kritik wie vom Essay zufolge stehen indessen die beiden in der Preisbestimmung so nah zusammengerückten Bereiche wo nicht gerade im Gegensatz, so doch immerhin in erheblicher Spannung zueinander. Es wird, um es am historischen Beispiel zu erläutern, niemand Montaigne zum Stammvater der Literaturkritik machen oder Lessing gerade das Verdienst zuschreiben wollen, die neuzeitliche Gattung des Essay begründet zu haben. Dennoch wäre es ein Zeichen ängstlicher Gelehrtenpedanterie, dem schönen Wörtlein »und« in der Preisbestimmung die Legitimation wenigstens solange abzustreiten, bis ein neuer Montaigne und ein weiterer Lessing, und zwar in ein und derselben Person, erschienen und zudem von der Jury entdeckt worden wäre. Auch die bescheidenere Verbindung von kritischem und essayistischem Talent rechtfertigt das »und«, wie etliche Namen bisheriger Preisträger beweisen. Ihnen gesellt sich nun mit Ulrich Weinzierl ein weiterer hinzu.
Der hier zu Lobende wurde 1954 in Wien geboren, hat an der dortigen Universität 1977 sein Studium mit einer Dissertation über Alfred Polgar abgeschlossen und, ab 1979, im »Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes« vor allem über die Exilliteratur gearbeitet. Aus der zunächst freien Mitarbeit am Literaturblatt der F.A.Z. ergab sich später die feste Bindung an diese Zeitung. Unverändert ist Österreich das Zentrum seiner vielseitigen Arbeit geblieben. Von seinem Wohnsitz in Wien aus bereist er die Welt, im wörtlichen und im übertragenen Sinn. So war es wohl angemessen, und doch erstaunlich, daß er zuallererst in seiner Heimat geehrt wurde: 1988 mit dem Preis für Publizistik der Stadt Wien und 1990 mit dem Österreichischen Staatspreis für Literaturkritik.
Ein Staatspreis für Kritik, und sei es Kritik in der abgemilderten Form von Literaturkritik: Wer da Gängelei vermutet oder gar die Demutsgeste von Politikern zu erkennen meint, die Toleranz und Nähe zum Geist durch Masochismus demonstrieren wollen, kann solchen Verdacht nicht durch die Tatsache erhärtet sehen, daß Weinzierl Träger dieses Staatspreises ist. Denn dieser Kritiker hat sich weder durch nationale Beflissenheit empfohlen, noch hat er durch lautstarke Schmähung den fälligen Tribut der Beschimpften eingefordert.
Es mangelt ihm freilich nicht gänzlich an der Lust zur Provokation. Er hätte sonst doch wohl darauf verzichtet, ausgerechnet in einer Laudatio auf den Kleist-Preisträger Ernst Jandl diesen »gelernten Depressionshumoristen« gerade mit dem folgenden Satz zu zitieren: »hitler wurde und wird von mir stets als 100-prozentiger österreicher gesehen – keiner andern nation, auch nicht der deutschen, ist die hervorbringung eines solchen mannes bisher gelungen.«
Freilich sorgte eine sehr anders geartete Provokation für mehr Aufregung. Denn Weinzierl scheute sich nicht, in die beliebte Serie »Romane von gestern – heute gelesen« die fiktive Lebensgeschichte jener Dame einzureihen, deren Name für die folgende Qualität bürge: »das größtmögliche Quantum Unsittlichkeit auf kleinstem Raum« zu bieten. Die Frivolität wurde noch geschärft durch die streng philologische Manier, in der Weinzierl Felix Saltens Originaltext der Mutzenbacherin von den gängigen Ausgaben absetzte. Daß dergleichen anno 1985 in der F. A.Z. gedruckt wurde, bedurfte es wohl nicht nur der Duldung, sondern der wohlwollenden Zustimmung des damals für den Literaturteil verantwortlichen Marcel Reich-Ranicki.
Ob die seinerzeit darob erzürnten Leser dem damals noch jugendlichen Skribenten inzwischen verziehen haben, daß er da so fürwitzig den Vorhang von dem Lektüre-Alkoven gelüpft hat, wissen wir nicht. Doch sind wir gewiß, daß er, nicht nur zehn Jahre älter, sondern auch reifer geworden, keinesfalls zwecks endgültiger Besänftigung jenes vielleicht noch immer grollenden Teiles seiner Leserschaft jüngst Elfriede Jelineks neuestes Prosaprojekt als einen sogenannten Roman bezeichnet hat, als eine »gewaltige Textmaschine« und einen »austriakischen Spuk-Comic«; die Wut sei die Muse dieser furiosen Heimatdichterin, die »auf die Unterleibschoreographie ihrer Figuren stets den nüchternen Blick der Geschlechtskriegsberichterstatterin« werfe.
Womit wir ein charakteristisches Beispiel für die spitze Feder des Stilisten Weinzierl gegeben haben. Seine tägliche Brotarbeit, seien es Rezensionen, Berichte über Festspiele, Colloquia, Literatur-Marathons und, vor allem und gerne, über Austriaca von der Art des Thomas Bernhard-Syndroms, kurz, seine journalistischen Pflichtübungen bieten Weinzierl stets Gelegenheit, sich für die doppelte Plage der Leselast bzw. des Zuhörenmüssens und des sofortigen reaktiven Schreibens durch die Lust an der Formulierung zu entschädigen. Einmal in Schwung, zügelt er dann auch seine Neigung zum Sarkasmus nicht. So hat er etwa Botho Strauß, als der einmal sich an erotische Geschichten wagte, bescheinigt, es gelinge ihm »bei seinen Etüden aus der Vorschule der Läufigkeit Überraschendes. Augenscheinlich war es seine Absicht, eine plötzlich verrucht gewordene Courths-Mahler zu imitieren, und siehe, er traf ins Schwarze.«
Und doch zählt Weinzierl nicht zu jener Art von Kritikern, die mit dem Hammer rezensieren, also umstandslos kunsthandwerkliche Töpferarbeit so gut wie Porzellan zerschlagen, um gleich danach auf den großen Gong des hemmungslosen Lobes zu hauen. Vielmehr läßt er auch seinen Verissen stets die Sorgfalt der ausgefeilten Wendungen angedeihen. Das schmerzt zwar den betroffenen Autor besonders, weil er ja die Brillanz der Formulierung kaum wird leugnen können, mildert aber die Verstimmung selbst jener Leser, die ansonsten anderer Meinung sind. Wer jedoch mit dem Urteil des Rezensenten Weinzierl übereinstimmt, kommt in den immer seltener werdenen Genuß eines intimen Austausches unter Literaturkennern. Voraussetzung dafür ist natürlich, daß man dem zugegebenermaßen elitären Anspruch dieser anspielungsreichen Feuilletonprosa gewachsen ist. Denn obwohl sie in verständlichem, von akademisch-theoretischem Schwulst freiem Deutsch geschrieben ist, nimmt sie keine Rücksicht auf Leser, die Fernseh-Informiertheit schon für Bildung halten.
Indessen: die Akademie würde diesem Kritiker schwerlich den Johann-Heinrich-Merck-Preis verleihen, wenn er allein über das Talent verfügte, das Richteramt des Rezensenten auf die ihm eigne gewitzte und häufig gar gepfefferte Art auszuüben; wobei anzumerken ist, daß er zwar boshaft sein kann, doch nie bösartig behandelt, was seinem Urteil nicht standhält. Das nervöse Glitzern seiner Ironie artet nicht aus, weil die andere Seite der zugrundeliegenden Begabung sich gleichermaßen entwickelt hat. Das ist die Fähigkeit, nuanciert zu beschreiben, was seine Anerkennung oder gar seine Bewunderung findet. Was selbst für Anlässe gilt, wo die Forderung der Stunde Schnelligkeit und Verkürzung verlangt. In einem Musterbeispiel dieser Art, dem Nachruf auf Hilde Spiel,(1) hat Weinzierl einmal angedeutet, welchen Rang er auch der sogenannten Tagesschriftstellerei einräumt. Es sei, so heißt es da, Hilde Spiel gerade in der feuilletonistischen Berufsarbeit stets gelungen, das mot juste zu finden; und das Geheimnis ihrer Wirkung habe vor allem im Stilistischen gelegen.
Hier hat Weinzierl indirekt, aber ohne anmaßende Identifizierung, auch sich selber charakterisiert. Wirkung kraft des Stilistischen – damit ist nicht der öffentliche Widerhall gemeint. Und was auf den Kritiker und Feuilletonisten zutrifft, gilt für den Essayisten. Wir meinen damit den Verfasser der Biographien, vor allem jener von Alfred Polgar und Arthur Schnitzler, wobei die weniger bekannte des fast vergessenen Carl Seelig nicht unerwähnt bleiben soll.
Man darf diese Biographien Groß-Essays nennen, obwohl es sich um veritable Bücher handelt. Am Vergleich der einstigen Dissertation über Polgar mit der späteren Biographie läßt sich abnehmen, was einer lernen muß, damit aus einem Doktoranden ein Schriftsteller wird.
Daß Weinzierls Wahl gerade auf diese beiden österreichischen Autoren fiel, war gewiß kein Zufall. Und dies nicht obwohl, sondern eher noch weil Polgar, nach Weinzierls eigener Formulierung, der begabteste von Schnitzlers kritischen Feinden war.
Soviel zur Leistung dessen, der hier ausgezeichnet wird. Wer diese Leistung nachprüfen will, aber meint, das Feuilleton der F.A.Z. ignorieren zu müssen, der möge nach den Büchern greifen. Wir versprechen ein Lesevergnügen.

(1) ›Widerstand und Würde‹. Siehe Jahrbuch 1990, S. 158-161.