Johann-Heinrich-Merck-Preis

The »Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay« (Prize for Literary Criticism and Essay Writing) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1964, financed by the Darmstadt-based Merck pharmaceutical company.
It is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt. The Johann Heinrich Merck Prize has been endowed with €20,000 since 2013.

Martin Pollack

Journalist, Writer and Translator
Born 23/5/1944

...der seine Arbeit den vergessenen und verdrängten Ereignissen in der mitteleuropäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts widmet...

Jury members
Juryvorsitz: Präsident Ernst Osterkamp
Vizepräsidenten Aris Fioretos, Wolfgang Klein, Monika Rinck, Beisitzer László Földényi, Michael Hagner, Elisabeth Edl, Dea Loher, Ilma Rakusa, Marisa Siguan

Wir müssen Widerstand leisten

Europa, präziser gesagt, die Europäische Union steckt in der Krise, vielleicht der tiefsten und gefährlichsten seit ihrer Gründung. Wir alle sehen das deutlich, mit wachsender Sorge, in Deutschland ebenso wie in Frankreich, Italien und Österreich, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Die Krise ist nicht zu übersehen, sie ist förmlich zu greifen.
Wir beobachten beunruhigt den Zulauf, den rechte und rechtsextreme Parteien genießen, die keinen Hehl aus ihrer Ablehnung eines freien, vereinten Europas machen. Sie arbeiten darauf hin, die liberale Demokratie, die Meinungsfreiheit, die Unabhängigkeit der Medien und der Gerichte auszuhebeln und die Zivilgesellschaft einzuschüchtern, um sie am Ende zu kastrieren.
Noch vor wenigen Jahren hätte ich an dieser Stelle vor allem über Osteuropa und über Putins Russland gesprochen, über die fortscheitende Zerstörung der Demokratie in Ungarn und in Polen, über die autoritären Regime, die vor unseren Augen in diesen Ländern errichtet werden, über die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Putin, über den von Russland angezettelten, doch stets geleugneten Krieg in der Ukraine, von dem Putin erklärt, Russland sei keine Konfliktpartei; über die grassierende Korruption in vielen osteuropäischen Ländern, deren Regierungen nur lax dagegen ankämpfen; über die menschenverachtende und zynische Politik gegenüber Flüchtlingen und Migranten, die zu pauschalen Feinden stilisiert werden, die es mit allen Mitteln fernzuhalten gilt. Das findet man, schon wieder!, vor allem in Ungarn und in Polen. Doch auch in Italien oder Österreich sind ähnliche Töne zu hören.
In Polen greift man zu diesem Zweck auf die Romantik zurück, auf das Bild von Polen als Bollwerk der Christenheit, das in Europa einsam und fest steht wie ein Fels in der Brandung, berannt von den Wellen der westlichen Unmoral und Dekadenz sowie einer vorgeblichen Islamisierung, die Europa mit Feuer und Schwert zu Allah bekehren möchte. Der katholische Fundamentalismus und rabiate Nationalismus, die sich da breitmachen, bilden ein brisantes Gemisch, das den Rechtsruck noch weiter antreibt.
Diese Entwicklungen in Osteuropa dürfen wir nicht unterschätzen, sie sind heute virulenter denn je. Doch es erscheint geboten, den Blick auch auf andere Länder zu richten, auf scheinbar gefestigte Demokratien, die ins Wanken geraten. Auch in westlichen Demokratien gewinnen Parteien an Einfluss, die sich zunehmend nach Osten orientieren, nach Wladimir Putin und Viktor Orbán, die sie dabei unterstützen, ihren Einfluss nach Westen auszudehnen. Da werden Allianzen geschmiedet, die darauf abzielen, die EU zu spalten und zu schwächen. Das gefährdet das europäische Friedensprojekt.
Die Brandstifter bilden eine verschworene Gemeinschaft. Viktor Orbán nennt den offen den Faschismus verherrlichenden italienischen Innenminister Matteo Salvini seinen Helden, wofür sich Salvini, Orbáns gelehriger Schüler, mit dem Lob bedankt, Viktor Orbán sei ein politisches Vorbild, dem es nachzueifern gelte. Im Gespräch mit seinem Gesinnungsgenossen Heinz-Christian Strache, österreichischer Vizekanzler und Chef der rechtsextremen FPÖ, prophezeite Salvini in Hinblick auf die nächste EU-Wahl: »Ich bin überzeugt, dass wir in einigen Monaten gemeinsam mit Orbán regieren werden.«
Noch vor ein paar Jahren galten Politiker wie Orbán oder Strache im demokratischen Europa als Außenseiter und Maulaufreißer, die keiner wirklich ernst nahm. Das hat sich geändert. Die politischen und moralischen Maßstäbe haben sich so rasant verschoben, dass wir manchmal unseren Augen und Ohren nicht trauen.
Was wir hier erleben, nennt der slowakische Autor Michal Hvorecký hellsichtig eine Osteuropäisierung Europas. Hvorecký meint damit unter anderem den wachsenden Einfluss der Putinschen Propaganda, der es gelungen ist, die Gesellschaften Osteuropas, in zunehmendem Ausmaß aber auch des Westens zu verunsichern und zu demoralisieren. Etwa dadurch, dass der Begriff der Wahrheit in Frage gestellt und versucht wird, eine eigene, alternative, den jeweiligen Bedürfnissen anzupassende Wahrheit zu etablieren. Schwarz muss nicht immer schwarz sein und Weiß nicht immer weiß, es kommt auf die Umstände an, Schwarz kann auch weiß sein, es gibt keine Gewissheit. Das kennen wir auch aus den USA, wo der Einfluss Putins ebenfalls unheilvolle Spuren hinterließ. Wir brauchen nur an die Wahl Donald Trumps zu denken.
In Sowjetzeiten war die Moskauer Propaganda leicht zu durchschauen, sie kam plump und durchsichtig daher. Die neue Propaganda schleicht auf leisen Sohlen, oft gut getarnt. Sie wird verbreitet von zahllosen Trollen, die auf Befehl Fake-Profile erstellen und Fake-News verbreiten, um Ängste und Unsicherheiten zu schüren.
Daneben existiert allerdings auch noch die alte Propaganda, die plumpe Lüge, die sich allein auf die Autorität des Redners stützt, dem keiner zu widersprechen wagt. Jeder weiß, dass er lügt, und er weiß, dass alle wissen, dass er lügt, und trotzdem lügt er der Öffentlichkeit ins Gesicht, ohne mit der Wimper zu zucken.
Jarosław Kaczyński, Chef der rechtspopulistischen polnischen Regierungspartei PiS, Recht und Gerechtigkeit, sagte vor einiger Zeit in einer öffentlichen Rede, im liberalen Westen würde jedermann, der behaupte, aus einer homosexuellen Ehe könnten keine Kinder hervorgehen, unverzüglich ins Gefängnis geworfen. Beweise dafür führte er keine an. Kaczyński nimmt als Herrscher für sich in Anspruch, die Fakten beliebig manipulieren zu können. Er allein bestimmt, was wahr ist. Dafür gibt es in Polen einen Satz, der schon die Kommunisten und ihren Umgang mit der Wahrheit charakterisierte: Fakty są inne ? Tym gorzej dla faktów. Die Fakten sind anders? Umso schlimmer für die Fakten.
Alle Regime, von denen hier die Rede ist, regieren mit Angst, sie schüren Ängste, Zweifel und Unsicherheiten. Ängste vor Flüchtlingen und Homosexuellen, vor Feministinnen und kritischen Intellektuellen, vor unabhängigen Journalisten und Vertretern von NGOs, und generell vor dem Anderen, dem Fremden, der anders aussieht und, Gott möge abhüten!, vielleicht auch noch anders betet. Jedes autoritäre Regime braucht Feindbilder und Sündenböcke, auf die man, wenn es geboten erscheint, einprügeln kann. Das besorgen bei Bedarf staatlich konzessionierte faschistische Schlägerbanden und selbsternannte Milizen, die vorgeben, irgendetwas zu schützen, ein Dorf vor den benachbarten Roma oder die Heimat vor unerwünschten Migranten.
Alle hier skizzierten Entwicklungen stellen uns vor die alte Frage: Was tun? Was können, was müssen wir tun, um dem rechten Backlash, der Ausbreitung von Nationalismus und Fremdenhass, Hetze gegen Flüchtlinge und Andersdenkende Einhalt zu gebieten?
Es gibt keine einfache Antwort. Doch wir haben ein paar Richtlinien, an die wir uns halten können, auch wenn sie alt sind und naiv klingen mögen. Das sollte nicht gegen sie sprechen.
In erster Linie heißt es, nicht zu resignieren. Nicht den Kopf hängen zu lassen. Wir dürfen nicht wegschauen, im Gegenteil, wir müssen genau hinschauen und die Entwicklung scharf im Auge behalten. Wir müssen uns informieren und danach trachten, auch andere zu informieren. Auf welche Weise auch immer. Wir dürfen nicht so tun, als wäre alles in Ordnung. Das ist es nicht! Die Situation ist gefährlich, brandgefährlich sogar. Das dürfen wir nie vergessen, sonst werden wir überrollt und an die Wand gedrückt. Wir müssen Widerstand leisten, auf allen Ebenen und mit allen Mitteln, wir müssen schreiben und diskutieren, streiten und versuchen zu überzeugen, wir müssen uns zusammenschließen und neue Strategien ausarbeiten. Und wir dürfen uns auf keinen Fall einschüchtern und dazu verleiten lassen, Selbstzensur zu üben. Selbstzensur ist das schlimmste Gift, das die Gesellschaft von innen heraus erodiert.
Die Politik der neuen Rechten verfolgt das Ziel, den Zusammenhalt der Gesellschaften zu zerstören. Dem müssen wir entgegentreten. Wir müssen Solidarität üben, mit Fremden, die unserer Hilfe bedürfen, mit kritischen Journalisten, die in vielen Ländern eingesperrt oder gar ermordet werden. In der EU wurden in diesem Jahr drei investigative Journalisten ermordet. In drei verschiedenen Ländern. Das dürfen wir nicht hinnehmen, sonst versinkt Europa in einem Sumpf von Korruption und Gangstertum, wie er in Putins Russland herrscht.
Die Welt hat sich rasant verändert, darauf müssen wir uns einstellen, auch wenn uns das nicht leichtfallen mag. Wir im Westen sind träg geworden, Wohlstand und Sicherheit haben uns verwöhnt und eingelullt. Viele Menschen glauben, die Demokratie sei von Gott gegeben, sie falle wie Manna vom Himmel. Ein fataler Irrtum, wie wir jetzt erkennen. Für die Demokratie müssen wir kämpfen, jeden Tag.
Es stimmt, die Rechten, die antidemokratischen Kräfte erleben derzeit einen Aufschwung, der uns überrascht hat. Doch es gibt keinen Grund zur Panik. Wir müssen alles tun, um die Zivilgesellschaft aufzurüsten und zu stärken. Dazu kann jeder etwas beitragen. Das Beispiel mancher Länder, etwa Polens, zeigt, wie wehrhaft die Zivilgesellschaft sein kann. Wie rasch es gelingen kann, Hunderttausende zu mobilisieren, damit sie gegen die offizielle Politik protestieren oder ihre Solidarität mit Opfern des Regimes ausdrücken.
Auch das ist Osteuropa. Es ist keine Schande, sich am Beispiel der hartnäckig widerständigen polnischen Zivilgesellschaft zu orientieren und sich vielleicht bei den dortigen Freunden etwas abzuschauen.
Wir müssen noch viel lernen.