Johann-Heinrich-Merck-Preis

The »Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay« (Prize for Literary Criticism and Essay Writing) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1964, financed by the Darmstadt-based Merck pharmaceutical company.
It is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt. The Johann Heinrich Merck Prize has been endowed with €20,000 since 2013.

Joachim Günther

Publicist and Literary critic
Born 13/2/1905
Deceased 14/6/1990
Member since 1974

Er versieht in der von ihm gegründeten, geführten und redigierten Zeitschrift ›Neue Deutsche Hefte‹ das frei gewählte Amt eines Chronisten der geistigen und literarischen Hervorbringungen unserer Zeit.

Jury members
Juryvorsitz: Präsident Karl Krolow
Vizepräsidenten Horst Rüdiger, Dolf Sternberger, Wolfgang Weyrauch, Beisitzer Horst Bienek, Walter Helmut Fritz, Rudolf Hagelstange, Carl Linfert, Hans Scholz, Gerhard Storz

Wer einen Preis bekommt, muß danken. Er muß das besonders tun, wenn es ein in mehrfachem Sinn schöner Preis ist.
Der Johann Heinrich Merck-Preis ist, soweit ich sehe, der einzige in Deutschland, der, wie es heißt: »für Kritik und Essai« vergeben wird.
Ich will den Berliner Kritikerpreis, weil er undotiert ist, nicht unter den Teppich kehren. Er ist aber ein Preis, der nicht an Kritiker, sondern von ihnen an die Opfer ihrer Tätigkeit vergeben wird, und erst auf diesem Umweg auch der eigenen Ehre der Kritiker dient.
Daß es einen solchen Preis wie den nach Johann Heinrich Merck in seiner Heimatstadt heute gibt, liegt auf der großen allgemeinen Linie neuzeitlicher Emanzipationen. Ein Sklave hat auch hier Macht gewonnen und mit ihr Respekt – so wie der Arbeiter, so wie die Frauen, nämlich ohne die Tätigkeit des Dienens gegen eine privilegiertere auszutauschen.
Das würde dem Kritiker auch schwer fallen. Er hat zwar Bildung, Urteil und Wissen oder sollte das haben, aber meistens kein schöpferisches Talent.
Hätten wir hier wie in Berlin, wie in Mainz, wie in München nur eine Akademie für Dichtung oder eine solche Sektion in allgemeinerem wissenschaftlichem und künstlerischem Rahmen, so würde der Kritiker bei ihr nichts zu suchen haben. Der Titel dieser Akademie, daß sie für Sprache und Dichtung dasein will und daß die Sprache sogar noch vor der Dichtung steht, macht sie geeignet, Kritiker aufzunehmen und sogar Preise an sie zu vergeben.
Die Sprache verbindet uns alle. Sie verbindet aber den Kritiker enger mit dem Dichter, als dieser mit anderen Menschen, auch mit solchen, die die Sprache für ihre Tätigkeiten benutzen wie Politiker, Wissenschaftler, Erzähler, verbunden zu sein pflegt.
Der Kritiker ist, so wie der Dichter, überhaupt nicht da, wenn er nicht schreibt – seine Kenntnisse, seine Urteilskraft, sogar seine mündliche Ausdrucksfähigkeit mögen so splendid sein wie sie wollen.
Es besteht daher eine besondere Intimität zwischen diesen beiden: Dichter und Kritiker, die etwas von Hegels Modell Herr und Knecht spiegelt: »ein reines Selbstbewußtsein und ein Bewußtsein, welches nicht rein für sich, sondern für ein anderes ist«. Auch hier kann der Knecht dann rasch einmal in die Rolle des Herrn schlüpfen und umgekehrt.
Das hat sich neuerdings sogar so promiscuiert, daß viele Dichter einen Kritiker zur Linken in sich haben – unser Präsident ist ein sprechendes Beispiel. Die Beziehung von Gedicht, Kritik, Essai ist entgegen der »Natur« und das heißt hier entgegen den historisch gefertigten Verhältnissen, wie sie noch bis ins vorige Jahrhundert gegolten haben, inzwischen eine fast natürlichere geworden als die traditionelle von Dichter und Erzähler.
Ein wenig scheint mir das mit den knappen Formen zu tun zu haben. Gedichte sind kurz, Kritiken sind es auch, und Essais – da laboriert die Beziehung ein wenig – sind zum mindesten nicht gerade Langformen der Schriftstellerei.
Mir wird ein Essai bis zum heutigen Tag schwer, weil ich die Sonne über einer angefangenen Arbeit ungern untergehen lasse. Dem Kritikerhandwerk kommt das vielleicht eher zu Gute.
Wenn ich aber jetzt, da ich dafür diesen schönen Preis bekomme, sagen sollte, was es für eines ist, wie es sich macht, was seine Kriterien und Methoden sind, käme ich in Verlegenheit.
Es liegt nahe, den Preis für Kritik und Essai mit einer kleinen Rede über diese beiden Literaturformen zu quittieren. Aber der Maler ist nicht in jedem Sinn der beste Mann über Bilder zu sprechen, der Musiker nicht über Musik. So möchte ich Feststellungen, was eine gute Kritik, was ein vorzüglicher Essai ist, doch lieber anderen überlassen.
Wir Schreiber sind Praktiker und nur deshalb mit den Handwerkern schlecht zu vergleichen, weil wir unserer Praxis und ihres Könnens weniger sicher als diese sind, und immer die Drohung über uns fühlen, daß es plötzlich einmal nicht mehr gehen könnte. Natürlich sieht man sich den Mann ein bißchen an, dessen Name über dem Preis steht, den man empfangen soll. So habe ich dieser Tage in den beiden Bänden der Insel-Ausgabe von Johann Heinrich Merck herumgelesen – nicht gründlich, einen Essai könnte ich über meinen Patron noch nicht schreiben.
Da sind viele Briefe, obwohl die wahrscheinlich interessantesten, die an Goethe, von diesem, mit nicht sehr gutem Gewissen, erst gesammelt und später ins Feuer geworfen wurden. Es gibt sogar Gedichte, solche der inzwischen abgekommenen didaktischen Poesie, Fabeln und Satiren. Festgelesen habe ich mich an einer Erzählung, die den Titel hat »Geschichte des Herrn Oheims«. So wie es vom Faust Vorläufer und Nachtreter gibt, scheint mir diese Erzählung ein Vorläufer von Stifters Nachsommer zu sein, was, wenn es stimmt, beide relativieren würde.
Ähnlich zum Aufmerken war etwas ganz anderes, das als »Beitrag zu Lavaters Physiognomischen Fragmenten« firmiert und eine so erfrischende Charakteristik der europäischen Hauptnationen enthält, daß sie sich gut neben dem ähnlich thematisierten vierten Kapitel von Kants früher Schrift »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen« hören lassen kann.
Ich hätte jetzt Lust zu zitieren, aber ich muß mich beherrschen, weder Merck, noch ich selbst sind heute Hauptpersonen, und die zehn Minuten der Dankrede gehen zu Ende.
Darum nur noch dies: über zweihundert Jahre und ihren tiefen Sprachgraben hinweg, den man erst spürt, wenn man einmal Geschriebenes aus jener älteren Zeit mit offenem, zum Verstehen bereiten Sinn auf sich wirken läßt – über diesen Sprachgraben hinweg hätte ich Mercks, des im Grunde so freundelosen und viel mehr unglücklichen als unedlen Mannes Freund sein mögen. Goethe hat ihn in den langen Schweif derer, die er unsterblich machte, mitaufgenommen. Das muß ihm gedankt werden, auch wenn Merck auf dieser Bühne in eine Rolle gesteckt wurde, für die er eher Talent als Natur und Charakter mitbrachte. Goethe ist aber das nicht gelungen, was ihm bei den meisten seiner Vorläufer gelang: ihre Sprache töten zu können. Vielleicht deshalb nicht, weil es bei Merck keine Sprache der Dichtung, sondern eine von Kritik und Essai gewesen ist – die, nun ja, in ihren Gebrochenheiten bisweilen zählebiger ist als die Sprache dort, wo man die positive Literatur einer Zeit zu suchen pflegt.