Johann-Heinrich-Merck-Preis

The »Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay« (Prize for Literary Criticism and Essay Writing) has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1964, financed by the Darmstadt-based Merck pharmaceutical company.
It is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt. The Johann Heinrich Merck Prize has been endowed with €20,000 since 2013.

Ilma Rakusa

Literary scholar, Writer and Translator
Born 2/1/1946
Member since 1995
Homepage

Als hochsensible Essayistin und Rezensentin, Übersetzerin und Herausgeberin erschließt sie seit Jahrzehnten mannigfaltige literarische Landschaften, vor allem, aber nicht nur der süd-, mittel- und osteuropäischen Literatur.

Jury members
Ingo Schulze, Rita Franceschini, Olga Martynova, Lothar Müller, Lukas Bärfuss, Daniel Göske, Felicitas Hoppe, Joachim Kalka, Daniela Strigl, Michael Walter

Laudatory Address by Katharina Raabe

„Wie verliebte Verschwörer“ hätten sie dagesessen, frierend, in ihre Mäntel gehüllt, zurückgezogen auf ihre Datscha, die russischen Freunde, mit dem Buch, das Du, liebe Ilma, ihnen verbotenerweise mitgebracht hattest, damals, es waren noch tiefste sowjetische Zeiten.
„Wie verliebte Verschwörer“ –

Leser, eingehüllt, von der Außenwelt abgewandt, entzückt, versunken, sich der Exklusivität ihrer Gabe bewusst.

Die Gestalt Lesender, der Akt des Lesens, „Lesen ohne Ende“ durchziehen das vielgestaltige Prosawerk Ilma Rakusas. Doch diese Formel aus ihrem Essayband „Langsamer!“ gibt es nur einmal.

Nur eine Leserin wie sie konnte darauf verfallen. Eine Leserin, die sich nicht nur in Büchern, sondern in der Welt auskennt – die nicht nur Bücher liebt, sondern die Menschen und die Landschaften, die sie hervorgebracht haben. Städte, die wie Seiten alter Bücher zusammenkleben, Lwiw und Triest, Rom und Paris. Sie kannte Leningrad und seine Dichter. Und seit Jahrzehnten ist sie in den Länder Ost- und Südosteuropas unterwegs.

„Sie hat ihr Leben mit dem Schreiben vereint“, schrieb Terézia Mora, „seitdem gibt es eigentlich keinen Augenblick, in dem sie nicht schriebe, so kommt sie durch alle Räume und Zeiten“.

Die Unruhe des Unterwegsseins muss ihr von früh an vertraut gewesen sein. Das Wunder ihrer Produktivität und Konzentrationskraft – vielleicht verdankt es sich einer elementaren Erfahrung: der Geborgenheit in Büchern, in den Rhythmen der Gedichte, im Klang der mütterlichen Stimme, während der geographisch-politische Raum, in dem die Familie lebte, Mitteleuropa, damals, kurz nach dem Krieg, von Elend, Angst, Unsicherheit geprägt war.

Die Zerrissenheit dieser Welt und die Bücher, die zur Zuflucht werden - wer sich mit der Literatur dieses Raums beschäftigt, weiß, dass dies mit Eskapismus nichts zu tun hat.

Ilma Rakusa, die Lyrikerin, die Erzählerin, die Diaristin – erst vor weniger Wochen erschien „Wo bleibt das Licht“, fast 500 Seiten fesselnde Tagebuchprosa über unsere unmittelbare Gegenwart seit dem 24. Februar 2022 –, die Diaristin also und die Essayistin, die Übersetzerin und die Kritikerin: Alle diese Gestalten sind aus dem Verschwörermantel der Leserin hervorgegangen. Und um sie, wie es heute meine Aufgabe ist, als Essayistin und Kritikerin zu preisen, müssen wir diese Gestalt in Augenschein nehmen.

Meine Damen und Herren,

Lesen verwandelt – das Buch, schreibt Ilma Rakusa, ist ein „Wunderding der Verwandlung“, es hat die Kraft, „mich an etwas zu erinnern, als wäre ich gemeint“.

Was heißt das? Was für eine Selbstbefragung kommt hier in Gang? In welcher Sprache sie wohl stattfindet? Ungarisch, Slowenisch, Deutsch? Gibt es eine innere Stimmung, die darüber entscheidet?

Ilma Rakusas Lesen geht eine Verbindung ein mit dem Buch; mit Büchern in vielen Sprachen. Ich stelle mir dieses Lesen als ein lebenslang anschwellendes Kontinuum vor, aus den Schichten verschiedener Sprachen sich bildend, ein schwirrendes Summen und Klingen wie ein Orchesterwerk von György Ligeti.

Ihr Lesen steckt das Schreiben an. Sie liest eine Tschechow-Erzählung und schreibt eine Variante. Oder sie übersetzt. Oder das Gelesene drängt dazu, besprochen zu werden.

Was für eine beneidenswerte Gabe. Eine Relation zwischen eigenem und fremdem Text zu stiften, die selbst wieder Literatur wird oder Übersetzung oder Besprechung.

Übersetzen als denkbar genauestes Lesen und Nachbilden des Gelesenen in der eigenen Sprache.

Die Besprechung schließlich: ein Drittes gegenüber dem schöpferischen Schreiben und dem Übersetzen: Öffnung zum Publikum, Aufforderung zum Gespräch. Urteil. Wie die Übersetzerin bei jedem Satz Entscheidungen treffen muss, so muss die Kritikerin am Ende ein begründetes Urteil fällen. Niemand weiß das so gut wie eine, die auch Autorin ist: Wie man ein Werk an den Prämissen misst, die es selbst setzt.

Unter dem Titel „Fremdvertrautes Gelände“ erschienen 2011 zwei Bände mit Essays, Rezensionen und Reden zur russischen und zur Literatur Mittel-, Ost- und Südosteuropas. Mehr als 300 Texte, zwischen 1977 und 2011 publiziert: Hier ist fast alles Nennenswerte versammelt, was während dieser Zeit auf Deutsch in Westverlagen herauskam. Nehmen wir die Produktion der vergangenen vierzehn Jahren hinzu, so liegt ein halbes Jahrhundert besprochene osteuropäische Welt vor uns ausgebreitet, wie sie in Gestalt von übersetzter Lyrik, Prosa oder Essay die deutschsprachige Leserschaft erreichte.

Kritik und Chronik: Ilma Rakusas gewaltiges Neben-Werk könnte die Basis einer mitteleuropäischen Literaturgeschichte bilden.

Form ist auch hier alles. Eleganz und Genauigkeit zeichnen die Besprechungen aus. Eleganz, wie sie in ihrem gleichnamigen Essay schrieb, im Sinne von „Gewandtheit, Manieren, Respekt vor sich und anderen - Feinheit, Anstand“.

Virginia Woolf muss eine Leserin wie Ilma Rakusa im Sinn gehabt haben, als sie schrieb:

“A good reader will give the writer the benefit of every doubt; the help of all his imagination, will follow as closely, interpret as intelligently as he can.”

Kritik formuliert Ilma Rakusa so, dass sie verständlich und verdaulich ist – streng, wohlbegründet, stets verbindlich und verbindend, nicht verreißend und verletzend.

„Der Kritiker: der absolute Leser, der zur Feder gegriffen hat“, schrieb die russische Dichterin Marina Zwetajewa, „Lesen“ sei „vor allem Mitschaffen“.

Sie, die ihr Leben unablässig in Literatur verwandelte, ist einer der beiden Fixsterne in Ilma Rakusas literarischem Universum. Dank ihrer unerschöpflichen Kreativität war Zwetajewa fähig, extremen Lebensumständen wie Bürgerkrieg, Armut, Exil, Rückkehr in die totalitäre Sowjetunion zu trotzen, den Tod ihres Kindes an Unterernährung und die Verhaftung von Mann und Tochter während des Stalinterrors auszuhalten. Erst als ihre Lage absolut ausweglos geworden war, nahm sie sich Ende August 1941 das Leben.

Ihren Dichterzeitgenossen widmete Zwetajewa umfangreiche Essays. „Um sich ein Urteil über eine Sache leisten zu können, muss man in dieser Sache leben und sie lieben“, forderte Zwetajewa. Sie investierte Zeit und Energie, „um ins Labor eigener und fremder Schöpfungen hineinzuleuchten“, wie Ilma Rakusa schrieb, die der Dichterin über ein halbes Jahrhundert lang treu geblieben ist: als ihre Übersetzerin und Interpretin.

Treue und Kontinuität sind das eine. Die Bereitschaft, sich auszusetzen, das andere.

Zwetajewas eruptiver Lyrik, ihrer ausufernden Prosa, ihren obsessiven Tagebüchern lesend standzuhalten erfordert neben starken Nerven auch analytischen Verstand und philologische Geduld. Nur wer in den hochgespannten, zugleich massiven und zerrissenen Texten das Geräusch einer gewalttätigen Zeit mithört, jener Stimme folgt, die unter Aufbietung aller Kräfte einem tragischen Leben unerhörte Reime und Rhythmen, der Sinnlosigkeit des erniedrigenden Alltags eine Hunderte Zeilen lange Versdichtung entgegenstellt, versteht diese Dichterin.

Der andere Fixstern heißt Danilo Kiš.

Niemandem hat Ilma Rakusa so viele und so profunde Essays gewidmet wie diesen beiden polyglotten Heimatlosen, ins Exil getriebenen, viel zu früh gestorbenen Genies.

Kiš, den jugoslawischen jüdischen Schriftsteller besuchte sie 1983 in Paris, um ihm Fragen zu seinem Buch „Grabmal des Boris Dawidowitsch“ zu stellen:

„Wir querten den Kiš-Kontinent, den ich übersetzend immer tiefer ergründete, wir parlierten auf ungarisch, serbokroatisch und französisch.“

Sein Werk verkörpert eine doppelte Erfahrung: den verschwundenen Kontinent des mitteleuropäischen Judentums (in der Romantrilogie über den in Auschwitz verschollenen Vater); und in Büchern wie dem „Grabmal“ das Gesicht der Gulag-Zivilisation. Es war vor allem der Reichtum an literarischen Formen, vom Kenotaph zu den Listen und Verzeichnissen, die Durchdringung von Dokument und Fiktion, die Ilma Rakusa faszinierte. „Form als Streben, dem Leben und den metaphysischen Zweideutigkeiten Sinn zu verleihen; Form als Möglichkeit der Wahl (…) Form als Gegengewicht zur Desorganisation der Barbarei (…).“ Diesen Sätzen von Kis begegnen wir bei Ilma Rakusa immer wieder.

Kontinente und Kontinuitäten. Fixsterne, an denen sich eine Literaturkritikerin orientiert.

Der ungarische Schriftsteller István Eörsi stellte vor vielen Jahren eine Verwandtschaft fest zwischen Kiš, Zwetajewa und Rakusa: „Im Leben aller drei suchen beziehungsweise suchten die Stücke eines zerrissenen Europas zueinander.“

In ihrer skeptischen Erwiderung benannte Rakusa ihren eigenen Ort: „Daheim im Dazwischen.“ Bei aller inneren Nähe und Zugehörigkeit, wahrt sie als Leserin und Interpretin Distanz.

Meine Damen und Herren,

Das Entdecken, Übersetzen und Vermitteln hat Ilma Rakusa als ihre „Lebensform“ bezeichnet. Sie begleitet scheue Dichter und eigensinnige Schriftstellerinnen, die es, dank der Übersetzung, in die deutsche Literaturszene verschlagen hat.

Thront man als ungarischer „Newcomer“ auf dem Podium eines Literaturhauses, und sie sitzt als Moderatorin daneben, fühlt man sich beschützt; sie versteht, was man sagt, während das Publikum der Dolmetscherin zuhört, man fühlt sich weniger fremd; spürt nicht, dass eigentlich niemand auf einen gewartet hat. Zoltán Danyi habe ich so erlebt, den zarten, klugen Schriftsteller aus Serbien, den sie gesprächshalber, über seine Poetik redend, zugleich sein Buch vorstellend, durch einen Abend geleitete, von unvergesslicher Eindringlichkeit.

Ähnlich wird es Ales Rasanaŭ ergangen sein, einem der großen europäischen Lyriker, wie Ilma Rakusa nicht müde wird zu erklären, ein Dichter der Stille aus Belarus, einem Land, das inzwischen völlig aus unserem Orbit verschwunden ist.

Dürfen Kritiker mit Autoren befreundet sein, die sie besprechen? Wie ist ein unbestechliches Urteil möglich, wenn man den Urheber nicht verletzen möchte? Die fehlende Beißlust war es, die Sibylle Lewitscharoff vor vielen Jahren beklagte. Die Literaturkritik kranke an Fadheit und Harmlosigkeit. Wo bleibe die scharfzüngige Polemik? Der krachende Verriss?

Ilma Rakusa ist nicht für Bissigkeit bekannt, aber auch nicht für fehlenden Scharfsinn. Ihre Instrumente sind nicht weniger geschliffen als die ihrer Kritikerkollegen. Aber Polemik? Geht es nicht zuallererst um Verständigung?

Wer den Kiš-Kontinent erforscht und das Zwetajewa-Massiv ausgelotet hat, weiß, was Literatur vermag. Strenge schlägt nie in Überheblichkeit um. Als Autorin ist ihr bekannt, wie empfindlich ein Wort trifft, das als verständnislos, unfair, ja niederträchtig aufgefasst werden muss.

Sie bringt Lektüren zum Reden. Sie ist das Gedächtnis der südosteuropäischen Literaturen: Nachrufe auf Maruša Krese, Dubravka Ugrešić, David Albahari, Dževad Karahasan – sie hat sie alle gekannt, vom ersten Buch an. Manchen half sie, einen deutschen Verlag zu finden. Allen war sie persönlich verbunden, mit etlichen sie jahrzehntelang befreundet. Sie beriet Lektorinnen und Verleger, unterstützte die Etablierung neuer Autoren mit Nachworten oder begleitenden Artikeln.

Manchmal war sie die Einzige, die noch etwas besprach – den Briefband Warlam Schalamows zum Beispiel.

Ich komme zum Schluss.

Das vielsprachige Kontinuum; Kiš und Zwetajewa; die zerrissene mitteleuropäische Heimat, die Treue und Kontinuität, das Gespür für die Stimmungslagen, die historischen Wunden, die poetischen Kontexte. All das hat heute kein großes Publikum mehr. Die Verbliebenen gleichen einer verschworenen Gemeinschaft „Literatur“ hat Ilma Rakusa einmal geschrieben, „leistet das Paradox, glücklich zu machen, auch wenn sie von Unglück spricht“.

Daran hat sich nichts geändert.

Welche Wahrnehmungsintensität, welche Zugewandtheit zu anderen Menschen, welche Anteilnahme an den Weltereignissen eine durch unentwegtes Lesen und Schreiben geformte Existenz überhaupt erst hervorbringt – dafür ist Ilma Rakusa das lebendige Beispiel.

In Russland müssen sich Leser heute wieder in die Natur verkriechen, auf die Datscha, um aus der Überwachungszone zu kommen. In der Ukraine muss sich die vom Krieg kurzzeitig zum Verstummen gebrachte Literatur neu finden, wie Serhij Zhadan sagte, und neu begründen. Der Anwesenheit und Teilnahme Ilma Rakusas können sie sich sicher sein. Ihrer Verbundenheit, Zugehörigkeit, in Zeiten wie diesen.

Was immer sie schreiben – sie wird es lesen und davon berichten.

Und die verbliebenen Leser, Leserinnen, denen sie ein Buch zusteckt, werden sich, wenn es kalt wird, in den Mantel hüllen, wie verliebte Verschwörer.

© Katharina Raabe