Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Walter Höllerer

Schriftsteller und Literaturwissenschaftler
Geboren 19.12.1922
Gestorben 20.5.2003
Mitglied seit 1959

... für seine literarischen Aktivitäten, die er von Berlin aus als Anreger, Vermittler, Herausgeber und Lehrer unermüdlich und originell entwickelt hat.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Peter de Mendelssohn
Vizepräsidenten Karl Krolow, Horst Rüdiger, Dolf Sternberger, Beisitzer Horst Bienek, Walter Helmut Fritz, Rudolf Hagelstange, Geno Hartlaub, Gerhard Storz, Wolfgang Weyrauch

Laudatio von Ludwig Harig
Schriftsteller und Übersetzer, geboren 1927

Walter Höllerer ist ein Igel, aber mit Locken, anstatt mit Stacheln. Das hat einen großen Vorteil, man sieht ihm nämlich seine Widerborstigkeit auf den ersten Blick gar nicht an. Walter Höllerer ist widerborstig, ohne gleich mit den Borsten zu operieren. Er ist ein Igel, wie er bei Tiervater Brehm im Buche steht, »ein drolliger Kauz, welcher sich ehrlich und redlich, unter Mühe und Arbeit durchs Leben schlägt«. Aber lebt er den größten Teil des Jahres hindurch einzeln oder paarweise und führt er ein vollkommen nächtliches Leben, indem er sich erst nach Sonnenuntergang von seinem Tagschlummer ermuntert?
Hier schon entstehen die ersten Zweifel, ob man ihn überhaupt festlegen und in eine Nomenklatur einordnen kann. Walter Höllerer ist nämlich nicht nur ein Igel, sondern er ist auch ein Hase, von dem es bei dem alten Brehm heißt, er sei »ein gewandter Bursche, welcher besser bergauf als bergab rennen kann«. Damit ist Walter Höllerer besser beschrieben: ein drolliger Kauz und ein gewandter Bursche, einer, der sich ehrlich und redlich durchs Leben schlägt, indem er beständig bergauf rennt. Das erinnert an eine Geschichte, von der es heißt, sie sei lügenhaft zu erzählen, aber wahr sei sie doch. Und so ist es insgeheim ja auch: die Wahrheit ist gar nicht glaubhaft. Walter Höllerer ist nämlich der Hase und der Igel zugleich.
Indem ich das behaupte, komme ich in die Versuchung, die ganze Geschichte vom Hasen und vom Igel zu erzählen. Aber indem ich Walter Höllerer den Igel nenne, der zugleich der Hase, und den Hasen nenne, der zugleich der Igel ist, berühre ich das Wesentliche der Geschichte, daß nämlich die Beine zu besseren Dingen zu gebrauchen seien als zum Spazierengehen. Der Igel konnte ja allerhand vertragen, wie wir wissen, aber auf seine Beine ließ er nichts kommen, weil sie wirklich von Natur aus krumm geraten waren, und so verließ er sich eher auf seine Pfiffigkeit, während der Hase, der auf seine Weise ein vornehmer, aber auch ein hochfahrender Herr war, wohl gleichfalls etwas auf seine Beine zugute hielt, aber nichts anderes als die Behendigkeit im Kopf hatte.
Wie ist das nun bei Walter Höllerer, der Hase und Igel zugleich ist? Als Hase jagt er die Furche hinauf und hinunter und der Einsicht nach, er sei stets als erster dagewesen, obwohl er als Igel immer schon da war und die Einsicht besitzen mußte, das ganze Rennen und Hasten sei gar nicht vonnöten. Man sagt zwar landläufig, was der eine in den Beinen hat, das hat der andere im Kopf und bevorzugt diesen mithin, ohne zu bedenken, daß die Beine, diese anthropologischen Kopfstützen, den ganzen Mechanismus erst auf den Boden der Tatsachen stellen. Walter Höllerer hat da keine Not, denn er hat es in den Beinen und im Kopf.
Der Igel als Igel »stand vor seiner Tür, hatte die Arme untergeschlagen und quinquillierte ein kleines Liedchen vor sich hin, so gut und so schlecht, als nun mal am lieben Sonntagmorgen ein Igel zu singen pflegt«. Er nahm die Welt wahr. »Die Sonne war hell am Himmel aufgegangen, der Morgenwind ging warm über die Stoppeln, die Lerchen sangen in der Luft, die Bienen summten im Buchweizen, und die Leute gingen in ihrem Sonntagsstaat zur Kirche, und alle Kreatur war vergnügt, und der Igel auch.« Diesen Wahrnehmungen des Igels als Igel standen die Einbildungen des Hasen als Hasen gegenüber. Der Hase als Hase bildete sich nämlich etwas auf seine langen Beine ein.
Der Hase als Igel und der Igel als Hase dagegen verfährt wie Walter Höllerers Gustav und G. Er nimmt diese Wahrnehmungen in Einbildungen wahr und bildet sich diese Einbildungen in Wahrnehmungen ein, worauf die wahrgenommenen Wahrnehmungen und die eingebildeten Einbildungen zu wahrgenommenen Einbildungen und eingebildeten Wahrnehmungen werden, womit er sich wahrnehmend einbildet und einbildend wahrnimmt, daß flinke Beine und ein rascher Kopf zusammengehören.
Aber nicht nur Tiervater Brehm, der den Igel als einen drolligen Kauz und den Hasen als einen gewandten Burschen beschreibt, sondern auch die Preisrichter der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt haben erkannt, daß Walter Höllerer sich ehrlich und redlich durchs Leben schlägt, indem er ständig bergauf rennt. Die Preisrichter sagen: »Aktivität«, und so heißt es in der Preisbegründung von ihm, er sei ein Anreger und ein Vermittler, er sei originell und unermüdlich. Und tatsächlich, er ist ein Anreger wie der Igel, der gesagt hat: »Es kommt auf einen Versuch an«, und er ist ein Vermittler wie der Hase, der gesagt hat: »Von mir aus können wir es ja mal versuchen.« Er ist originell wie der Igel, der nämlich seine Frau in den strategischen Plan einbezieht, und er ist unermüdlich wie der Hase, der wie der Sturmwind durch die Furchen fegt, daß ihm die Ohren am Kopfe fliegen.
Walter Höllerer, in diesem Augenblick aber schon längst jenseits von Hase und Igel, hat in originellen und unermüdlichen Aktivitäten, anregend und vermittelnd, die Wahrnehmungen in Wahrbildungen und die Einbildungen in Einnehmungen verwandelt. Wahrbildend setzt er keine Grenzen, sondern markiert, und einnehmend greift er nicht gleich nach dem Allgemeinen, sondern begnügt sich mit der Einzelheit. Auf diese Weise bildet er die Wahrbildungen in Einnehmungen wahr und nimmt sogleich die Einnehmungen in Wahrbildungen ein, so daß wahrgebildete Wahrbildungen und eingenommene Einnehmungen zu wahrgebildeten Einnehmungen und eingenommenen Wahrbildungen werden, womit einige notwendige Widersprüche wahrbildend eingenommen und einnehmend wahrgebildet werden, nämlich die folgenden:
bei diesen eingenommenen Wahrbildungen ist Walter Höllerer nicht mit Verlappungen und Kesselbildungen, sondern mit zarten Markierungen ganz anderer Art, und bei diesen wahrgebildeten Einnehmungen ist er nicht mit Kohl und Salat, sondern mit wortwörtlichen Einzelheiten befaßt. Er sagt: »Lange Gedichte als Vorbedingung für kurze«, und das ist eine Markierung, die schon längst keine mehr ist; er sagt: »Laß alle Feiertäglichkeit beiseite, wenn es dir ernst ist«, und das ist eine Einzelheit, die schon im Zusammenhang steht mit Goethes zarter Empirie. Diese notwendigen Widersprüche zeigen Walter Höllerers lockige Widerborstigkeit und seine widerborstige Gelocktheit. Walter Höllerer ist nämlich keine Märchenfigur, die entweder gut oder böse ist, treu wie der eiserne Heinrich oder tückisch wie das Rumpelstilzchen, oder, wie in unserer Geschichte, pfiffig wie der Igel oder behend wie der Hase, nein, Walter Höllerer ist eine dialektische Figur, die den Widerspruch in sich selber hat. Er ist Gustav Lorch und sitzt in Berlin auf dem Teufelsberg, und er ist seine Gegenfigur G und sitzt in Rom auf dem Scherbenhügel, und indem er nach dem anderen Ausschau hält, betrachtet er sich selbst.
So ist es nicht erstrebenswert, einfach nur dialektisch zu denken, sondern dialektisch zu sein. Das dialektische Denken der dialektisch Denkenden fordert einen widrigen Absolutismus zutage, während das dialektische Denken der dialektisch Seienden das schöne Relative hervorkehrt, indem jedes und alles immerfort seine Widersprüche zeigt, die nutzbringend aufgehoben und wieder neu ausgesprochen werden. Vor Denkmälern und vor Phantomen sträubt sich Walter Höllerers lockiges Stachelhaar, in Museen und in Systemen sieht man ihn fröhlich Kobolz schlagen, und deshalb müssen wir ihn preisen.
Nun ist der Hase im Märchen bekanntlich ein hoffärtiger Hase und der Igel ein Schweinigel, was man beides von Walter Höllerer ja nicht sagen kann. Obgleich er besser bergauf rennt, läuft er mit dir - dirzuliebe auch mal bergab; und als er gefreit hat, hat er es genauso gemacht wie der Igel aus dem Märchen, er hat sich eine Igelin zur Frau genommen aus Vorsicht vor dem behenden Hasen. Und was seine Aktivitäten betrifft, so geschehen sie folgerichtig alle von Berlin aus, wo es ja den Igelkolbensteig und wo es die Hasenheide gibt.