Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Silvia Bovenschen

Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin
Geboren 5.3.1946
Gestorben 25.10.2017
Mitglied seit 2013

... deren sprachmächtige Essays in der Tradition Lichtenbergs, Simmels und Adornos von den Rändern her ins Zentrum von Politik, Gesellschaft und Kultur vorstoßen.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Christian Meier
Vizepräsidenten Peter Hamm, Ilma Rakusa, Klaus Reichert, Beisitzer Harald Hartung, Peter von Matt, Uwe Pörksen, Lea Ritter-Santini

Eine Sache der Vorläufigkeit

Ein älterer Herr ist immer jünger als ein alter Herr. Der Verlust von Lebenszeit blamiert die Grammatik. Was heißt Verlust? Von Verlust könnte doch die Rede nur sein, wenn es ein bestimmtes Kontingent Zeit gebe, auf das man ein Anrecht hätte, mit dem man wuchern könnte. Hier sind aber, das lehrt die Erfahrung, Überraschungen möglich. Man stirbt nicht vor der Zeit, sondern nur zu einer Zeit. Der Rest ist Statistik und Interpretation. Besser ist es, man wird ein wenig älter.
Wenn man älter wird und ist nicht Luis Trenker oder Jean Améry, wird man die Verunmöglichung eines alpinen Gipfelsturms verschmerzen, weil er niemals, nicht einmal jemals, im Horizont der Möglichkeit stand.
Wenn man älter wird und hat dies und jenes verpaßt, aber auch dies und jenes getan, zum Beispiel einige Essays geschrieben, dann kann es passieren, daß man einen Preis erhält, und dann muß man eine Dankrede halten. Das hat man dann davon.
Und so kommt man auf die Idee, ein paar Worte über den Essay und das Älterwerden zusammenzufügen.
Der Essay gilt als Gattungsbastard. Sowohl seine Liebhaber als auch seine Verächter sehen in ihm eine Mischform − Mischung von Begriff und Anschauung, Mischung von Persönlichem und Allgemeinem von sprachlicher Strenge und poetischem Umweg, von Tradition und Überraschung. Und auch dies betonen die Gattungswächter übereinstimmend: er gründet in der Erfahrung. Der Lebenserfahrung. Ein Wort, das mir noch aus Jugendtagen unangenehm in den Ohren klingt. Da sollte der leere Hinweis auf die Fülle alter Erfahrung die Möglichkeit eigener, junger Erfahrung ersticken. Das ist aber nicht gemeint. Gemeint ist eine virtuos zur Sprache gebrachte »offene geistige Erfahrung«, von der zum Beispiel Theodor W. Adorno in seinem Essay über den Essay spricht, und auch Odo Marquard – eine Stimme aus einer anderen Richtung – betont, daß die »essayistische Philosophie Lebenserfahrung – also Empirie verarbeiten« müsse. Diese Erfahrung, die die Essayistik adelt, soll sprunghaft Evidenzen schaffen, und so das einsträngig Abgeleitete auf kurzem Wege einholen, ja in der Kombinatorik expressiver Akte über es hinausgehen. Im Glücksfall, versteht sich. »Glück und Spiel«, so schreibt Adorno, »seien ihm«, dem Essay, »wesentlich«. Aber nicht immer ist Glück in diesem Spiel mit gemischten Karten. Nicht immer, nur bestenfalls, wird der Essay zu jenem »Kraftfeld«, von dem der Philosoph spricht; und nur bestenfalls kann der Essayist darauf hoffen, daß er selbst zum »Schauplatz« eines sprachlichen und gedanklichen Geschehens wird, auf dem sich die einzelnen Momente »teppichhaft« miteinander verknüpfen. Bestenfalls, wie gesagt. Die Sache kann gewaltig schiefgehen. Wir können uns verlieren. Der Vertrauensschwund in tradierte Routen und schützende Nischen eignet dem Essay von Anbeginn.
Diejenigen Philosophen, sagt Marquard, die Fachhocker und Fachflüchter zugleich sind, seien am besten disponiert für die Essayistik. Aber wie kommt man, zumal auf der Flucht, wieder auf den heimischen Hocker?
Wie kann ein Gebilde, das vom Spiel der Begriffe, von Aphorismen und Pointen lebt, dem die Korsettstangen der logischen Operationen, der richtunggebenden Diskursivierungen, der strengen Deduktionen gezogen sind, zusammengehalten werden? Ich spreche nicht von Einheit und Geschlossenheit, nur von Halt und Kontur. Wie wahrscheinlich sind Ankunft oder Rückkunft? Und auch diese schöne Hoffnung kam ins Wanken: daß nämlich der dialektisch geschulte Blick aufs je Einzelne, Besondere das Allgemeine, Verbindliche verläßlich zum Vorschein zaubern werde. Schon bei Adorno, bei dem diese gedankliche Bewegung vermutet werden kann, wenn auch nicht so automatenhaft wie hier skizziert, überwiegen die Hinweise auf das Risiko: Der »Essay als Form«, sei »dem Irrtum« ausgesetzt: »für seine Affinität zur offenen geistigen Erfahrung« habe »er mit dem Mangel an jener Sicherheit zu zahlen, welche die Norm des etablierten Denkens wie den Tod« fürchte. Wäre in der etwas unzulässigen Überspitzung dessen der Essay eine Sache der Todesmutigen, so ist er nach Marquard eher geeignet, die Todesangst zu mildern, menschliche »Endlichkeitsdefizite« zu kompensieren: In den aphoristischen Verknappungen des Essays würden »komplizierte und lange Gedanken der Kürze des Lebens« angepaßt.
»Das Leben als Sein zum Tode ist schwer; Essays pflegen die Leichtigkeit als Form, die die Menschen brauchen, um sich selbst auszuhalten.«
Ich möchte das gerne auch lesen als eine Aufforderung zur Höflichkeit den Älteren gegenüber. Bitte machen Sie es kurz und pointiert, mein Leben dauert nicht mehr lang. Bitte machen Sie es auch recht leicht, meine Sterblichkeit ruht schon schwer genug auf mir.
Kurzum: auf die Dauer seines schon längeren Lebens und in der Sorge um dessen Endlichkeit braucht der ältere Mensch mehr gekürzte Leichtigkeit als der jüngere.
Um einem Einwand vorzubeugen: natürlich gibt es sie, die glatten, munteren, zukunftsfrohen Alten, bei denen man allerdings immer den Eindruck hat, daß sie ihre enervierende Robustheit der Ignoranz verdanken, mit der sie die Erfahrungen, vor allem die schmerzlichen, von sich fernzuhaken wußten. Und ebenso gibt es die Jungen, vor der Zeit gebeugt von der Last zeitlich gestauter Erfahrungsintensität, denen man die Jugend und einen etwas längeren Atem gerne befehlen möchte.
Da beide Typen aber nicht der Regelfall sind, nehmen wir die anthropologische Beglaubigung der Essayistik im Rekurs auf Erfahrung und Hinfälligkeit und Erfahrung der Hinfälligkeit ins essayistische Kalkül.
Wie aber sieht es mit dieser endlichkeitsbewußten Bestätigung aus, wenn wir, wie dieser Tage, die ja auch noch unsere sind, zunehmend die Unvermeidbarkeit und Willkür des Todes selbst in Frage gestellt sehen. Schon wollen sich Leute nach ihrem Tod einfrieren lassen mit dem Ziel einer zukünftigen Wiederherstellung, träumen von geklonten Ersatzteillagern und lebensverlängernden Eingriffen in die menschliche Keimbahn.
Ich habe gelernt, daß es einmal eine Zeit gab im mittleren Alter unserer dokumentierten Geschichte, in der man den Anfang und das Ende der menschlichen Tage genau zu kennen glaubte. Beides: paradiesischer Beginn und Jüngster Tag schien biblisch verbürgt. Und ich habe auch gelernt, daß diese eschatologischen Vorstellungen von anderen geschichtsphilosophischen und naturwissenschaftlichen Konstrukten, die eine Aufweichung der Eckdaten beinhalteten, verdrängt wurden. Mir scheint, eine ähnliche Korrosion widerfährt im Moment unseren Vorstellungen vom individualgeschichtlichen Gang der Dinge. Der Anfang wird gelegentlich schon aus dem Leib ins Reagenzglas verlegt und die Vermeidbarkeit des Endes ernsthaft diskutiert. Ist das einfach nur starker Tobak? Ein Wahnwitz? Ich weiß es nicht. Ich kann mir als Konsumentin phantastischer Literatur mit Not noch vorstellen, daß man dereinst bei fortgeschrittenem Wissensstand den todeserstarrten Körper verlebendigt. Wie man aber jenes Konglomerat aus Wissen und Intuition, gelebter Erfahrung und gedanklicher Kombinatorik, das uns unter anderem in die Lage versetzt, einen Essay zu schreiben, über die manipulierte Eiszeit auf die Festplatte bringen will, dazu reicht nicht einmal mehr meine Phantasie − und für wissenschaftliche Aussagen in dieser Sache fehlt mir jedwede Kompetenz.
Darauf kommt es mir aber auch gar nicht an. Allein, daß es gedacht und im Ansatz schon gemacht und in seriösen Wissenschaftsmagazinen erörtert wird, allein, daß es nicht länger mehr eine Angelegenheit nur der Götter und der Science-Fiction ist, allein schon dadurch, daß es als mögliche Möglichkeit in Erscheinung tritt, verwirbelt es unsere tradierten Vorstellungen von Lebenszeit, Lebensfrist und Lebenserfahrung – völlig unabhängig davon, ob diese Visionen von einer sich öffnenden Zukünftigkeit für den Einzelnen einzig Horror oder doch auch Hoffnung bedeuten. So, wie mit der Möglichkeit, den Körper zu klonen, ihm organische, mechanische, elektronische Antriebs- und Funktionsteile zu implantieren und ihn biochemisch zu stimulieren und zu steuern, die schönen Illusionen von der Ganzheit und Abgeschlossenheit und Natürlichkeit des menschlichen Leibes einmal schwanden, so sind wir jetzt auch in unseren gewohnten Vorstellungen von den zeitlichen Dimensionen unseres Daseins zusätzlich irritiert. Wir sind dem nicht in allen Teilen gewachsen, das aber ist eine Formulierung aus der Vergangenheit, aus einer Zeit, in der der Körper noch Schicksal war und man Wachstum nicht erzwingen konnte. Ein Blick auf unsere Sportler belehrt uns eines anderen.
Ein bißchen Mühe muß auch für die Älteren schon noch sein. Nichts läßt uns so alt aussehen, wie die willentliche Nichtachtung der gewaltigen biotechnologischen Umbrüche, während sie längst schon unser Dasein überwölben.
Es wäre interessant, lange genug zu leben, um noch zu sehen, was diese Irritation mit unseren Texten macht. Welche Auswirkungen wird all das auf die Erzählungen der Wissenschaft, der Kunst und der Essayistik haben? Wird es diese Sortierungen weiterhin in der gewohnten Weise geben?
Vorläufig aber ist der Essay fein raus. Mir war immer der Gedanke lieb, daß er eine Sache der Vorläufigkeit ist. Und zwar im doppelten Sinn, in dem, daß er sich forsch vorauslaufend spielerisch einmischt ins Ungewisse, in Angelegenheiten, die noch nicht so recht ausgemacht sind, aber auch in dem Verständnis, daß er sich, auf Deckung bedacht, im Vorläufigen bewegt, das heißt, die Wahrheits- und Geltungsansprüche von Kunst und Wissenschaft gar nicht erst für sich bemüht. So gesehen ist der Essay zugleich eine Sache der Mutigen, die sich den Risiken, von denen Adorno spricht, aussetzen, und der Feigen. Geht es schief, so war es eben immerhin ein Versuch; geht es gut, so war es ein kleiner Gewinn; geht es aber einmal ganz daneben, so war der Mut der Dummen im glücklosen Spiel.
Und läßt sich nicht auch sagen, daß die Vorläufigkeit das Lebensgefühl der Älteren fermentiert? Vielleicht nicht immer im ausdrücklichen Bewußtsein eines ›Vorlaufen(s) zum Tode‹, sondern eher im alltäglichen Trotz des ›Vorläufig müßt ihr noch mit mir rechnen‹.
Jean Améry gab seiner Schrift Über das Altern – einem Traktat, der aber durchaus als Essay durchgehen kann – den Untertitel »Revolte und Resignation«. Er beschreibt die unausweichlich schlechten Alternativen, in die der Alterungsprozeß uns treibt: sich entweder lächerlich zu machen im Versuch, den Ausformungen des Neuen mit fliegenden Rockschößen hinterherzuhasten, oder ebenso untauglich – sich gegen diese zu immunisieren, etwa durch die Flucht in Schutzbehauptungen wie jenen: Man halte sich an das Bewährte: Schließlich sei alles schon einmal dagewesen und es gebe nichts wirklich Neues hienieden. In der Nacht sind alte Katzen grau.
Jean Améry bringt das Dilemma des Alterns auf die Formulierung, »daß man nicht gegen die Zeit stehen« könne, ihr aber auch nicht »nachjagen« dürfe, »daß man aber auch nicht den Ausweg« habe, »sich aus dem Zeitablauf herauszunehmen.«
Die alten Trostformeln helfen nicht: Man ist nicht so alt, wie man sich fühlt. Wir fühlen uns so alt, wie die anderen uns sehen. Ihr Blick ist die Negation unseres Selbstbetruges; und der Berg, den der alternde Alpinist Améry nicht mehr »zu ersteigen vermag«, ist, wie er schreibt, die »Negation seiner Person«. Die schwindendenVermögen und der Blick der anderen signalisieren unser soziales und kulturelles Alter. Da helfen weder »Jugendmaske« noch »lügenschweres Altersidyll«, Améry zieht daraus die Konsequenz. »Er macht die Negation durch den Blick der anderen zu seiner Sache und erhebt sich gegen sie. Er läßt sich auf ein unableistbares Unternehmen ein. Das ist seine Chance und ist, vielleicht, die einzige Möglichkeit, in Würde zu altern«.
Eine Artistik des Paradoxen! Irgendwann werden wir auch darin scheitern, denn es bedarf einiger Kraft, die Gegenläufigkeit von Fatalismus und Aufbegehren schon beim Brötchenholen aufzubauen und auszuhalten. Irgendwann brechen auch diese lebensweltlichen Kraftfelder zusammen.
Etwas einfacher ist es, vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen einen vorläufigen Essay abzuschließen, sich in gebotener Kürze durch das Unterholz solcher Widersprüche zu schlagen. Die Verwandtschaft des Essays mit dem Spiel liegt wohl auch darin, daß man im Unterschied zum Leben immer wieder aufs neue beginnen kann, im Zeichen von Revolte und Resignation, Mut und Feigheit, Vorläufigkeit und Nachdenklichkeit.