Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Sibylle Wirsing

Journalistin und Theaterkritikerin
Geboren 27.5.1936

... deren Beschreibungen und Urteile durch blitzende Genauigkeit des Ausdrucks und durch den tapferen Ernst hervorragen...

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann
Vizepräsidenten Ludwig Harig, Hans-Martin Gauger, Helmut Heißenbüttel, Beisitzer Beda Allemann, Günter Busch, Hans Paeschke, Lea Ritter-Santini, Bernhard Zeller, Ernst Zinn, Ehrenpräsidenten Dolf Sternberger, Bruno Snell

Laudatio von Peter Wapnewski
Mediävist, geboren 1922

I

»Fontane war offenbar nicht darauf aus, sich auf die explosiven Sujets, die ihm Berlin anbot, hautnah einzulassen«. Das unterscheidet ihn von Sibylle Wirsing, – der wir die eben zitierte Feststellung verdanken.(1)
Denn sie läßt sich ein, hautnah, und der Schmerzschwelle verbietet sie, eine Grenze zu sein. Kritik als Passion, dem Erfahren des Leidens gewidmet wie der Leidenschaft. Theaterkritik als öffentliches Amt, – und das unterscheidet sie von der anderen Spielart der literarischen Kritik, von der Buchrezension. Denn wie die Buchlektüre eine Sache ist der individuellen Konfrontation, der eigenbrötlerischen Begegnung, ja eine der Einsamkeit, so ist auch die Veröffentlichung solcher Lektürearbeit, also die Rezension, eine Sache des Umgangs mit jeweils einzelnen Lesern, und sei deren Zahl auch nicht gering. Anders der Theaterkritiker. Er hat Teil an einem gesellschaftlichen Ereignis, ist Glied in einem Kollektiv, wird von ihm mitbestimmt so wie er es mitbestimmt. Theater: Ein Akt der städtischen Kultur, Bestandteil des Selbstgefühls von Metropolen und ihres Verständnisses von sich selbst, und es sind Tausende, die auf das Wort des Kritikers ungeduldig warten nach der Premiere: begierig, das eigene Urteil bestätigt zu sehen; bereit, den Dissens zu verpönen. Der Theaterkritiker ist Teil einer Aktualität, und wo die längst verfaßte Buchrezension es sich gefallen lassen muß, auch über Wochen hin auf ihren Druck zu warten, weil es der Redaktion so behagt, da steht und fällt das Wort des Theaterkritikers mit seiner unmittelbaren Gegenwart, ist in strikterem Sinne Journalismus» als das buchliterarische Feuilleton; ist Tag-Werk, geschrieben über Nacht. Und ist in höherem Maße der Not ausgesetzt, sich zu behaupten gegen die Andersmeinenden, die ihre Empörung nicht äußern über die Distanz der Briefe und Repliken, sondern die zugegen sind, in Ruf- und Sehweite zugegen als Autoren, Akteure, Publikum.

II

Kritik, Theaterkritik als Öffentlichkeitsarbeit. Da schreibt ein Kulturkorrespondent dem Verleger des Blattes, für das er arbeitet: »... muß ich um Entschuldigung bitten, daß ich für den verflossenen Monat keinen Bericht für das Morgenbl. überschicke. Es hat sich hier so wenig ereignet, daß ich keine 10 Zeilen damit anfüllen könnte, und es ist besser, daß ich dieses wenige auf den nächsten Monat erspare«. Unterschrieben: »Hochachtungsvoll Dr. Börne«, und die damals so ereignislose Stadt war Frankfurt (am 10. März 1821).(2)
Für den indes, der sich einläßt, kann nahezu jedes Sujet explosiv werden, und dies zumal in Berlin im dritten Drittel dieses Jahrhunderts.
Wie geht das vor sich? Man muß sie beobachten, Sibylle Wirsing, und sich durchgehen lassen was sie sich nie erlaubt, nämlich Blick und Aufmerksamkeit abzuwenden von der Bühne und zur Seite sehen, da wo sie ihren Platz hat: Balancierend auf der Kante ihres Sitzes, als werde sie aus dem Zuschauerraum hineingesogen in den der Bühne, gänzlich herausgelöst aus Zeit und Raum des Publikums und magisch teilhabend an der Wirklichkeit des Spiels und seiner Wunder und Wunderlichkeit. So nicht nur in der Generalprobe, nicht nur bei der Premiere, so auch noch beim dritten und vierten Besuch der gleichen Inszenierung. Gebannt in zarter Unerbittlichkeit und sanfter Radikalität, nicht bereit, Konzessionen welcher Art auch immer an eine Wirklichkeit zu machen, die nicht die Dignität des Realismus hat (und von der noch die Rede sein wird), den Wirklichkeitsanspruch also der Kunst. Ihre Antwort dann auf die Provokation, auf die Frage, die jede Inszenierung ist: gläserne Sätze, transparent und durchleuchtet von rationaler Strenge, Prosa mit dem Schleier der Poesie über ihrer Sachlichkeit, vibrierend unter Präzisionsdruck, den gehobenen Ton mit gelegentlicher Lässigkeit der Alltagssprache kunstvoll und sehr kalkuliert mischend. Wie hört sich das an?

III

Das verzichtet auf Nacherzählung und Stofflieferung. Das reißt mit der Ouvertüre gleich die Himmel und Abgründe des Problems auf. Man höre, was die Kritikerin in den ersten Sätzen ihrer großen Rezension von Grübers »Faust«-Inszenierung mit Minetti in der Volksbühne (März 1982) sagt, – über jenes eine weltentragende, von Welten gebeugte »Ach« nämlich:(3)

»[Ein Faust], dessen Anfangsklagelaut jäh unsere Jubiläumsgemütlichkeit sprengte. Das ›Ach!‹, mit dem der Gelehrte die Aufzählung seiner vielen Studienfächer einleitet, war kein gewohnheitsmäßiger Stoßseufzer oder die Äußerung von Überdruß und Depression, sondern ein ächzender Aufschrei. Den Disziplinen, die seine intellektuelle Lebenslast ausmachen, der Philosophie, Juristerei, Medizin und Theologie, schickte er diesen Ruf der endgültigen Verzweiflung voraus – ein Ach wie ein Achsenbruch. Irreparabel. Die Leidenshöhe der Inszenierung war damit markiert.«

Jeder Schreibende kennt das: Der große Anspruch der ersten Sätze, des ersten Satzes. In Sibylle Wirsings Kritiken wird oft schon vorweggenommen in kühner Geste, was das Ergebnis der Überlegung sein wird, da wird der Schlüssel gesetzt, der das System der nun folgenden Noten tönt. Und so setzt die Rezension einer neuen Inszenierung von Kleists maßlosester Tragödie ein:(4)
»Mutig und klug, männlich und zartfühlend verbindet sich Hans Neuenfels bei seiner Inszenierung der Kleistschen ›Penthesilea‹ am Berliner Schillertheater mit Achilles, dem Helden des Geistes und des Herzens, um gemeinsam mit ihm dem Autor zu begegnen, der den Mythos zugunsten der blutigen Seelendichtung schwer mißbraucht hat.«

Das sollte man drei Mal lesen, – und dann nimmt man wahr, daß dieser eine Satz Nachdenkmaterial für ein langes literaturwissenschaftliches Referat, für einen Urväterhausrat entrümpelnden Essay enthält.
Der Kritiker, wenn er lobt und liebt, steht auf Grund trivialer psychologischer Gesetze immer im Schatten seiner tadelnden, seines ›verreißenden‹ Urteils. Verriß: welch übler Terminus für die Notwendigkeit, das als schlecht Erkannte schlecht zu heißen, und immer wieder ist die Öffentlichkeit versucht, den, der das Elend aufdeckt und beschreibt, auch flugs für schuldig zu erklären an ihm. Des wahren Kritikers wahres Glück aber sind nicht Tadel und Schelte und Verdammung, sondern ist das helltönende Lob. Wie Sibylle Wirsing es denen freigebig zuteilt, die es sich und uns nicht leicht machen, das Schwierige nicht scheuen auch wo es sich sperrig sträubt, das Unmögliche auch im Bewußtsein seiner Unmöglichkeit begehren. Daher auch die Bewunderung der strengen Tragödin als Rolle und Darstellung, die angespannte Aufmerksamkeit, mit der Sibylle Wirsing die großen und leisen Auftritte ›ihrer‹ Schauspielerinnen beschreibt, die Lineaturen ihrer Gestik nachzeichnet: der Trissenaar, der Clever, der Thalbach. Nachzeichnet in einem Raum, der Leben und Kunst nicht mehr separieren will und in den auch die anderen ›problematischen Figuren‹ gehören, vornehmlich Frauen: Rahel Varnhagen etwa oder die von der Überlieferung bis zur Unkenntlichkeit verklärte Königin Luise. Wer Leben begreift als Summe von schönen Vergeblichkeiten, als ständige Gefährdung persönlichen Glücksbegehrens, wer sich also Kleist zuwendet und Heiner Müller und – seit jüngstem – Einar Schleef, der ist der geborene und unerbittliche Gegner jedes Mittelmaßes und jeder Gefälligkeitsgebärde. Die virtuose Technik in Ehren, – ist sie indes nichts als sie selbst, so ist sie ebenso nichtig wie ein nichteingehaltenes Versprechen, ein nicht erfülltes Programm. Über Berlin in Erwartung einer neuen Bühnen-Ära:

»Für so energisch aber wird man selbst diese Theater- und Kulturmetropole noch halten dürfen, daß sie es sich über weitere Spielzeiten hinweg nicht unbedingt in den Fesseln bequem machen will, die ihr ein Knecht der Gefälligkeit anlegt.«(5)

IV

Das Theater, verstanden als die dem Leben innewohnende Energie, dramatische Spannung in Kunst aufzuheben, ist in allem. Die Kulturkorrespondentin in der Stadt Berlin versteht die vom allgemeinen Urteil dank gefälliger Berichterstattung eilig kriminalisierte Hausbesetzer-Szene nicht etwa als ›Theater‹, aber sie erkennt in ihr wie im Theater einen Teil unserer sozialen und politischen Wirklichkeit. Was sie ermächtigt, eine der klügsten Analysen dieser Szene zu verfassen, keine Andeutung auch nur einer anbiedernden Geste, kein joviales Gewährenlassen, sondern Irritation, Verwunderung, gedankenhelles Erfassen des Befremdlichen, das so nah ist.(6)
Auch in dieser Trümmer- und Schuttform, in dieser Reduktionsstufe noch ist Berlin ein Kapitel der Geschichte Preußens, und diesem mit Kleistischer Gebärde nach Vollendung seiner selbst vergeblich ringenden Staat hat Sibylle Wirsing essayistische Studien gewidmet, deren Autorschaft wohl selbst ein Wolf Jobst Siedler gerne für sich würde reklamieren wollen.()

V

Wollte man Sibylle Wirsings Auffassung von Kunst, das heißt von Leben, auf eine ästhetische Formel bringen, so hieße sie ›Realismus‹. Definiert auf folgende Weise:

»Realismus ist der Einfall des Jägers, das Mammut auf einem Felsenbild festzuhalten. Bisher hatte man das Tier nur als flüchtiges Fressen gewürdigt, und die Kunst bestand darin, es zu erlegen. Aber jetzt fängt man es in seiner Eigenart für alle Ewigkeit ein. Das sehkräftige Auge, das diese Tat bewirkte, schaut inzwischen von seiner uralten Höhe auf die Begriffe der Ideologen wie auf Mausefallen herunter. Die bürgerlichen und sozialistischen Realismusdoktrinen werden nicht helfen, das Mammut auch heute wieder als Naturwesen, Tiergott und Individualität aufzufassen.
Realismus ist kein Stil, keine Schule und keine ästhetische Übereinkunft oder politische Zwangsmaßnahme, sondern meine Identität mit Gott und der Schöpfung. Es ist zum Beispiel die Geistesgegenwart, mit der Shakespeare oder Picasso die Kulturen vieler Jahrhunderte in ihr Werk aufnahmen.«

Und so fort, man möchte nicht enden mit dem Zitieren und begreift sehr bald, wie diese Thesen(8) Bände ästhetisch-historischer Spekulation ihrer selbstverschuldeten Nichtigkeit anheimgeben.
Johann Heinrich Merck, der Patron dieses Preises, war, man weiß es, ein Schwieriger. Sibylle Wirsing: Die Schwierige? Wenn ja, dann: weil sie die Unbestechliche ist.


(1) In dem Essay »Im Rahmen des Möglichen. Theodor Fontane, ein Annäherungsversuch«. In Walter Hinderers Sammlung »Literarische Profile«. 1982, S. 172.
(2) Ludwig Börne: Spiegelbild des Lebens. Aufsätze über Literatur. Ausgewählt und eingeleitet von Marcel Reich-Ranicki. (suhrkamp taschenbuch 408). Frankfurt a. M. 1977, S. 43.
(3) FAZ vom 24. März 1982.
(4) FAZ vom 29. Juni 1981.
(5) FAZ vom 14. Juli 1981.
(6) FAZ, Juni 1981; s. auch 13. Oktober 1981.
(7) FAZ vom 15. und 22. August 1981.
(8) Sie leiten das Magazin zum Theatertreffen Berlin 1984 ein, Redaktion Bernd Krüger, S. 4-7.