Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Sibylle Wirsing

Journalistin und Theaterkritikerin
Geboren 27.5.1936

... deren Beschreibungen und Urteile durch blitzende Genauigkeit des Ausdrucks und durch den tapferen Ernst hervorragen...

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann
Vizepräsidenten Ludwig Harig, Hans-Martin Gauger, Helmut Heißenbüttel, Beisitzer Beda Allemann, Günter Busch, Hans Paeschke, Lea Ritter-Santini, Bernhard Zeller, Ernst Zinn, Ehrenpräsidenten Dolf Sternberger, Bruno Snell

Stichwort: Merck

Und nun zu ihm selber, dem schwierigen Johann Heinrich Merck. Immer ist er der Ältere und schon bald der Alte, als sei er selber nie jung gewesen. Dabei schwollen ihm die Kräfte zum Körper hinaus: »Ich bin nicht zufriedener, als wenn ich Hände Arbeit getan habe, und ich denke, mein Leben soll sich noch mit Mistfahren beschließen«, schrieb er, als er siebenunddreißig Jahre alt war. Bei seinem Selbstmord, 1791, war er fünfzig. Die Freundschaft mit Goethe, geschlossen in dem Jahr, als Merck die Frankfurter Gelehrten Anzeigen redigierte und den Verfasser des »Götz von Berlichingen« als Mitarbeiter gewann, wurde anfangs zu einem stark wirkenden Bündnis und später zu einem lang währenden Leidwesen. Die Assoziation Merck-Mephisto hat sich überliefert. Alles übrige geht schon ins Detail.
Im Spätsommer 1772 suchte er Goethe in Wetzlar eigens zu dem Zweck auf, um den Freund von einem Verhältnis loszumachen, das ihn dort über Gebühr festhielt. Das Mädchen war die Braut eines anderen. Was sollte daraus werden? Goethe besann sich und gab nach. Im folgenden Jahr beginnt die Dichtung am »Faust«. – Urfaust – ein Gartenhäusgen – darin das dramatisch ungleiche Liebespaar, das sich nun nicht mehr länger mit Necken und Verstecken aufhält. Er küßt sie, und Margarethe, ihn fassend und den Kuß zurückgebend, sagt, was sonst?: »Bester Mann, schon lange lieb ich dich.«. Das Geständnis ist heraus und wird sofort durchlöchert. »Mephistopheles klopft an – Faust, stampfend: ›Wer da!‹ – Mephistopheles: ›Gut Freund‹ – Faust: ›Ein Tier!‹ - Mephistopheles: ›Es ist wohl Zeit zu scheiden.‹«
Merck, der trennende Dämon, der zwischen Goethe und Lotte getreten war, wird in derselben Rolle von der Urfaust-Miszelle verewigt. »Gut Freund« – die Parole hat für Mercks Freundschaft zu Goethe bis zur Unverbrüchlichkeit gegolten. Aber die Replik macht eine bittere Wahrheit daraus: »Ein Tier!« So schlimm steht es mit denen, die auf Scheidung dringen, daß sie die Vernunft auf ihrer Seite haben können und uns trotzdem widerwärtig erscheinen. Der Nachruf auf Merck in Dichtung und Wahrheit fällt überwiegend zu seinen Ungunsten aus. Von der Bestätigung – »Treffend und scharf zu urteilen war ihm gegeben« – werden im Rückblick lauter zweifelhafte Folgerungen abgeleitet. So, wie der Höllenkerl schließlich überdauert, ist er von einem einzigen Satz gestempelt: »Ich bin der Geist, der stets verneint.« Aber wenn man das Paket öffnet, mit dem er sich schleppte, kommt einem eine leidenschaftliche Disziplin entgegen, die Sehnsucht des Kritikers, Unterschiede zu machen, Entscheidungen zu treffen, Trennungen im Sinn realistischer Erkenntnisse zu vollziehen und dies vor allem: die Begierde, sich vom modisch und egoistisch dilettierenden Geschmack zu verabschieden und die Kritik als eine Profession zu autorisieren.
»Enthusiasmus zu haben«, schreibt er, »ist uns allen erlaubt; allein die deutlichen und bestimmten Begriffe, und die daraus entstehende Gabe, sie ändern mitzuteilen, ist eine ganz eigne Sache.« Wer heute als Journalist und Rezensent auch nur von Ferne mit dem ungemütlichen Merck konkurrieren will, der die Kritik von der Liebhaberei scharf abgrenzte, wird auch wieder riskieren müssen, in ein schiefes Licht zu geraten, gar nicht viel anders als das Tier Mephistopheles, das im Augenblick einer unstatthaften Vereinigung auf die Entzweiung pocht: »Es ist wohl Zeit zu scheiden.«
Unsere Normal-Kritik mit ihrem feuilletonistischen Ehrgeiz, die ein legitimer Sproß des Journalismus ist, wird gewöhnlich daran gemessen, ob der Daumen nach oben oder nach unten zeigt. Man hält die zwei Gebärden gern für Gegensätze, obwohl sie Zwillinge sind, einander zum Verwechseln ähnlich. Die Macht und die Moral, die von oben herab dem Akteur in der Arena ihr »Stirb« oder »Bleib am Leben« signalisiert, ist in beiden Fällen dieselbe; der Unterschied besteht nur darin, daß ein Gnadenbeweis weniger sensationell wirkt als ein Todesstoß. Was vom Fertigmachen zu halten ist, hat Peter Wapnewski eben gesagt. Die Bezeichnung »Verriß« spricht für sich. Und sie tut es desto mehr, wenn sich diejenigen, die das Genre ausüben, mit dem sprechenden Namen identifizieren. Dem ist dann nichts mehr hinzuzufügen; es sei denn, man bringt dieses hochdressierte Produkt des Journalismus auf ein so skandalöses Bild, wie es Peter Handke gemacht hat, den Verreißer uns leibhaft vor Augen führend:

»Ja, vor mir hinter dem Zaun, stand ein großer Hund – eine Doggenart –, in dem ich sofort meinen Freund wiedererkannte. Und schon kamen auch die anderen von überall auf dem Hof herbeigelaufen, mit am Beton kratzenden Krallen; blieben aber im Abstand zu mir und dem ersten, der in Haltung und Stimme der Leithund zu sein schien. Sein Körper wirkte bunt, während Kopf und Gesicht tiefschwarz waren. ›Sieh dir das Böse an‹, dachte ich. [...] In einer Brüllpause, während er um Atem rang, geschah nur das lautlose Tropfen von Geifer. Dafür bellten die übrigen, was sich freilich eher temperamentlos und rhetorisch anhörte... Als der böse Lärm wieder einsetzte, verschwand die Landschaft in einem einzigen Strudel aus Bombentrichtern und Granatlöchern. [...] Er, der Wachthund im Gelände; und ich im Gefilde; und der Stacheldraht zwischen uns, durch den hindurch ich den Feind betrachtete, wie er in seiner von dem Getto vielleicht noch verstärkten Mordlust jedes Rassenmerkmal verlor und nur noch im Volk der Henker das Prachtexemplar war.«

Wenn die Kritik im journalistischen Gebrauch tatsächlich zu ihrem eigenen Käfig geworden ist, so deshalb, weil sie sich in ihre Gewohnheiten einschließt und darin nun festsitzt. Das gilt nicht für alle ihre Spielarten gleichmäßig. Dort, wo Einflüsse und Mitarbeiter von draußen willkommen sind, trifft es am wenigsten zu. Am meisten, fürchte ich, hat sich die Theaterkritik, für die ich hier einstehe, in ihre Machart verstrickt, spöttisch-witzig beflissen, sentimental und verrissig; ein Gesellschaftsspiel, bei dem der Joker alle anderen Trümpfe aussticht. In dieser Klausur ist sie, wie ich meine, zu einem unangemessenen Partner für die Ewigkeitsstätte Theater geworden – so jung und schon so hinfällig.
Allein der Journalismus bestimmt, was Theaterkritik sei. Denn sie hat außerhalb von ihm keinen maßgebenden Ort. Theaterkritiker ist wirklich nur, wer ein Medium findet, das ihn verbreitet. Und jeder, der sich einer solchen Obhut erfreut, weiß, was er daran hat. Das heißt: es empfiehlt sich, die eigene Disposition mit der Richtung des Fuhrwerks, das einen mitnimmt, einigermaßen zu koordinieren. Solange sich der Theaterkritiker als gewiegter Spaß- und Sprüchemacher bewährt, als amüsanter Unterhalter und trickreicher Gesellschaftsspieler, kann er sich einiges erlauben. Vorlaut und frech zu sein, gehört bei ihm ja zum Metier. So fährt man gut miteinander.
Aber nun meine Frage; wie trenne ich mich trotz allem von dieser ältlichen, aufgeputzten Person, die ich als Theaterkritiker notgedrungen oder freiwillig mitverkörpere? – Zunächst sehr einfach und schwer genug: Ich lege alle vereinbarten Trümpfe aus der Hand; Spott, Anzüglichkeit, Besserwisserei, Arroganz und alle anderen Buben. Statt über meinen Gegenstand von oben herab zu richten, ringe und rechte ich mit ihm. Das fällt mir schwer, weil das Theater eine Riesengröße ist und mir bei der Konfrontation immer wieder meine angelernten und einverleibten Attitüden dazwischenkommen. Aber ich mache Fortschritte – und dabei mache ich mich unmöglich.
Dort, wo das Spiel nach allen Regeln der Kunst weitergespielt wird, runzelt man die Stirnen über meinen Verstoß gegen die innerste Übereinstimmung. Sie besagt, daß nicht heiß gekocht werden sollte, damit nicht heiß gegessen werden muß. An diese interne Verabredung halten sich die Verrisse ebenso wie die Gunstbeweise, indem sie den Dampf gleich an der eigenen Rhetorik abkühlen. Am besten ist es, wenn alles so oder so sein kann. Dann versteht sich der Satz, der unlängst in »Theater heute« zu lesen war, als Grundsatz. Ich zitiere: »An dieser Inszenierung stimmt nichts – weder die Liebschaften noch die Grausamkeiten. Aber gerade deswegen stimmt an ihr fast alles.«
Ein Kritiker, der sich von dem pseudo-dialektischen Zunft-Jargon scheiden will, muß seine Worte unter einer so strengen selbstkritischen Beobachtung zur Argumentation zusammensetzen, als ginge es jedesmal wieder ums Leben. Seine Kräfte werden nicht ausreichen. Aber versuchen sollte man es ihn lassen. Stellen wir uns doch nur vor, daß in der trüben Aura, die sich rings um die bevorstehende Frankfurter Uraufführung des Faßbinder-Dramas »Der Müll, die Stadt und der Tod« verdichtet, einer auftreten würde wie Merck-Mephisto, Unrat witternd und lautstark darauf pochend, daß hier eine ebenso unheil-schwangere Verbindung im Gang ist wie vormals im Gartenhäuschen zwischen Faust und Margarethe. Ja, einer, der wagte, zu sagen, daß die Umarmung von bundesdeutscher Sauberkeit und jüdischer Verstörung von Übel ist. Aber welcher Kritiker, und wäre er noch so bereit, sich zu exponieren, hat überhaupt noch die psychische und reale Chance, sich der gebotenen Tendenz zu widersetzen und sein eigenes Risiko zu laufen?
Mitunter scheint es mir, daß es für einen Rezensenten am allerschlimmsten ist, wenn er seine Anpassungsfähigkeit verliert. Denn die hat er womöglich nötiger als seine Widerstandskraft. Aber ist er erst einmal in den Ruf geraten, störrisch und eigensinnig zu sein, hapert es überall. Er möchte unbedingt noch etwas ausrichten, zum Beispiel sagen, welch ein beängstigend neuer Realismus-Kontinent vor seinen Augen bei der Lektüre von Einar Schleefs »Gertrud«-Epos aufgetaucht ist. Aber die Worte, die er zu Papier bringt, erkennt er unter Umständen in der Gestalt, in der sie dann im Druck vor die Öffentlichkeit kommen, gar nicht mehr wieder.
Johann Heinrich Merck – vor genau 210 Jahren – war immerhin so ungebunden, daß er eine vergleichbar erschütternde Neuerscheinung ganz in seinem Sinn anzeigen konnte; versehen mit der bündigsten Erklärung, was Realismus sei, die unser deutschsprachiges Rezensionswesen jemals hervorgebracht hat. Er schrieb 1775 in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen über »Werthers Leiden«:

»Viel Lokales und Individuelles scheint durch das ganze Werk durch, allein das innige Gefühl des Verfassers, womit er die ganze, auch die gemeinste ihn umgebende Natur zu umfassen scheint, hat über alles eine unnachahmliche Poesie gehaucht. Er sei und bleibe allen unsern angehenden Dichtern ein Beispiel der Nachfolge und Warnung, daß man nicht den geringsten Gegenstand zu dichten und darzustellen wage, von dessen wahren Gegenwart man nicht irgendwo in der Natur einen festen Punkt erblickt habe, es sei nun außer uns oder in uns.«

Ja, das ist mein Mann. Und es betrifft mich sehr, daß Merck so schwer daran tragen mußte, daß er Merck war.