Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Niklas Maak

Journalist und Schriftsteller
Geboren 17.8.1972

Seine Essays und Bücher zur Architektur interessieren sich für die in den Bauten verkörperten Hoffnungen wie für deren Scheitern; sie zeichnen sich aus durch die Verbindung von eminentem kunst- und baugeschichtlichem Sachverstand mit stilistischer Eleganz und Sprachwitz.

Jurymitglieder
Ernst Osterkamp, Ursula Bredel, Michael Hagner, Monika Rinck, Lukas Bärfuss, Elisabeth Edl, Maja Haderlap, Ilma Rakusa, Marisa Siguan und Stefan Weidner

Laudatio von Rem Koolhaas
Architekt, geboren 1944

HOLLÄNDER
Meine Damen und Herren,
die Organisatoren sind ein großes Risiko eingegangen, als sie mich gebeten haben, eine Laudatio für Niklas Maak zu halten. Die Niederländer haben keine Tradition des Lobens.
Wir »tun« keine Komplimente. Wir analysieren und demolieren.
Wir sind Bilderstürmer.
Um mir zu helfen, hat Niklas mir eine fünftausend Wörter umfassende Akkumulation von Komplimenten geschickt, die ein früherer Laudator für ihn verfasst hat. Aber das war zu lang … und, glaube ich, zu einfach.

GRIECHEN
Wie Niklas wurde ich auf einem Gymnasium ausgebildet. Aber ich habe fast mein ganzes Leben gebraucht, um zu verstehen, dass die Schriften der Antike eigentlich eine sehr praktische Form der self-help sind:
wie man baut,
wie man lebt,
wie man liebt,
wie man stirbt … und wie man lobt …
Rhetoriker wie der Grieche Menander haben vor mehr als zweitausend Jahren Modelle für Reden angeboten – geskriptete Lobreden für jeden Anlass: Triumph, Flitterwochen, Hochzeitsnacht, Beerdigung … Menanders Rat für eine Laudatio ist es, mit dem Körper zu beginnen: »Was sind seine natürlichen Eigenschaften – Körperbau, Stärke? Wenn er groß und schlank ist, vergleiche ihn mit Ajax, wenn er stattlich und mutig ist, mit Achilles – dann, wie ist er in seiner Lebensweise? Ein Mann mit Geschmack? Einer von Großmut? Wie hat er sich in der Vergangenheit verhalten? Wie ist er jetzt? Wie sieht seine Zukunft aus?«
Und dann geht es weiter: »Woher kommt er?« und »Beschreiben Sie, wie ihn die Eigenschaften seiner Heimatstadt geprägt haben«.
Hamburg ist eine Hafenstadt: ein effizientes Arrangement von Land und Wasser, fest und fließend, offen zum Meer, und damit auch für andere …
und Hamburg ist ein sicherer Ort, denn es liegt zwischen zwei kleinen, harmlosen Ländern – Dänemark und Holland. Vielleicht die Grundlage für Maaks robustes Selbstbewusstsein?

FRANZOSEN
Nur am Ende, sagt Menander, sollte man über das Gehirn sprechen – darüber, wie es mit Ideen gefüllt, aufgeladen, ausgebildet und trainiert wurde …
Maak hatte das Glück, in den neunziger Jahren zu studieren, als auf der Landmasse Europas unterschiedliche Kulturen miteinander zu verschmelzen probierten …
Wie das Verbesserungspotenzial in der Agrikultur befruchtete sich Europa in den neunziger Jahren gegenseitig, um die beste intellektuelle Ernte einzuholen – und zwar von den schlauesten Köpfen jener Zeit, die sich in Paris versammelt hatten.
Und in Paris sollten wir nach der endgültigen Formgebung von Maaks Gehirn suchen, geknetet von den Philosophen höchsten europäischen Kalibers – Roland Barthes, Jacques Derrida, Gilles Deleuze.
Maak ist dadurch sowohl Deutscher als auch Franzose (und ein bisschen Italiener), vielleicht eine neue Art von weißem Mann.

1972
Maak wurde 72 geboren, ein Löwe, lebendig, theatralisch und leidenschaftlich.
Retrospektiv war 72 vielleicht die Apotheose westlicher Kompetenz:
• Das World Trade Center in New York wurde fertig.
• Die Concorde überquerte zum ersten Mal den Atlantik.
• Mondlandungen wurden Routine.
• Barthes’ Mythologies erschien auf Englisch.
• Renault debütierte den Renault 5.

Auch für Deutschland war 72 besonders:
• Heinrich Böll erhielt den Nobelpreis.
• Willy Brandt wurde in Deutschland wiedergewählt, sein Wahlslogan
»Wir können stolz auf unser Land sein«.
• Frei Ottos Stadion in München reduzierte Architektur auf pure
Membran.
• Der Vertrag von Brüssel öffnete die Türen der EWG/EU – akzeptierte
sogar England.

Auch Maak ist ein Produkt dieses Wunderjahres. Aber ein Produkt ist leider noch kein Zeuge.
Im Gegenteil: Gerade weil er 72 geboren wurde, musste Maak erleben, wie sich die Perfektion dieses Jahres langsam auflöste und parallel auch die Idee von Progress/Fortschritt verschwand – bis zur heutigen Erschöpfung.
Man kann Maaks persönlichste Arbeiten als eine Form der retroaktiven Partizipation deuten … an einer goldenen Ära … Maaks Rezept gegen die Nostalgie mag vielleicht auch seinen forensischen Fanatismus für die Rekonstruktionen eines Moments erklären, den er eigentlich verpasst hat.
Maaks Inszenierungen folgen treu den Spuren seiner Helden Antonioni, Moravia und Pasolini, er reinszeniert diese mit neuen Bildern seines Maseratis, der an denselben Stränden parkt. Es sind akribische Projektionen von verschwundenen Existenzen, nach deren Strenge, Radikalität und Hedonismus Maak eindeutig strebt.

VERBRECHEN
Es »gehört« sich vielleicht nicht, in einer Laudatio ein Verbrechen zu enthüllen, welches Maak verübt hat – vor allem, da er mich zum Komplizen gemacht hat.
Das Verbrechen, das wir begehen mussten, war ein Einbruch in eine verlassene Villa, eine Betonkuppel an der Costa Paradiso von Sardinien. Ein unerlaubter Besuch einer Halb-Ruine, gebaut für und von Michelangelo Antonioni.
Seine Filme zu sehen, als ich sechzehn war, hat mich zu dem gemacht, der ich bin, aber überraschenderweise haben sie auch Niklas geprägt, eine ganze Generation später.
Selbst in ihrem Verfall war die Villa elegant und sinnlich – endlose weiße Sofas, ein riesiger Kamin, viele Zimmer, jede der vorspringenden Granitstufen der Treppe Einladung zum Seitensprung.
Niklas lieferte den Soundtrack – Alain Delon und Mireille Darc schwimmen nackt im Mittelmeer, Monica Vitti verlässt Dom und Ehe –, aber – typisch Maak – vermengt er Trash und Wissenschaft, skizziert das Leben des Bauingenieurs Bini, der die geniale Idee hatte, dass ein Luftballon die Schalung für Beton sein könnte … Luft formt Stein, noch so eine typische geniale Umkehrung der Sechziger.

SEMIOTIK
Maak weiß mehr als jeder andere, den ich kenne.
Spannend an Maaks Wissen ist, dass es keinen Unterschied zwischen Trivia und Wichtigem macht. Er ist die späte Verkörperung der Semiotik : Wenn alles ein Zeichen ist, dann entsteht Bedeutung durch die Art und Weise, wie das Zeichen interpretiert wird – und in Maaks Fall durch seine Intelligenz, die alles analysiert, in eine Reihenfolge bringt und dann präsentiert.

MONOLOGE
Maak zuzuhören ist eine simultane Erfahrung von Vergangenheit und Zukunft.
Obwohl er für Dialog offen ist, ist für Maak der Monolog die höchste Form der Interaktion. Mitten im Gespräch zündet er den Turbo – und Dialog wird Monolog. Die Pixel seines Wissens verschmelzen zu einer Fusion von Fakt und Fiktion, die sich bei der kleinsten Unterbrechung verflüchtigen könnte.
Erstaunen ist seine Version der Kritik – nicht nur negatives Urteil.
Zum Beispiel die Melancholie, mit der Maak das selbstfahrende Auto von Apple als »depressiven Panda« beschrieben hat.
Für die häufig enttäuschende reale Welt hat Maak einen narrativen Kubismus erfunden als Gegenstück zur Augmented Reality im virtuellen Raum.
Eine der bewegendsten Reden, die ich je gehört habe, ist seine Laudatio, im Menander-Stil, auf die europäische Autoindustrie. Wie zwischen den fünfziger und siebziger Jahren jedes »typisch« deutsche, französische oder italienische Modell von einem Designer aus einer ganz anderen Kultur entworfen wurde: der Pagode Mercedes von einem Franzosen, der grandiose Maserati von einem Tschechen, wie ein Jugoslawe Lamborghinis zeichnete … Mit anderen Worten, wie ohne die Total-Mobilisierung europäischer Sensibilität und Kreativität die Autoindustrie ihre Meisterwerke niemals hervorgebracht hätte.
Frage: Ist es zu gewagt, diesen Moment der Krönung zu nutzen, um sich Maaks nächstes Buch zu bestellen?
Ein Werk der Autofiktion, buchstäblich – »AUTOMAAK«.
Ein Thema, so umfangreich und verworren, dass es wahrscheinlich niemals in eine feste Form gebracht werden kann, ein Buch, das aus wörtlich allem bestehen würde, was Maak über Autos weiß und was er je über Autos gedacht und gefühlt hat.
Sein früheres Buch über die Geschichte eines einzigen Mercedes ist davon nur ein verlockender Bruchteil.
Dieses neue Buch sollte definitiv formlos bleiben, ein Ulysses der Erfindung – Auto –, die vielleicht mehr als jede andere den weißen Mann im 20. Jahrhundert beschäftigt, inspiriert und zu Meisterstücken angespornt hat – und leider als Kollateralschaden unseren Planeten praktisch ruiniert hat.

AUGMENTED REALITY
Es war eye-opening, Maak in Afrika zu sehen und von ihm über Afrika zu lesen, auch in seinem Buch Technophoria. Beschreibungen elektrischer Traktoren als Energiequellen für ganze Dörfer, die Bedeutung chinesischer Infrastruktur oder seine Leidenschaft für Gorillas und die achtlosen Folgen der Präservation … Eine Mischung aus Humboldt und David Attenborough …
Maak transformiert Afrika in Wort und Bild in einen zukunftsorientierten Kontinent, in dem Progress keine nostalgische Erinnerung oder Mirage ist, sondern eine robuste und lebensfähige Kraft.
Maaks Texte sind immer ansteckende Beschreibungen der realen Welt – Begeisterung ist seine Form des Fundamentalismus.
Gegen das digitale Aufrücken kämpft Maak für das Analoge.
Unsere Freundschaft basiert auf einer gemeinsamen Abneigung gegen alles, was »smart« ist – smarte Stadt, smartes Auto, smartes Thermostat, smartes Was-auch-immer …
Die strategische Frage für Maak ist es, wie er sich in einer Zeit positionieren soll, in der die Idee des Analogen täglich diskreditiert und mit dem Virtual Space aus dem Silicon Valley ausgetauscht wird.
Aber nicht nur das Analoge ist in Verruf geraten.
Der Fortschritt wurde zum Fortschritt des Virtual Space. 1972 führte in nur einem halben Jahrhundert zu Meta.

EUROPA
Vor Ihnen steht ein weißer Mann, der einen anderen weißen Mann lobt, vor einem Publikum aus vielen weißen Männern … eine eher verdächtige Situation.
Der weiße Mann hat eine beschwerliche Zeit hinter sich, wenn auch nur für zwei kurze Jahrzehnte.
2001 das erste Anzeichen seiner zukünftigen Unbeliebtheit, 2008 der endgültige Beweis seines Missmanagements … seither unendlich weitere »Beweise« für seine Verbrechen, sein schlechtes Verhalten, seine Irrelevanz.
Ist es Zufall, dass genau diese zwei Jahrzehnte mit unserer Ernüchterung über das europäische Projekt zusammenfallen? Sowohl der »weiße Mann« als auch Europa müssen sich neu erfinden.
Und genauso verkörpert Maak das derzeitige europäische Dilemma:
perfekt ausgebildet, ausgestattet und daran interessiert, an der weiteren Formulierung Europas mitzuwirken, aber – wie fast unsere gesamte Intelligenzija – mit einer unzugänglichen und undurchdringlichen politischen Domäne konfrontiert.
Die Integration beider Seiten ist natürlich Voraussetzung, um den Übergang Europas und des weißen Mannes von der Dominanz zur Relevanz zu schaffen. Ein Weg, der noch lange nicht abgeschlossen ist.
Könnte Maak zugleich Beispiel für ein neues Europa und einen neuen weißen Mann werden? Mit seinem Feingefühl, seiner Sorgfalt, seiner Verspieltheit, seiner Großzügigkeit, seiner Intelligenz, seiner Offenheit, seiner Neugier, seiner Verantwortung?

FINALE
Nach Menander sollte eine Laudatio mit einer letzten Frage enden:
Was ist seine Zukunft?
Europa ist gut darin, neue Talente hervorzubringen, aber schlecht darin, sie auch zu nutzen …
Ich spüre in Maak einen Drang, ein größerer Akteur im europäischen Raum zu werden …
Das Bedürfnis, wie Samson wahre »Taten« zu vollbringen: nicht nur auf dem Papier, sondern mitten in der Gesellschaft?
Wie wäre es, das Meisterwerk der siebziger Jahre, das ICC in Berlin, zu »retten« und wiederzubeleben? Eine Kreuzung aus Tempel und Datacenter in Rom zu erfinden? Berater von Macron oder Botschafter in Kenia zu sein? Alles Illustrationen davon, was ein kreativeres Europa und was ein gestärkter Europäer wie Maak sein könnte? Es würde mich nicht überraschen, wenn Maaks nächster Preis nichts mit Literatur zu tun hätte, sondern vielmehr mit konkreten Taten … und vielleicht sogar mit Fortschritt.