STATUT
§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.
Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.
Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.
§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.
§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.
§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.
Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.
Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021
Journalist und Schriftsteller
Geboren 17.8.1972
Seine Essays und Bücher zur Architektur interessieren sich für die in den Bauten verkörperten Hoffnungen wie für deren Scheitern; sie zeichnen sich aus durch die Verbindung von eminentem kunst- und baugeschichtlichem Sachverstand mit stilistischer Eleganz und Sprachwitz.
Jurymitglieder
Ernst Osterkamp, Ursula Bredel, Michael Hagner, Monika Rinck, Lukas Bärfuss, Elisabeth Edl, Maja Haderlap, Ilma Rakusa, Marisa Siguan und Stefan Weidner
Als ich etwa neun Jahre alt war, gab uns unsere Grundschullehrerin die Aufgabe, zu schreiben, was wir später einmal werden wollten, und mit jemandem zu sprechen, der diesen Beruf ausübte. Damals wollte ich Architekt werden. Ich schrieb also einen Brief an den Architekten Meinhard von Gerkan, der so freundlich war, mir zu antworten; der Beruf des Architekten, schrieb von Gerkan mir, bestehe zu achtzig Prozent aus Ärgernissen, aber die anderen zwanzig Prozent seien es unbedingt wert, Architekt zu werden.
Später, als ich studierte, schien mir, dass die Prozentverhältnisse von Freude und Ärger beim Schreiben umgekehrt sind; vielleicht kam es so, dass ich am Ende deutlich mehr schrieb als entwarf.
Einen meiner ersten Texte über Architektur schrieb ich mit Mitte zwanzig für die Süddeutsche Zeitung in München. Man hatte mir ein kleines Büro gegeben; im Büro neben mir saß der Merck-Preisträger des Jahres 1970, der Musikkritiker Joachim Kaiser, wobei sitzen das falsche Wort ist – er ging auf und ab und diktierte seiner Sekretärin seine Texte, er deklamierte sie laut, rief »ich korrigiere«, wiederholte Fachbegriffe, während ich nebenan versuchte, mich auf meinen Text zu konzentrieren, was nicht so einfach war, denn aus dem Büro von Kaiser wehten Worte wie »freilich« und »indes« herüber, und als ich meinen Text noch einmal durchlas, fand ich darin das Treibgut des Kaiserschen Diktats, lauter Worte und Wendungen, die ich sonst nie benutzte, aber wie unter Hypnose in meinen Text hineingetippt hatte.
Im gleichen Moment betrat Joachim Kaiser mit einer Partitur unter dem Arm den Raum und fragte, worüber ich denn da gerade schriebe.
»Architektur«, sagte ich. Kaiser wiederholte das Wort »Architektur«, zog die Augenbrauen hoch und sagte: »Das ist wohl interessant« – aber wenn er mir etwas raten dürfe, solle ich mich doch vielleicht besser auf Kunstkritiken konzentrieren, denn in der Regel würden Zeitungen in Momenten der Krise als Erstes die Ballett- und die Architekturkritiker abschaffen.
Ich hatte das Glück, dass die Zeitung, für die ich jetzt schreibe, sich hier als eine Ausnahme herausstellte, aber falsch war Kaisers Prophezeiung für viele andere leider nicht; die Zahl der fest angestellten Architekturkritiker ist, seit ich mit dem Schreiben begonnen habe, empfindlich geschrumpft, deshalb bin ich besonders froh, dass mit dieser Auszeichnung auch die Bedeutung des Schreibens über Architektur und über die gebaute Welt gewürdigt wird.
Tatsächlich sind viele der großen Fragen der Gegenwart ja Raumfragen und Fragen der gebauten Welt. Wenn vierzig Prozent aller klimaschädlichen Gase, also mehr als der Individualverkehr und der Flugverkehr zusammen, durch den Bau, Betrieb und den Abriss von Gebäuden entstehen, dann ist die Frage des Klimawandels eben auch eine Frage des Bauens – und einer Sprache, die es schaffen kann, mitreißend und klar und in der gebotenen Dringlichkeit über die paradoxe Situation zu sprechen, in der sich die Architektur heute befindet: dass nämlich aus ökologischen Gründen am besten für lange Zeit erst einmal gar nichts gebaut werden sollte, andererseits, um die Millionen von Menschen zu beherbergen, die in die Ballungsräume strömen, aber so viel wie nie zuvor gebaut werden muss – und gleichzeitig verhindert werden müsste, dass die Zentren unserer Städte zunehmend veröden und sich in ein begehbares Anlagedepot voller unbewohnter Luxuswohnungen verwandeln. Über all das muss öffentlich gestritten werden, für all das muss man eine Sprache finden.
Was den Essayisten und den Architekten vielleicht verbindet, ist das, was im Französischen durch das Wort essai, also Versuch, bezeichnet wird: der Versuch, eine Form für etwas zu finden, was bisher so noch nicht sagbar oder vorstellbar war. Auch das war ein Glück, bei beiden Zeitungen, bei denen ich arbeitete – dass dort Kollegen und Redakteure sitzen, bei denen man neue Formen erproben durfte, von einer Architekturkritik in Form eines Comics bis zu einer Art Fotostory. Auch das sind Essays im Wortsinn; Versuche, herauszufinden, zu welchen Einsichten die Freiheit der Form führen kann.
Sie verleihen diesen Preis für kritische Essays und Bücher zur Architektur.
Es ist schön, ihn in Darmstadt zu bekommen, denn nicht wenige dieser Bücher führten mich hierher, weil von Darmstadt aus nicht selten der Umbau der gesamten Welt geplant wurde: Für das Servermanifest – ein Buch über die Architektur der Rechenzentren, in denen all unsere Daten gespeichert werden und von denen aus wir auf Grundlage dieser Daten vorausberechnet und manipuliert werden – kam ich nach Darmstadt, um das erste deutsche Rechenzentrum zu besichtigen, das 1961 eröffnet wurde, als der Staat noch daran interessiert war, die Digitalisierung zum Wohl der Bürger voranzutreiben, und sie noch als Teil der öffentlichen Infrastruktur wie Straßen oder Schulbauten definierte.
Das Buch Technophoria brachte mich nach Darmstadt, weil hier an der TU der Ingenieur Friedrich Bassler lehrte, der einen Kanal vom Mittelmeer in die unter dem Meeresspiegel liegende Wüste von Qattara sprengen wollte, damit dort ein neues Meer in der Größe von ganz Hessen mit neuen Küstenstädten entstehen könne und die Wolken von diesem Meer aus Regen über die Sahara bringen und sie in eine grüne Savanne verwandeln würden. Basslers in Darmstadt ausgeheckter Weltumbauplan, der zu den verrücktesten Träumen der Moderne gehört, wurde am Ende nicht realisiert – auch, weil Bassler diesen Kanal mithilfe von über 200 nuklearen Sprengsätzen schaffen wollte.
Ich habe hin und wieder versucht, über etwas anderes als über Häuser zu schreiben – der Roman Fahrtenbuch erzählt die Geschichten von zehn Menschen, die nacheinander denselben Mercedes besaßen; doch auch hier waren wieder die Häuser, in denen diese zehn Menschen wohnten – ein Bungalow im amerikanischen Stil, ein Ferienhaus am Meer, eine Altbauwohnung mit ironisch gemeinten Geweihen im Flur –, fast interessanter als der im Laufe der Jahre auseinanderfallende Wagen, weil all diese Behausungen sehr viel über die individuellen und die kollektiven Träume und Traumata einer Epoche erzählen.
Auch im Werk von Johann Heinrich Merck stehen die Architektur und die Beschreibung der Räume oft für einen ganzen Gesellschaftsentwurf.
In seiner Geschichte des Herrn Oheims über einen Mann, der Reichtum und Ministeramt aufgibt, um auf dem Land das gute Leben zu finden, ist die Architektur ein zentrales Motiv: In der Stadt befindet sich der Erzähler in einem »schön möblierten Saal, der kein Feuer, aber viele herrliche Malereien und Kunstwerke zeigt«, aber, so klagt der Erzähler: »Mir fiel auf einmal in dem weiten Saal meine Einsamkeit aufs Herz«; er fühlt sich »von der ganzen Welt abgeschnitten«, die Villa erscheint ihm als überfüllte »Modeboutique«, er sehnt sich nach dem einfachen Haus auf dem Land, der »großen herrlichen Küche, wo an einem Ende, nach ausländischer Art, das Feuer auf der Erde brannte und die Töpfe herumstanden«. Die ländliche Stube und die soziale Nähe, die in ihr möglich ist, wird zum architektonischen Gegenbild zur distanzierten Kälte der Stadtvillen.
Man kann Texte wie diesen als Gesellschaftsentwurf in Form einer Architekturkritik lesen.
Architektur hat viel mit Sprache zu tun: Nicht nur liefern die Architekten der Alltagssprache zahlreiche ihrer Metaphern, von den »soliden Fundamenten« bis zum »Fenster, das sich langsam schließt«, von der Feststellung, alles sei »bloß Fassade« (was suggeriert, dass das Wesentliche ausschließlich der Betonkern dahinter sei), bis zu Hillary Clintons Wendung, dass man leider 2016 »die gläserne Decke noch nicht durchbrochen « habe (hier haben Politik und Architektur sehr unterschiedliche Zielvorstellungen).
Manchmal verschleiert die metaphorische Sprache auch das Wesen von Gebäuden und die Probleme, die in diesen Bauten sichtbar werden könnten:
Man sagt, unsere Bilder und Mails seien »in der Cloud« gespeichert, aber diese Wolke ist ja in Wirklichkeit nichts anderes als ein riesiges Gebäude, ein Rechenzentrum. Der Energieverbrauch dieser Rechenzentren ist gigantisch und für zwei Prozent aller schädlichen Klimagase verantwortlich – die Stadt Frankfurt etwa wird ihre Klimaziele aufgrund ihrer Rechenzentren nicht erreichen, die mehr Energie verbrauchen als alle Frankfurter Privathaushalte zusammen; so viel zum luftigen Sprachbild einer »Wolke«.
Manchmal haben die Architekten ein Sprachproblem und eine Tendenz, technologische Innovationen mit eher depressiven Begriffen zu verkaufen: Wer will in einem »Nullenergiehaus« wohnen? Nullenergiehaus klingt, wie auch das Passivhaus, nach kalten, einsamen Abenden und feuchten Wollsocken. »Warum steht Ihr Haus so traurig und müde an der Straße ?« – »Na ja, ist halt ein Null-Energie-Haus.« Auch hier könnte eine andere Sprache für mehr Begeisterung sorgen.
Es ist interessant zu sehen, wie unterschiedliche Sprachen unterschiedliche Ideen von Raum und vom Dasein und Selbstsein darin prägen: In Amerika kann man »I’m home« rufen, da ist man also identisch mit dem Gebäude (wörtlich »ich bin Haus«), in Deutschland ist man »zu Hause«, also nicht ganz so identisch mit ihm, in Frankreich sagt man »je suis chez moi« – ich bin bei jemandem, »chez quelqu’un«, und dieser jemand ist ich: da kann man also nur zu Hause oder, wie wir sagen: »ganz bei sich« sein, wenn man gleichzeitig Gast und sich selbst ein guter Gastgeber ist.
Das Verhältnis von Raum und Sprache geht tief in die Substanz des Bauens und des Entwerfens hinein. Architektur wird nicht nur in Begriffen beschrieben, sondern auch in Begriffen gedacht: Wenn Architekten die Aufgabe erhalten, dreißig Wohneinheiten zu bauen, dann haben sie sofort eine Vorstellung davon, was so eine Wohneinheit ist. Wenn man den Begriff nicht hinterfragt, werden sie etwas mit Flur, kleiner Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer bauen, also etwas, was es schon gibt, und nicht das, was vielleicht stattdessen besser wäre; aber gelungene Architektur ist immer auch eine Ermutigung zu einem Leben, das man sich ohne sie vorher nicht vorstellen konnte.
Mir scheint, dass die sprachlichen Kategorien, in denen wir Städte, Plätze und Häuser beschreiben, denken und planen, die grundlegenden Wandlungen, zu denen es jetzt kommt, nicht fassen können. Das fängt mit dem Gegensatz von »öffentlich« und »privat« an. Was heißt das genau? Ganz klar, denken wir: Das Schlafzimmer zum Beispiel ist ein »privater« und die Straße ein »öffentlicher« Raum. Aber stimmt das so? Wenn jemand den ganzen Tag mit seinem Telefon und dem Laptop auf dem Bett liegt, von dort aus skypt, Instagram-Posts verfasst, Dinge kauft und produziert, Videokonferenzen abhält, dabei von zwanzig Leuten gesehen, von Kameras und Mikrophonen aufgenommen wird und im Bett alles das tut, was man früher in einem Büro oder Geschäft, auf dem Feld oder dem Marktplatz tat – befindet er sich dann noch in einem intimen, privaten Rückzugsort? Und begibt er sich, wenn er abends ausgeht und durch eine leere Straße spaziert, um den Kopf freizubekommen, dann tatsächlich aus dem Privaten ins Öffentliche? Oder verhält es sich nicht genau umgekehrt?
Es ist immer wieder eine Freude, vor einem Gebäude zu stehen, es zu durchwandern und es zu lesen, wie man ein Buch liest – wiederkehrende Motive zu finden, sympathische und irritierende Figuren, intime und offene Räume, verblüffende Öffnungen, Spiegelungen und Echos – und die Veränderungen einer Gesellschaft an ihren Räumen abzulesen; umso schöner, dafür auch noch einen Preis zu bekommen.
Der Essay galt auch aufgrund seines Hanges zu einer gewissen Länge immer als ein gefährdetes Genre; große deutsche Journalistenpreise haben die Unterkategorie Essay mittlerweile wieder gestrichen. Der Zwang zur Kürze, die Behauptung, die Leute seien nicht mehr in der Lage, sich länger zu konzentrieren als ein Goldfisch, prägte in den vergangenen zwei Jahrzehnten unsere Radiosender, die die Nachrichten mit musikalischen Jingles rhythmisierten, ebenso wie andere Medien.
Umso erstaunlicher, dass seit einiger Zeit alles immer länger wird:
Stundenlange Podcasts, Serien mit mehreren Staffeln und über tausendseitige Romane werden nicht nur hingenommen, sondern mit großer Begeisterung konsumiert.
Das lässt auch für die Zukunft des Essays hoffen. Nur, auch das muss hier gesagt werden, müssen auch die ökonomischen Bedingungen für eine Kultur des Essays erhalten werden. Viele, gerade jüngere Autoren leben in prekären Verhältnissen und können es sich nicht leisten, Essays zu schreiben für Medien, die sich mit der Bitte bei ihnen melden, doch bis Ende kommender Woche 20 000 Anschläge abzuliefern, für die man 200 Euro zahlen könne. Durch das Preisdumping im Bereich geistiger Arbeit geht der Gesellschaft das Denken einer ganzen Generation verloren; und hier, in der finanziellen Wertschätzung geistiger Arbeit, in ihrer Ermöglichung, muss sich dringend etwas ändern, wenn man Welterklärungen nicht nur aus der Hand einer Generation lesen will, die zu den goldenen Zeiten des Printjournalismus mit unbefristeten Verträgen eingestellt wurde.
Essays zu schreiben erfordert Geduld – nicht nur die eigene, sondern auch die vieler anderer. Im Idealfall hat man Eltern, die einem schon früh auf jede Frage, die man hat, sofort vier kluge Essays aus ihrem Bücherregal ziehen; im Idealfall hat man eine Redaktion, die einen trotz des Aktualitätsdrucks lange genug nachdenken und recherchieren lässt; im Idealfall hat man eine Familie, die sich mit der Aussage, »ich kann grad nicht, ich sitze hier gerade und denke nach«, zufriedengibt; im Idealfall hat man einen Lektor, dem keine Idee zu versuchshaft aussieht, und einen Verleger, der einem sagt, »jetzt gehen wir einen Gänsebraten essen, und dann machen wir ein Buch draus«.
Ich danke all denen, die mich unter diesen Idealbedingungen haben arbeiten lassen. Ich danke Rem Koolhaas für seine Rede; ich danke der Akademie für Sprache und Dichtung für den Johann-Heinrich-Merck-Preis:
Herzlichen Dank!