STATUT
§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.
Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.
Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.
§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.
§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.
§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.
Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.
Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021
Journalist, Schriftsteller und Übersetzer
Geboren 23.5.1944
...der seine Arbeit den vergessenen und verdrängten Ereignissen in der mitteleuropäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts widmet...
Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Ernst Osterkamp
Vizepräsidenten Aris Fioretos, Wolfgang Klein, Monika Rinck, Beisitzer László Földényi, Michael Hagner, Elisabeth Edl, Dea Loher, Ilma Rakusa, Marisa Siguan
Laudatio von Karl Schlögel
Historiker, geboren 1948
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lieber Martin Pollack!
Meine erste Begegnung mit Martin Pollack liegt mehr als dreißig Jahre
zurück. Ich war auf sein 1984 erschienenes Buch Nach Galizien. Von
Chassiden, Huzulen, Polen und Ruthenen. Eine imaginäre Reise durch die
verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina gestoßen, eine übrigens
wunderbare Ausgabe des Verlages von Christian Brandstätter. Die
Begegnung war also virtueller Art, lange bevor ich ihn selbst leibhaftig
kennengelernt habe. Und doch war sie folgenreich, wie ich es mir, wie
wir beide es uns nicht haben vorstellen können: dass nämlich eines Tages
die »verschwundene Welt« nicht nur wieder sichtbar werden, sondern
auch wieder zugänglich werden würde, sodass auf die imaginäre
Reise, zu der wir durch eine so harte Grenze wie den Eisernen Vorhang
gezwungen worden waren, endlich wieder eine wirkliche Reise vor Ort
würde folgen können – zum Beispiel in ein Lemberg, das zur alljährlichen
Buchmesse im September voll von Besuchern aus ganz Europa ist,
eine Stadt, die sich inzwischen mit Billigfluglinien bequem erreichen
lässt, in der im Jahre 2008 eine Tagung der Deutschen Akademie für
Sprache und Dichtung stattgefunden hat, oder die Reise in Paul Celans
Geburtsstadt Czernowitz, in der es seit geraumer Zeit das Literaturfestival
Meridian Czernowitz gibt.
Es war Martin Pollacks Galizien-Buch, das mich Mitte der 1980er
Jahre dazu gebracht hat, auf der Heimreise aus Moskau über Triest
nach München in Lemberg auszusteigen und mich in der Welt umzusehen,
die mich seither nicht losgelassen hat. Anfang der 1980er Jahre
hatte sich ein Gefühl ausgebreitet, dass es jenseits der in Ost und West
geteilten Welt noch etwas Drittes geben muss. Milan Kundera hatte
seinen Essay Die Tragödie Mitteleuropas. Un occident kidnappé verfasst.
Intellektuelle in Prag, Warschau und Budapest sprachen von etwas, was
es eigentlich nicht mehr geben sollte, und Martin Pollack war der Spurensucher,
der Fährtenleser, der Navigator, der die Wege beschrieb und
die Karten zeichnete, die ins Kernland Mitteleuropas hineinführten;
dorthin, wo sich, so Joseph Roth, die Grenzen verwischten, dorthin, wo
einmal die Vielvölkerwelt war, die in der Weltkriegsepoche mit ihren
Grenzverschiebungen, Säuberungen und dem Judenmord untergegangen
war. Am Beginn meiner Laudatio steht also der Dank an den Autor,
der wohl nicht nur mir die Augen geöffnet und den Weg in eine weithin
unbekannte Welt eröffnet hat.
Seit dem Galizienbuch von 1984 hat sich ein Lebenswerk ergeben, um
dessen Analyse die Literaturwissenschaftler und Historiker sich kümmern
werden, wenn sie es nicht schon getan haben. Die Akademie in
Darmstadt ehrt mit der Verleihung des Johann-Heinrich-Merck-Preises
für literarische Kritik und Essay ein Werk, das zuletzt in einer Art
literarischer Festschrift, zusammengestellt von Freunden, gewürdigt
worden ist – von Claudio Magris bis Adam Michnik, von Karl-Markus
Gauß bis Richard Swartz. Wie soll man angemessen über ein Werk
sprechen, das so umfangreich und vielfältig ist wie das von Martin Pollack: literarische Reportage, Essay, Gespräch, große Erzählung, Bildanalyse
und last but not least und nun auch schon ein Leben lang: die
Übersetzung. Weil er das alles kann, braucht er sich an die Grenzen,
die das jeweilige Genre definieren, nicht zu halten. Er ist der Historiker,
der Monate in den Archiven verbringt, und der Schriftsteller, der
die von ihm zu Tage geförderte Geschichte zu erzählen weiß, mit Anfängen,
die sogleich medias in res führen und einen bis zum Ende nicht
loslassen. Er weiß um die Magie des ersten Satzes, der den Ton vorgibt
und der nicht zu hoch und nicht zu tief sein darf, wenn die Erzählung
stimmen soll. Er ist der Meister der dichten Beschreibung, um die ihn
die Zunft der professionellen Soziologen und Ethnologen nur beneiden
kann. Man muss nur seinen Kaiser von Amerika lesen, also die Geschichte
von der »großen Flucht aus Galizien« zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Das ist eine Studie über Migration, Milieus und Netzwerke,
die die große Wanderung aus sich heraus produziert, und man hat den
Eindruck, dass Europa ganz und gar vergessen hat, was es je an Migrationserfahrungen
schon einmal gab. Er ist der Journalist, der zum rechten
Zeitpunkt am rechten Ort ist und zu Protokoll gibt, was in einem
historischen Augenblick, in dem eine ganze Epoche abgewickelt wird,
wie in einem Zeitraffer abläuft. Er hält den Film an, um besser und
genauer sehen zu können in einer Zeit, die aus den Fugen ist. In seinen
Miniaturen sind die großen Augenblicke, die Wenden, an denen etwas
umkippt, fixiert. Man lese nur seine Reportagen und Essays über
Warschau Anfang der 1990er Jahre: über die Warschauer Intelligenzija,
die selbstbewusst genug ist, auch in nachkommunistischen Zeiten ihre
Nylonhemden und altmodischen Brillen zu behalten, während die Gewinner
des Post-Sozialismus sich schon ihre maßgeschneiderten Anzüge
zugelegt und ihre erste Million gemacht haben. Er ist ein Physiognomiker
der Zeit, der den Vorteil des Fragments, die Präzision der
Vignette, an der hart gearbeitet werden muss, schätzt. Er ist ein professioneller
Beobachter, der nicht verschweigt, wem seine Sympathien
gelten, und der doch eine Distanz hält, die man braucht, um seine Urteilskraft
nicht zu gefährden. Er hält Polen die Treue, auch wenn er dort
in Zeiten des Kriegsrechts zur persona non grata erklärt wurde oder
jetzt, wo er nicht aufhört, die gegenwärtige Entwicklung in Polen kritisch
zu kommentieren. Er ist der Übersetzer, der in den Semantiken
Kontexte erkennt und mitübersetzt. Pollack ist der Entdecker, Förderer
und Bekanntmacher der polnischen, ukrainischen, belarussischen Literatur,
der alten, bei uns oft vergessenen – etwa Władysław Reymont –,
vor allem aber der neuen Stimmen. Wir im Westen verdanken ihm die
Entdeckung Ryszard Kapuścińskis, der sein Freund war, aber auch der
überragende Meister der literarischen Reportage, die Schule gemacht
hat – nicht nur in Polen. Meine Reisen mit Herodot – Reportagen aus der
alten Welt – so ein Titel eines Buches von Kapuściński, trifft auch auf
Martin Pollack zu, diesen Wiederentdecker der so lange vergessenen
Welt des östlichen Europa. Martin Pollack schreibt an einer
Stelle, er
sei nicht Photograph, er mache
keine Bilder. Das ist für einen
Schriftsteller
nicht so ungewöhnlich: Er schreibt, beschreibt, produziert die
Bilder von der Welt im Kopf, in unseren Köpfen. Aber er hat über die
Jahrzehnte hin eine Sammlung von wohl Tausenden von Photos zusammengetragen,
in Antiquariaten, Buchläden, wo immer er gerade
unterwegs war: in Nowy Sącz, Posen, Innsbruck, Wien. Er sucht und
sammelt Photos nicht zur Illustration, sondern als Zeugnis. Sie sprechen nicht für sich selbst, sondern er bringt sie zum Sprechen, fast wie
ein Bildwissenschaftler. Da geht es um das Schuhwerk sonst unsichtbarer
Gaffer in Wien während der berüchtigten »Reibpartien« im März
1938, als die Wiener Juden mit Bürsten die Straßen abwaschen mussten; da geht es um den Blick von oben herab auf eine auf dem Trottoir
kniende
junge Frau oder ein Gruppenbild von Wehrmachtsoldaten in
der Pause zwischen den Kämpfen; es geht um den handschriftlichen
Eintrag auf der Rückseite einer bei eBay ersteigerten Photographie
»Russische Frau 1944«. Er versteht, dass im Schnappschuss eine ganze
Welt, eine Konstellation, eine Tragödie oder ein Moment
des Glücks
zusammenschießen
kann. Pollack nimmt Maß an der Genauigkeit der
Photographie und weiß doch, wie mehrdeutig eindeutige Bilder sein
können.
Man fragt sich als Leser seiner Bücher, und noch mehr als Laudator,
was dieses nun doch so vielgestaltige und umfangreiche Werk »im Innersten
zusammenhält«, woher die Kraft kommt, den unendlich verworrenen
Wegen und Lebensschicksalen in Mitteleuropa nachzugehen,
die Adressen ausfindig zu machen und den Wegen zu folgen, die im
Niemandsland oder im Gas enden, und dabei doch das Ganze nicht
aus den Augen zu verlieren, der Sache treu zu bleiben. Gewiss hat es
zu tun mit dem Privileg des Ortes – oder sollte man sagen: mit dem
Fluch –, also Mitteleuropa und Österreich. Dort geboren und aufgewachsen
zu sein heißt, mit tausend Fäden und allüberall mit Kakanien
verbunden zu sein, wie diffus auch immer. Allenthalben ist man auf
die größeren Zusammenhänge der alten Monarchie verwiesen und auf
das, was im 20. Jahrhundert dort geschah. Pollacks Bücher sind eine
eigentümliche
Heimatkunde – mit Hall, wo er geboren ist, Linz, wo er
zur Schule ging, dem Internat im Pinzgau, das ihn aus der engen Welt
von Amstetten herausgeholt hat, Bocksdorf im südlichen Burgenland,
wo Österreich, Ungarn und Slowenien heute aufeinanderstoßen. Und
natürlich Wien, das nach dem Ende der Ost-West-Teilung wieder zur
postimperialen Metropole geworden ist. Überall sind die alten Verbindungen
mit Händen zu greifen, aber überall kommen einem auch Ruinenlandschaften,
die Schlachtfelder, die Linien der Deportations- und
Fluchtwege entgegen – und die Landschaft des Schweigens, die jahrzehntelang
über alles ausgebreitet war, auch in der Familie, in der Pollack
selbst aufgewachsen war.
Aber der junge Martin Pollack hatte auch Glück: Er wuchs in eine
Zeit hinein und stieß auf Menschen, die noch ein anderes Österreich
gekannt hatten, ein Kreis wie die Leute um das Wiener Tagebuch herum.
Da war man plötzlich in unmittelbarem Kontakt mit einer Generation,
die aus der ersten Republik herüberragte, kommunistischen
Intellektuellen und Exilanten, ehemaligen Schutzbündlern, die ihre Erfahrung
mit dem Austrofaschismus, aber auch mit Stalin gemacht hatten.
Da gab es einen Kosmos, zu dem selbstverständlich Budapest und
Prag, Moskau und London, Jerusalem und New York gehörten, Überlebende
gescheiterter Experimente und Revolutionen: Franz Marek,
Bruno Frei, Georg Lukács, nicht zu vergessen Ernst Fischer und Ruth
von Mayenburg, die Bewohner des Hotels Lux in Moskau, ein Brückenschlag
ins »Zeitalter der Extreme« – er, Eric Hobsbawm, von dem
der Terminus stammt, war ja auch aus Wien gekommen. Diese alt-neue
Linke hatte es mit einem Österreichertum aufzunehmen, das lange in
dem Glauben dahingelebt hatte, es hätte als erstes Opfer Hitlers mit
all dem, was geschehen war, nichts oder nur wenig zu tun. So hieß es
jedenfalls
für viele bis zur »Waldheim-Affäre«.
Martin Pollack ging 1965 weg aus Österreich, um in Warschau zu
studieren. Auch von dort aus ergab sich ein anderer Blick auf das Land,
aus dem ja nicht nur Hitler, sondern auch Figuren wie Ernst Kaltenbrunner
stammten – und sein leiblicher Vater. Die Suche nach ihm,
Dr. Gerhard Bast – Jahrgang 1911, SS-Sturmbannführer, Leiter der Gestapo
Linz, auf der Fahndungsliste für Kriegsverbrecher geführt –, die
Suche nach dem, wer er war, was er gesehen hatte, wo er unterwegs
gewesen war, machte die Aufklärung über die Vergangenheit zur persönlichen,
radikalen und existentiellen Frage. In einem Interview sagte
Pollack: »Der Onkel, mein Vater, mein Großvater, mein Stiefvater, alle
waren Nazis.« Von dort aus setzt eine nie nachlassende, bis ans Ende
gehende Suchbewegung ein, in der Pollack, so verstehe ich es, herausfinden
will, ja muss, was in seinem Land, mit seinem Österreich, ja:
mit seinen Leuten, seiner geliebten Familie geschehen war in einer Zeit,
über die man nicht sprach, obwohl sie überall noch präsent war: in den
Lebensläufen von Bürgermeistern, Erziehungsmethoden von Lehrern,
ausgewechselten Denkmälern und Symbolen. Die Rekonstruktion des
Todes seines Vaters in dem Buch Der Tote im Bunker – Bericht über meinen
Vater, der 1947 auf der Flucht am Brenner ermordet wurde, die Rekonstruktion
seines Lebensweges aus der Gottschee zum Gestapochef
von Linz und zum SS-Sturmbannführer, die Verfolgung seiner Spuren
– Linz, Kaukasus, Białystok, Minsk –, die Beschreibung der kleinen
Welt, die nach dem Krieg fast unverändert weiterlebte, führen ins innere
Zentrum, sagen etwas über die Antriebsenergie und den roten Faden,
der all die weit verzweigten Erkundungen zusammenhält. Er zieht
den Schluss daraus: »Wir können es uns nicht leisten, gewisse Dinge
zu vergessen. Wer aus so einer Familie wie ich stammt, verschreibt
sich lebenslang dem Imperativ des Niemals-Vergessens.« Das ist kein
bloßer Appell, sondern das Eingeständnis der Unabweisbarkeit einer
Auseinandersetzung, die fällig ist, wenn man weiterleben will. Dieses
Muss treibt ihn um in den verschiedensten Formen wie etwa in der Recherche
zum ebenso faszinierenden wie schockierenden Fall des Philipp
Halsmann, der als Bergtourist in den Dolomiten Opfer eines antisemitisch
gesteuerten Justizmordes wird. Die innere Drift seiner Arbeit
zielt sicher auf die dunkle Seite, die es in seiner sonst so liebenswürdigen
Familie und in seinem sonst so wunderbaren Land gibt. Ihm ist
die Schönheit des Landes und der Landschaften teuer – wie könnte
dies auch anders sein in Österreich! Aber die Landschaften, durch die
Pollack wandert, haben ihre Unschuld verloren. Kaum ein Ort im östlichen
und mittleren Europa, der nicht die Spuren der Verwüstung
trägt, Schlachtfelder, Massengräber am Wegesrand, Schluchten, auf die
kein Denkmal verweist, Kuhweiden oder Gewerbeparks, wo einmal ein
jüdischer Friedhof war, Karsthöhlen, in die die Opfer der Partisanen
gestürzt wurden. Martin Pollack zeichnet so das Relief eines versehrten
Kontinents, er schärft das Auge für die Kontaminierten Landschaften
und entwirft eine Topographie der Erinnerung – so die Titel seiner
letzten Bücher. Solche Vergegenwärtigungs- und Aufklärungsarbeit ist
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in einer »Zeit der Wirren«, in der alles auf dem Spiel zu stehen scheint,
was nach dem Krieg erreicht wurde, dringlicher denn je. Ich freue mich
sehr darüber, lieber Martin, dass dich die Deutsche Akademie für Sprache
und Dichtung für deine Arbeit mit dem Johann-Heinrich-Merck-
Preis ehrt, und gratuliere dir dazu von ganzem Herzen!