Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Karl-Markus Gauß

Schriftsteller und Kritiker
Geboren 14.5.1954
Mitglied seit 2006

Karl-Markus Gauß, dem melancholischen Spurensucher, der in seinen brillanten Essays und Journalen die Ränder Europas mit ihren vielen vergessenen und verdrängten Kulturen erschlossen hat...

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Klaus Reichert
Vizepräsidenten Heinrich Detering, Peter Hamm, Ilma Rakusa, Beisitzer Peter Eisenberg, Wilhelm Genazino, Joachim Kalka, Per Øhrgaard, Vizepräsidentin Beisitzer Gustav Seibt, Werner Spies

Laudatio von Ilma Rakusa
Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin und Übersetzerin, geboren 1946

Der humane Anti-Idylliker

Lieber Karl-Markus Gauß, sehr verehrte Damen und Herren,

wollen Sie wissen, was es mit den Assyrern in Schweden, mit den Gottscheern in Kroatien, mit den Aromunen in Mazedonien auf sich hat, lesen Sie Karl-Markus Gauß; wollen Sie sich ein Bild vom Leben der Roma in der Ostslowakei, von den versprengten Deutschen in Litauen, in der Zips und am Schwarzen Meer machen, lesen Sie Karl-Markus Gauß; denken Sie über Europa, seine realen oder möglichen Grenzen nach, lesen Sie Karl-Markus Gauß; interessieren Sie sich für die »Erniedrigten und Beleidigten«, die Randständigen und Vergessenen in den Literaturen Mitteleuropas, lesen Sie Karl-Markus Gauß. Gauß tut und schreibt, was andere nicht tun und schreiben. Gänzlich unbeirrt von Trends, Erwartungshaltungen, Opportunitäten, ist er immer seinen Weg gegangen, und dieser Weg war stets mit Wegen, mit Reisen an entlegene Orte dieses Kontinents verbunden. Denn die fragende Neugier, die aus Skepsis geborene Barmherzigkeit, der emphatische Gerechtigkeitssinn trieben Gauß aus den Wänden seiner Schreibstube (die auch die Redaktionsstube der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Literatur und Kritik ist) hinaus und hinein in die komplexen Wirklichkeiten europäischer Randzonen und menschlicher Randexistenzen. Er wollte sehen, riechen, schmecken, wollte Geschichten hören und sich in Geschichten verwickeln lassen, er suchte den Augenschein und die Tuchfühlung und scheute dabei keine Beschwerlichkeiten. Das unterscheidet ihn von bequemlichen Schreibtischtätern, von neunmalklugen Räsoneuren und Verallgemeinerern. Gauß belauschte – oder führte – Kneipengespräche, um seine Wirtshausgespräche in der Erweiterungszone zu schreiben, und hier erfahren wir einmal ganz unbürokratisch, was sogenannte Osterweiterung bedeutet, erfahren es an Einzelschicksalen, weil der humane Anti-Idylliker Gauß es in Sachen Ethos mit Danilo Kiš hält; »Ein jeder Mensch ist ein Stern für sich.« Auch sein Europäisches Alphabet ist alles andere als ein fades Kompendium europäischer Leitbegriffe. Hinter Kapitelüberschriften wie »Auswanderung«, »Balkan«, »Euro«, »Grenze«, »Mobilität«, »Nation«, »Sprachpolizei« oder »Volk, fahrendes« stecken Geschichten über Geschichten, deren Resümees gelegentlich zu harten, sarkastisch-polemischen Sentenzen gerinnen. Etwa so: »Europa wird nur eine Sprache haben oder es wird kein Europa sein, hat einmal ein Publizist gemeint, aber umgekehrt gilt: Europa wird viele Sprachen haben oder es wird mit wenigen die Barbarei lehren.« Gauß drückt sich nie um klare. Aussagen, seine Urteile können Kraus’sche Schärfe annehmen und mitunter missionarischen Eifer nicht verleugnen – die Essaybände Die Vernichtung Mitteleuropas oder Tinte ist bitter. Literarische Porträts aus Barbaropa sprechen nicht anders als seine zahlreichen Kritiken und tagespolitischen Glossen, eine deutliche Sprache –, doch in erster Linie ist Gauß ein begnadeter Geschichtenerzähler. Ob in Form von Essays, von Reisereportagen oder – wie in seinen jüngsten Werken - in einer Mischung der Gattungen, die auch Tagebuch und Romaneskes mit einschließen.

Das Mäandrierende liegt dem Reisenden und Flaneur am besten. Schnelle Pointen und Konklusionen sind ihm suspekt. Gauß liebt die Zufälle und Koinzidenzen, die Umwege, die sich als augenöffnend erweisen. Er – dessen donauschwäbische Familie aus dem bunten melting-pot der Batschka stammt – geht mit minuziöser Gewissenhaftigkeit und spürbarer Lust am Detail – Familien- und Ortsgeschichten nach, die ihn nicht selten in die verworrenen Tiefen der Historie führen, um dank seiner ingeniösen Recherche unerwartete Zusammenhänge zu offenbaren.

Ein Buch der Entdeckungen und freigelegten Fährten, eine autobiographisch grundierte Kartographie Europas ist Gauß’ jüngstes Opus: Im Wald der Metropolen. Dass die Routen ins Elsass und nach Transsilvanien, nach Siena und Istanbul, nach Bukarest und nach Schlesien führen, ist schon reizvoll genug, doch sind es die von Gauß gestifteten Verbindungen, Bezüge, assoziativen Verknüpfungen und Erzählfäden, die die Lektüre unwiderstehlich machen. Und mag der Gegenstand der Erkundung auch »nur« die Wiener Ungargasse oder der Wiener Bezirk Ottakring sein – Gauß’ Ausbeute ist stupend, da Wissen und Wahrnehmung, Belesenheit und Befindlichkeit zu schönster Synthese gelangen. Zutiefst berührend, wie er sich in Ottakring auf die Spuren des großen slowenischen Modernisten Ivan Cankar macht, der hier, umgeben von den Ärmsten der Armen, zwischen 1899 und 1909 selber darbte, aber ergreifende Bücher wie Die Gasse der Sterbenden schrieb. Gauß notiert:

»Das mit einem gelben Anstrich versehene Gebäude mit der Hausnummer 26 war nicht mehr jenes düstere Zinshaus, in dem Cankar in der engen, muffigen Wohnung der kinderreichen Familie Löffler ein Kabinett bewohnt hatte. Die Mutter Löffler schuftete den ganzen Tag, um die Familie zu ernähren, auch die Mädchen mussten früh das ihre zum kargen Unterhalt beitragen und stundenlange Näharbeiten verrichten. Cankar hat die Atmosphäre, die von Hunger und der Sehnsucht nach einem besseren Leben, von Enge und Großherzigkeit geprägt war, in vielen Vignetten und Artikeln eingefangen. Amalia, die jüngere der Töchter, starb an Schwindsucht dahin, Cankar, der sie in ihren letzten Wochen oft im Krankenhaus besuchte, hat ihr und den anderen Mädchen, die abgemagert, mit fieberglänzenden Augen durch die Vorstadt schlichen, in seinem Roman »Das Haus der Barmherzigkeit« ein Denkmal errichtet. Die ältere Schwester Steffi wurde seine

Geliebte ...«

Und Gauß fährt fort:

»Obwohl er zehn Jahre in Wien gelebt hatte, kannte Cankar dort außer den Proletariern und Lumpenproletariern seiner Gegend fast nur Slowenen und Angehörige anderer slawischer Nationalitäten. Mit den großen Wiener Schriftstellern jener Ära, mit Schnitzler oder Hofmannsthal ist er nie zusammengetroffen, aber offenbar auch den Arbeiterdichtern, Sozialreportern, Redakteuren der sozialistischen Zeitungen kaum begegnet. Wie im Goldenen Prag oder im heute so rabiat mythisierten Triest waren auch in Wien die Schriftsteller strikte nach ihren Nationalitäten geschieden, nahezu ohne Verbindung zueinander ...«

Und nun kommt wieder der Flaneur zu Wort:

»Zurück in der Ottakringer Straße, fielen mir jetzt die vielen Waschsalons auf, die es in den Städten der Welt überall dort gibt, wo junge Leute wohnen, die nicht so lange in der Gegend bleiben möchten, dass es sich für sie auszahlen würde, eine Waschmaschine zu kaufen ... Und zwischen den Waschsalons boten Änderungsschneidereien ihre Dienste an, sie erinnerten an eine Zeit, in der die kaputten Dinge noch repariert und nicht einfach weggeworfen und auch bei Kleidern die schadhaften Stellen noch geflickt und ausgebessert oder die Anzüge für die jüngeren Geschwister gekürzt wurden.«

Doch damit nicht genug. Weiter heißt es:

»Weil mich diese Atmosphäre einer Welt von gestern so idyllisch anmutete, hatte ich fast vergessen, dass ich mich ja auf dem Weg durch das Wien von morgen befand. Erst vor der Auslage der ›Partizan Butik‹ fiel es mir wieder ein. Dies war ein Devotionaliengeschäft des Fußballklubs Partizan Belgrad, der vor Zeiten große internationale Erfolge errungen und einige der besten Fußballer Jugoslawiens hervorgebracht hat und heute berüchtigt ist für seine Fangemeinde ...«

So ließe sich immer weiter zitieren, um zu zeigen, wie Gauß vom einem zum andern kommt, wie er das Heute mit dem Gestern, die Anschauung mit Reminiszenzen und mit Reflexionen zu Literatur und Kulturgeschichte verbindet. Gefühle sind durchaus ihm Spiel. Gauß macht keinen Hehl daraus, dass er Ivan Cankar zu seinen Lieblingsschriftstellern zählt und dessen sanftes Rebellentum und Bedürfnis nach Schönheit teilt.

Das Bekenntnishafte gehört wesentlich zum Aufklärer, Atheisten, Enzyklopädiker und Anwalt der Ausgegrenzten Karl-Markus Gauß, so wie der Drang nach Schönheit den Stillsten auszeichnet. Gauß’ Sätze sind kunstvoll gefügt, sind rhythmisch, voll sinnlicher Details, mag ihr Ton expressiv zum Ironisch- Sarkastischen, zum polemischen Pathos, zu melancholischer Nachdenklichkeit oder emotionaler Emphase neigen. Nicht zu vergessen: Anmut und Witz.

Ich erinnere mich, wie wir – Karl-Markus und ich – in der eisigen Karsthöhle von Vilenica frierend den gleichnamigen Mitteleuropa-Preis entgegennahmen, brüderlich-schwesterlich, um nicht zu sagen zwillingshaft, denn zum ersten Mal wurde der Preis an zwei Autoren verliehen. Wie gut, dachte ich, dass er dabei ist. Was tut und schreibt er nicht alles, was ich nicht kann. Was nur er allein kann, mit der ihm eigenen Leidenschaft und Konsequenz. Dann pflanzten wir beide ein Bäumchen, wie es alle Preisträger vor uns getan hatten.

Lieber Karl-Markus, der heutige Preis gehört dir allein, ich gratuliere dir von Herzen und wünsche dir in allen Sprachen Mitteleuropas viele weitere Jahre fruchtbaren Schaffens. ðiveli!