Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Jutta Person

Literaturkritikerin

Ob ihre Schriften sich literarischen Texten oder Korallen oder Eseln widmen: stets öffnet Jutta Person großzügig einen hellen Raum, in dem die Sache sich bemerkenswert klar betrachten lässt.

Jurymitglieder
Ernst Osterkamp, Ursula Bredel, Michael Hagner, Monika Rinck, Lukas Bärfuss, Elisabeth Edl, Maja Haderlap, Ilma Rakusa, Marisa Siguan und Stefan Weidner

Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind

Sehr geehrter Herr Präsident, verehrte Mitglieder der Akademie, liebe Daniela Strigl, meine Damen und Herren,

„Die Anzahl der in Teutschland gefundenen Rhinocerosse (..) wird nun bis auf Zwölf steigen, deren Reste ich zum Teil besitze und zum Teil untersucht (..) habe.“

Diese Rhinozeros-Statistik aus dem Jahr 1784 stammt von Johann Heinrich Merck und bezieht sich auf die rätselhaften Nashörner eines früheren Erdzeitalters, genauer gesagt, auf die Skelette von Tieren, die offenbar anders gebaut waren als die bekannten. Zu seiner Fossiliensammlung rechnet Merck, neben einem Rhinozerosschädel, auch einen Elefantenbackenzahn und etliche weitere Teile sehr großer Tiere, die aus den gängigen Ordnungen herausfallen. Unterm Pflaster der deutschen Landgrafschaften liegen Wollnashörner und Mammuts, auch wenn sie um 1784 noch nicht so heißen.

Wer nach Tierspuren fahndet in den Schriften Johann Heinrich Mercks, findet neben den Nashörnern und Elefanten auch Krokodile, Wale, Giraffen oder Schildkröten. Und wer sich mit historischen und heutigen Naturkunden beschäftigt, Literaturkritiken schreibt und mit dem wunderbaren Merck-Preis ausgezeichnet wird, hat sehr gute Gründe, sich für den Namensgeber zu interessieren. Johann Heinrich Merck war nicht nur Kritiker und Essayist, sondern auch Naturforscher – ein Citizen Scientist, könnte man aus heutiger Sicht sagen, oder übersetzt, ein Bürgerwissenschaftler. Die Citizen Science oder Bürgerwissenschaft hat ihre Wurzeln im 18. Jahrhundert, in den Beiträgen engagierter Laien, die das Wissen der Moderne schnell anwachsen ließen. Merck jedenfalls legte sich eine große Knochenkollektion zu, gehörte damit zum Typ ‚Sammler‘ und stand in regem Kontakt mit Fachgelehrten und anderen Forschern. Er selbst hat sich als Amateur verstanden: Hartnäckige Neugier spricht aus der Art und Weise, wie er sich ein Forschungsfeld zu eigen macht, das gerade erst entsteht – die Paläontologie, die Wissenschaft der geologischen Vergangenheit.

Was man der Aufklärung so oft in die Schuhe schiebt, die Entzauberung der Welt, ist bei einem so passionierten Knochensammler gerade nicht zu spüren, im Gegenteil. Dass die eiszeitlichen Riesen überhaupt erst Gestalt annehmen, liegt an akribischen Beobachtern wie Merck. Die derart genau untersuchten Tierknochen bringen die Schöpfungsgeschichte ins Wanken, indem sie die Welt deutlich älter, unbekannter und vielleicht auch phantastischer machen als bisher angenommen. Das biblische Dogma war sowieso schon angeschlagen, und mit den Tieren der Vorwelt zeichnen sich gänzlich andere Geschichten ab, und zwar solche von Erdumwälzungen und Klimakatastrophen enormer Ausmaße, denen Merck und seine Mitforscher auf der Spur sind; das lese ich im ausführlichen Kommentar der Merck-Ausgabe. Rückblickend scheint die Idee von der Veränderlichkeit der Arten zum Greifen nah, aber das dauert noch eine Weile. „Würden Sie glauben, Monsieur, dass dieser Teil des Landes Hessen-Darmstadt (..) von Elefanten- und zudem Nashornknochen nur so wimmelt?“, diese Frage richtet Merck in einem seiner „Knochenbriefe“ an einen Amateur-Kollegen. Das, was im Boden nur so wimmelt, wird ihn die nächsten Jahre antreiben.

Die Fossilien sind Teil einer neuen Erzählung, die in der Luft liegt, zwischen den Zeilen oder eben: in der Erde. Als Bürgerwissenschaftler oder Amateur ist Merck eine aufschlussreiche Figur: Bei seiner Fossilienleidenschaft scheint noch etwas zusammenzuhängen, was bald darauf auseinanderdriftet. Eine wissenschaftliche und eine nichtwissenschaftliche Form der Weltbeschreibung korrespondieren noch eine Weile miteinander, bevor Laien und Fachleute für mindestens zwei Jahrhunderte den Kontakt verlieren.

Wenn heute in der Literatur oder in der Essayistik, bei der Climate Fiction oder im Nature Writing, nach neuen Gattungen und Erzählformen gesucht wird, dann werden solche historischen Figuren in den Übergangszonen interessant. Alte Ordnungen funktionieren nicht mehr und neue sind noch nicht gefunden; das gilt für Mercks Kosmos sowohl über als auch unter der Erde. Eiszeitliche Wollnashörner sind noch nicht als solche bekannt, aber ihre Knochen wirken wie Botschaften aus einer weitgehend unbekannten Vorwelt. Als Naturforscher hat sich Merck um genaue Beobachtung bemüht, Spekulation war nicht sein Fall.

Was genau den Kritiker und Essayisten aber dazu gebracht hat, Tierknochen zu sammeln und auf dem jungen Feld der Paläontologie aktiv zu werden, was also die Triebfeder des Fossiliensammlers Merck war – das bleibt eine ziemlich spekulative Frage. Christoph Martin Wieland, der Herausgeber des „Teutschen Merkur“, bittet seinen geschätzten Beiträger immer wieder um Texte, „soviel es die ElephantenSchädel und Hüftknochen gestatten wollen“, und manchmal schickt Merck dann auch etwas, zum Beispiel einen Aufsatz „über den Ursprung der Fossilien in Teutschland“, in dem „verlohrene“ oder „ausgegangene“ Tierarten vorsichtig gegen die allgemeine Unveränderlichkeit antreten.

Wie gesagt, Merck scheint mir als Vertreter einer Übergangszeit und als Citizen Scientist interessant, als informierter Laie, der seine Leserschaft zum Zweifel am Bekannten anstiften und auf wissenschaftlich Neues aufmerksam machen will. In diesem Geist sammelt er seine Tierskelette. Hier noch ein Zitat aus einem Brief an den Dichter Gleim: „Ich werde nächstens 9 Rhinocerosse in Deutschland aufstellen, u. wohl über 50 Elephanten, ausserdem ein Incognitum, ein Crocodyl, das nur am Ganges gefunden wird, Löwen, Tyger u. Bären“, und zusätzlich „ausgegangene HirschArten“. Merck ordnet seine Tiere als Beweisträger einer unbekannten Vorwelt an; seine „Knochenphilosophie“, wie er das einmal ironisch nennt, bleibt dabei immer ganz dicht an der ausgegrabenen Materie.

Neun Rhinozerosse, fünfzig Elefanten, ein Incognitum, ein Krokodil, Löwen, Tiger, Bären und ausgestorbene Hirscharten. Zugegeben, solche Listen lösen eine Art Suchreflex aus, dem ich nur schwer widerstehen kann. Wo immer in der Geschichte der Naturbeobachtung Tiere angeordnet, aufgezählt, gesammelt oder beschrieben werden – ob in den Bestiarien, den Naturalienkabinetten oder den Lehrbüchern der neu entstehenden Zoologie – gibt es einen Aufzähler, der mal mit offenen, mal mit verdeckten Karten spielt. In diesem Fall frage ich mich, wie diese „größeren Landthiere“, deren Knochen erst allmählich sichtbar werden, auf die Weltwahrnehmung ihrer Sammler zurückwirken.

Tiere in eine Ordnung zu bringen, das haben nicht nur Naturkundler, sondern auch Schriftstellerinnen und Schriftsteller immer wieder von neuem versucht. In der Literatur sind Tiere mehr als ein Motiv und in der Geschichte des Wissens mehr als ein Forschungsgegenstand, weil jede Ordnung von Lebewesen etwas von der menschlichen Ordnung erzählt, in der sie entstanden ist. Vor allem aber besitzen Tiere immer auch phantastische Doppelgänger. Es ist wie mit den zwei Körpern des Königs (nur dass die Zahl zwei vermutlich nicht ausreicht): Neben den fühlbaren Formen aus Fell oder Federn erscheinen je nachdem erträumte, fabulierte, mythische oder monströse Gestalten.

Die realen und die imaginären Lebewesen, die das kollektive Gedächtnis bevölkern, treffen in der Literatur wieder aufeinander, und im besten Fall verwandelt sich das Aufzählen dabei ins Erzählen. Die berühmte „chinesische Enzyklopädie“ von Borges zum Beispiel vollführt so eine erzählerische Geste des Sortierens. In diesem animalischen Katalog lassen sich „die Tiere wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde“ und so weiter. Michel Foucault hat diese Enzyklopädie an den Anfang seiner „Ordnung der Dinge“ gestellt, weil sie die „Vertrautheiten unseres Denkens“ durcheinanderbringt, und er spricht tatsächlich auch von der „Zauberkraft“, die von solchen Aufzählungen ausgeht. Beunruhigend sind sie, weil sie gleichzeitig bannen und beschwören, ausdehnen und begrenzen.

Warum ich Literaturkritikerin geworden bin – und warum mich die historischen wie die heutigen Naturkunden so gepackt haben –, kann ich nicht genau erklären. Seit ich an dieser Dankesrede schreibe, suche ich nach einem missing link, der beide Felder zusammenbringt, die Literaturkritik und die Naturkunde. Testweise könnte ich behaupten, dass es in beiden Fällen um Vermittlung geht, aber das scheint mir ein bisschen zu pädagogisch und vielleicht auch zu witzlos, oder genauer: zu zahnlos.

Für die Literaturkritik gibt es ein Modell, das mich schon länger beschäftigt: die Charakteristik. Sie klingt im Satzbau, im Rhythmus oder in einzelnen Wörtern an. Charakterisieren heißt, „ein Buch zu beurteilen und zugleich nicht zu beurteilen“, empfiehlt Schlegel. Ein Werk zu verstehen bedeutet, nach seinen Eigentümlichkeiten zu suchen; und das wird möglich, wenn man „seinen Gang und Gliederbau nachkonstruieren kann“. Dasselbe Modell passt auch für das Schreiben über Natur, das fiel mir erst auf, als ich die Formulierung vom „Gang und Gliederbau“ nochmal anders und wörtlich gelesen habe.

Ich möchte das an einem Beispiel zeigen, und zwar an den Essays der amerikanischen Schriftstellerin Mary Hunter Austin, die um 1900 über die Berge und Wüsten Kaliforniens geschrieben hat. Diese nicht allzu bekannte Vertreterin des Nature Writing verwandelt Bussarde in edle Freibeuter, sieht die „breitmäuligen Canyons“ in den Hochtälern und folgt dem Trott der Kojoten. Kurz, sie konstruiert den „Gang und Gliederbau“ der beobachteten Lebewesen in der Sprache nach und verwandelt sie in Charaktertypen. Das schließt auch die Beobachterin selbst mit ein, wenn sie auf den Trampelpfaden der Mäuse und Käfer unterwegs ist. Man könnte das vielleicht als Wahrnehmungsphantasie verstehen, eine bestimmte Art, die Umrisse hervorzuheben und weiterzuzeichnen. Gleichzeitig haben diese Essays eine Haltung, denn sie stellen sich auf die Seite der Randfiguren, egal, ob menschlicher oder tierischer Natur. Idyllisch ist hier gar nichts, aber Witz hat es schon: Mary Austin versucht, eine bereits gefährdete Region zu schützen, indem sie ihre Bewohnerinnen und Bewohner expressiv in Szene setzt.

Hundertzwanzig Jahre nach Mary Austin sind Erzählungen vom Aussterben und vom Verschwinden so dringlich wie nie zuvor, die Gründe dafür liegen auf der Hand. Wenn das Schreiben über Natur so etwas wie ein Archiv der Wahrnehmungsphantasie ist, und wenn dieses Archiv das Bewusstsein schärft für alles, was gerade verloren geht, dann wäre schon viel gewonnen.

Mercks Rhinozerosse waren schon längst ausgestorben. Aber sie erzählen vom Versuch, die Welt mithilfe der Naturforschung neu begreiflich zu machen, und von der Zauberkraft, die in den tierischen Ordnungen steckt. Und nicht zuletzt erzählen sie von der Energie des Amateurs, der den Objekten seiner Begierde verfallen ist, von menschlichen Leidenschaften also.

Ich gratuliere Matthias Glaubrecht und Lutz Seiler zu ihren Preisen; und ich bedanke mich bei meiner Laudatorin Daniela Strigl für ein Lob, das ich mir nie hätte träumen lassen. Die Besonderheit von Dankreden besteht darin, dass man die Laudatio noch nicht kennt, sich aber trotzdem gern angemessen bedanken möchte – und deshalb weiche ich hier kurz vom Skript ab.

Der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und ihrer Jury danke ich von Herzen für diese ehrenvolle Auszeichnung – und für die Anerkennung, mit der ich mich gestärkt fühle für alle künftigen Schreibklausuren. Vielen Dank für den Johann-Heinrich-Merck-Preis!