STATUT
§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.
Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.
Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.
§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.
§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.
§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.
Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.
Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021
Journalist und Musikwissenschaftler
Geboren 18.12.1928
Gestorben 11.5.2017
Mitglied seit 1977
Die bewegliche Geistigkeit seiner kritischen Reaktionen auf die Erscheinungen der Literatur, des Theaters und der Musik...
Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Gerhard Storz
Vizepräsidenten Karl Krolow, Dolf Sternberger, Beisitzer Richard Gerlach, Ernst Kreuder, Fritz Martini, Otto Rombach, Horst Rüdiger, Hans Scholz, Wolfgang Weyrauch
Die Freiheit der Kritik heute
Meine sehr verehrten Damen und Herren, da die diesjährige Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung – die mir die hohe Ehre erwies, mich mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis auszuzeichnen, wofür ich herzlich danke, sowohl ganz allgemein für die hohe Ehre, als auch ganz speziell für den hohen Scheck –, da also die diesjährige Tagung im Zeichen kurzer Ansprachen und Lesungen stehen soll, möchte ich diese Darmstädter Kurzform auch anstreben und das, was ich zu sagen habe, in Form knapper Thesen vortragen, zu denen ich dann die jeweiligen Begründungen improvisieren will.
Wer den Titel »Die Freiheit der Kritik heute« hört, macht – es sei niemandem verdacht – ein undurchdringliches Gesicht. Man bedauert sich, nun noch einmal festrednerhafte Umkreisungen dieses derart weiten, tausendmal beackerten, unergiebigen Feldes miterleben zu müssen. Und falls man ein guter Mensch ist, bedauert man sogar den Vortragenden, der sich diesem Banalitäten-Abgrund aussetzt. Für die Thesenfahrt müssen die Definitionsweichen gestellt werden. Bestimmen wir darum die drei Worte, die im Thema »Freiheit der Kritik heute« auf einander bezogen sind, im Laufe der nun folgenden Überlegungen näher. Freiheit sei nicht verstanden als Gegensatz zu Unfreiheit, wie sie in Form von Zensur, äußerem Zwang, äußerer Not denkbar ist. Nein: ich unterstelle, daß hierzulande ein, noch näher zu definierender Kritiker-Typus die Freiheit besitzt oder sich erarbeiten kann, zu schreiben und zu sagen, was er für richtig und wichtig hält. Diese Freiheit ist aber nichts Abstraktes. Das führt zu meiner These eins.
These I:
Die Freiheit der Kritik heute hängt, im Konfliktfall, ab, von der Autorität, der Sachautorität des Kritikers. Je größer diese Autorität, desto größer auch die Freiheit, sich vom eventuellen, jeweiligen consensus einer Gruppe, einer Partei, eines Mediums zu entfernen. Autorität ist dabei »natürlich« oft gruppenspezifisch geprägt.
Erläuterung:
Das hat bedenkenswerte Konsequenzen:
1. Die Autoritäts-Verwechslung: Jemand benutzt Autorität, die er sich in einem bestimmten Gebiet, als Dramatiker oder Lyriker oder Wissenschaftler erworben hat, auf einem ganz anderen Feld. Dies ist nicht durchaus ungereimt, aber es will bedacht sein.
2. Drückt sich darin nicht ein Bestätigungsmechanismus aus?
Je größer die persönliche Autorität, desto unangefochtener die Freiheit. Ein Kritiker von Rang wird – und das trägt auch zu seinem Freiheits-Spielraum bei – viel weniger mit seinem jeweiligen Publikationsort identifiziert als ein Unbekannter. Zu Freiheitsdebatten kommt es ja ohnehin, vergessen wir das nicht, immer nur im Fall von Kontroversen: also wenn der Kritiker etwas sagt oder verlangt, was dem Redakteur oder dem Verleger entweder unwahr oder untunlich dünkt.
Doch je berühmter der betreffende Autor ist, desto weniger wird er ja mit seinem Publikationsort identifiziert. Was ein Hans Müller schreibt, muß die Redaktion beziehungsweise der Verlag mitverantworten, was Professor Hans Mayer schreibt, gleichviel wo, geht allein auf seine Kappe. Das hat wiederum eine bedenkliche Folge:
Falls der Freiheitsgrad eines Schriftstellers immer mit seiner Sachautorität oder seinem Ruhm oder seinem öffentlichen Gewicht zu tun hat, könnte unsere Kritiker-Freiheit Ausdruck eines Selbstbestätigungs-circulus-vitiosus sein. Werden nicht in einer wie immer beschaffenen Gesellschaft gerade diejenigen sich durchsetzen, die – mehr oder weniger unbewußt – die mehr oder weniger unbewußten Wert-Vorstellungen dieser Gesellschaft verkörpern und verbalisieren? So daß zum Schluß diejenigen die freiesten sind – die ohnehin gerade das Erwünschteste sagen? Erfolg korrumpiert immer ein wenig: es gehört viel Größe oder Erbitterung dazu, diejenige Gesellschaft als völlig irrend, faschistisch oder dumm zu bezeichnen – die einen schätzt, gewähren läßt, auszeichnet, und so weiter. Es könnte eine prästabilierte Harmonie bestehen zwischen dem Institutionen-System und denen, die sich innerhalb dieses Systems durchsetzen. Umgekehrt kann Erfolglosigkeit oder bewußt Erfolgsverweigern durchaus zur Kritik am betreffenden System führen, in welchem man keinen Erfolg haben will oder kann. Aber es muß nicht so sein: vergessen wir nicht jene zahlreichen Fälle, da ein spezifisch Erfolgreicher sich gegen die Gesellschaft wehrt, für die er aber nach außen spricht. Grass und Enzensberger und Böll wurden auch zu Adenauers und Erhards Zeiten ihrem Staat zugute gehalten – im Ausland, jenem Staat also, den sie umfassend kritisierten: und das nicht einmal ganz zu Unrecht.
Die Behauptung bleibt: Sachautorität, Autorität in einer Sache, schafft Freiheit, zumindest Kritik-Freiheit der ersten Dimension. Wir werden darüber zu reden haben, wie der Kritiker diese Freiheit heute gebrauchen kann oder soll. Soviel zur Freiheit. Nun zur Kritik.
Ich weiß, daß es spätestens seit Matthew Arnold und T. S. Eliot in England, seit der romantischen Kunstkritik – bestimmt aber seit Uromas und Heinrich Mann in Deutschland – üblich geworden ist, die Kritik als etwas höchst Nobles, als eine Form kreativer Äußerung zu verklären. Der Unterschied zwischen dem Schriftsteller und dem Dichter ist dabei schließlich sogar als mehr oder weniger faschistisch zurückgewiesen worden. Ich halte das für eine fromme, dem Selbstbewußtsein der Kritiker dienende, freundschaftliche Täuschung. Selbstverständlich kann ein bedeutender kritischer Publizist für seine Gesellschaft, seine Leser, für die Klarheit, Sensibilität und Vernunft des Denkens und Fühlens in einem Land viel wichtiger und als Person vielleicht wichtiger sein als irgendein mittelmäßiger Dramatiker oder Lyriker, über den endlose Analysen geschrieben werden, während die Kritiker meist die stolze Trauer der Unanalysierten tragen. Doch wer sähe nicht, daß der Vergleich zwischen einem erstklassigen Publizisten und einem schwachen Dramatiker ein schlichter Taschenspieler-Trick ist? Darum sei allen freundschaftlichen Demokratisierungstendenzen zum Trotz hier behauptet, daß das Produzieren halt eine andere Gewichtigkeits-Dimension hat als das Reagieren. Goethe-Zitat: »So ist das Hervorbringen freilich immer das Beste, aber auch das Zerstören ist nicht ohne glückliche Folge«. Ich gehe dabei so weit, hier noch einen Dimensionsunterschied herzustellen zwischen Schriftstellerei und Dichtung. Man darf doch nicht, auch nicht aus hochachtbarer demokratischer Besorgnis, aus Aufklärungs-Ernsthaftigkeit und Humanität so tun, als ob ein so glänzender, genialer Schriftsteller wie Lichtenberg nicht eben doch etwas unvergleichbar anderes wäre als ein Hölderlin, ein Büchner oder ein Kafka.
Das führt zur These 2:
Es war ein intellektuellenfreundlicher Irrtum, die Unterschiede zwischen Kritik, Schriftstellerei und Dichtung aufklärerisch einebnen zu wollen. Sie bestehen gleichwohl und nötigen Respekt ab. Kritik ist trotzdem keineswegs etwas nur Abgeleitetes, sondern entspringt einem spontanen, primären Impuls. Jemand will es tun.
Erläuterung:
Jemand will es tun. Der Trieb zur Äußerung eines für wahr erkannten oder für wahr gehaltenen Urteils ist ein ganz elementarer, keineswegs ein nur sekundärer Trieb. Derjenige, der das tun muß oder will, der trifft mit seinem Urteil auf einen kleinen oder großen Teil der Öffentlichkeit. Um auf sie zu treffen, muß er nur einen Menschen überzeugt haben: seinen Verleger oder seinen Redakteur, wenn er das nicht auch noch selber ist. Offensichtlich besteht ein Bedürfnis nach Kritiken, nach Reaktionen auf Kunstwerke. Es ist das Bedürfnis nach einem Katalysator. Die Öffentlichkeit selbst formuliert sich ihr Urteil oft erst dann, wenn sie das, was sie am Abend vorher gehört oder gesehen hat, schriftlich analysiert findet. Gewiß: sie spürt durchaus auch selbst, ob es ihr gefallen hat oder nicht. Aber erst, wenn die ganze Sache in die Sphäre eines Arguments, und sei es eines noch so mittelmäßigen oder platten, gehoben ist, formuliert sich ihr Urteil.
Ich möchte noch eine Sekunde bei meiner wahrscheinlich mißverständlichen Beschreibung des kritischen Äußerungstriebes verweilen. Das soll um Himmels willen nicht heißen, ein freier Kritiker müsse hier und heute unbedingt temperamentvoll reagieren. Im Gegenteil. Wenn die Öffentlichkeit vom Kritiker fordert, er solle sich doch möglichst temperamentvoll und überschäumend entscheiden, er solle wissen, was er will, er solle es deutlich und klar und möglichst extrem sagen, dann trifft diese Forderung zwar, wenn sie es auf Parteinahme absieht, durchaus etwas Berechtigtes. Meist aber ist sie offensichtlich so gemeint, daß man den Kritiker zum Temperamentsclown erniedrigen will. Er soll zu einem manisch depressiven Wurstel werden, den man interessant und lustig und vorlaut und vorschnell finden kann, und infolgedessen nicht ernst zu nehmen braucht. Der übliche Fall: die Zwar-aber-Kritik, die einschränkende Kritik, die J-ein-Kritik ist natürlich, von der Verkäuflichkeit her, die verhältnismäßig wirkungsloseste. Aber gerade diese Kritik ist leider am häufigsten am Platze. Kritisches Temperament, wie ich es hier verstehen will, heißt also immer nur, daß jemand sich äußern muß, etwas fälschlich für wahr Gehaltenes widerlegen muß, daß jemand einfach nicht weiterleben zu können glaubt, wenn unsinnige Meinungen im Schwange sind. Beim Heraufkommen der Zeitungen und Zeitschriften erhob der Bürger seine Stimme gegen feudales und klerikales Meinungsmonopol, gegen feudale oder klerikale Setzung. Ähnlich, nur in veränderter Situation, erhebt heute der Kritiker seine Stimme.
Als drittes Titelwort bleibt noch das »heute« zu bestimmen: Ich mache es mir leicht. Wer »heute« sagt und dabei sonor klingt – der meint Krise –, dies allerdings seit vielen hundert Jahren. Die Erschlaffung, Armut, Anfälligkeit oder, modisch formuliert, die sogenannte »Krise« des Erzählens, Dichtens, Denkens: das ist doch, so lange Menschen leben und eine Vergangenheit haben, die Regel. Glückliches Selbstgefühl, Stolz aufs eigene Niveau, aufs Erreichte, das ist die Ausnahme – und dann, in der Regel, wahrscheinlich ein geradezu alarmierendes Krisenzeichen.
These 3:
Kritik wird durch sogenannte Krisen ihrer selbst oder ihrer Objekte nicht etwa überflüssig oder zum Luxus luxuriös. Gerade dann ist sie vonnöten. Erst wenn die Krisen aufhören, braucht man keine Kritiken mehr. Also ein Goldenes Zeitalter. Oder am achten Schöpfungstag.
Auf welcher Freiheit muß Literaturkritik heute bestehen, wenn sie als selbständige Größe respektiert werden will im Bezirk von Sprache und Dichtung?
These 4:
Literatur-Kritik kann und soll sich die Freiheit nehmen, die sich viele Autoren und Literatur-Produzenten aus mannigfachen oft höchst respektablen Gründen versagen: nämlich die Freiheit, auch die kunstsprachliche Qualität eines Werkes oder einer Äußerung im Zusammenhang oder Kontrast zu allen Intentionen zu isolieren, zu fixieren und zu benennen.
Erläuterung:
Das heißt: der Kritiker hat die Freiheit, abzusehen vom Impuls, vom Impuls der Information oder Moral-Impuls, von der politischen, aufklärerischen oder soziologischen Absicht des Autors – also von alledem was den Autor oft erst in »Bewegung« setzt. Selbst Ingeborg Bachmann, wahrlich keine Agitprop-Produzentin, bekannte einmal, daß große Autoren meist etwas »wollen«. Alles das kann der Literatur-Kritiker in Relation bringen zu den kunstsprachlichen Qualitäten des jeweiligen Produktes. Wenn man bedenkt, wie oft der Roman, das Drama, die Kunst totgesagt wurden, allein in den letzten zehn Jahren, und gewiß nicht allein aus Übermut oder Überdruß, dann ist die Arbeit der Literatur- oder Musikkritik doch auch die emphatische Bewahrung des Erkenntnis- beziehungsweise Wahrheitscharakters kunstsprachlicher Qualität in Musik und Schriftstellerei.
Es kann sein, daß diese Kunst-Qualitäten im Vergleich mit Dringlicherem objektiv unwichtig werden. Das muß der Kritiker reflektieren – aber es ändert sich nichts an der Sache.
Ästhetizismus oder Formalismus wäre diese Stetigkeit nur, wenn es nicht auch eine spezifische Dringlichkeit und Wahrheit von Kunst-Ergebnissen gäbe, die erkannt, beschrieben, in ihren Grenzen umrissen und kritisiert werden können.
Zusatz: Wenn man sich nur an die gesellschaftliche Dringlichkeit hält – dann sind nicht mehr Beckett oder Grass oder Faulkner wichtig, sondern Fernsehen.
Und Illustrierte.
Und die Bewußtseins-Industrie. Vor allem die unauffällige. Bausinger wird darüber in seinem Referat berichten. Es gibt eben mehrere Dimensionen des Signifikanten. Der Kunstkritiker – auch der Literatur-Kritiker – ist so gesehen Spezialist für bestimmte Dimensionen. Solange er das weiß und zugibt, betreibt er keine ideologische Totalisierung.
These 5:
Wer die Maßstäbe, die Voraussetzungen für kritische Zuständigkeit, die produktive Nützlichkeit und die Absichten einer Kritik fixiert haben möchte, der fixiert in Wahrheit die Kritik und treibt sie in schlechte Abstraktion.
Erläuterung:
Die Maßstäbe müssen sich einstellen, sie dürfen nicht da sein. Sie müssen vorhanden sein, aber nicht zwingen, prägend, aber nicht doktrinär sein. Kritik, die im Kritiker entsteht, hat mit einem imprägnierten Malbuch zu tun. Schlegel: »Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben und keines zu haben. Er wird sich also entschließen müssen, beides zu verbinden!«
Zuständigkeit: Jemand will es – und vermag andere zu überzeugen. Nicht das Examen: der Staat darf nicht praeformieren, mittels Examen, was das rechte und was das falsche Kunst-Ideal sei. Dabei entsteht approbierte Beckmesserei. Produktiv ist die bittere oder süße Wahrheit einer Kritik, die notfalls alle ins Unrecht setzen darf. Die Bitte um »produktive Kritik« meint in Wahrheit, der Betrieb dürfe nur benörgelt, aber nicht in Frage gestellt werden.
These 6:
Kritik heute muß sich als winzigen Teil eines Entwicklungs-Vorgangs verstehen. Der Kritiker verbalisiert eigene Erfahrungen ebenso wie Prozesse, die er erkannt zu haben glaubt.
Erläuterung:
Auch Kunstwerke üben aneinander Kritik. Hebbels Judith-Psychologie kritisierte Schillers Jungfrauen-Idealität, Nestroys Judith-Parodie kritisiert Hebbels aufgesetzten Monumentalismus, Grillparzers Takt (in Libussa und Esther) kritisierte Hebbels Alles-Wissen und Nestroys Taktlosigkeit, Gerhart Hauptmanns Sympathie für die Armen kritisierte den Wiener Klassizismus, der Surrealismus wiederum kritisierte Gerhart Hauptmanns und Ibsens Seelen-Uhrwerk-Theorie. In der Musik noch deutlicher. Beethovens fast hysterische Dringlichkeit war Kritik an Mozarts unerschütterlicher Stilsicherheit. Chopin, der Beethoven liebte, wich wiederum der Beethovenschen Durchschlags-Simplizität aus. Brahms’ Verhaltenheit und Schwerfälligkeit übte Kritik an Chopins luxuriösem Feinsinn, Schönbergs Ausbruch wiederum kritisierte Brahms’ spätbürgerlich resignierendes, etwas partikularistisches Melancholisch-Sein.
Wer Kritik als Beruf ausübt, dem muß es allen unabweisbaren Unsicherheiten zum Trotz gelingen, den Eindruck eines durchgehaltenen Niveaus zu vermitteln. Den Eindruck eines sorgfältig abgewogenen Anspruchs und den Eindruck der Unbestechlichkeit, was ein paar Vorlieben und Idiosynkrasien nicht ausschließt. Dann aber ergibt sich vielleicht Zuständigkeit. Sie läßt sich kaum herstellen, wenn der Kritiker nicht seinen eigenen Weg zu den Werken und Künstlern finden will. Da er einerseits zum prompten Urteil gehalten ist, da er andererseits auch nicht seinen Frieden mit dem praktischen Realisierbaren schließen muß wie jeder Regisseur, wie jeder Intendant – darum kann sich der Kritiker zum reinen, von Kraft, Zartheit und Wahrheit zu überzeugenden Widerstand steigern. Das scheint mir eine seiner Funktionen zu sein. Weil seine Reaktionen ja nicht Kulturgeschichte machen, wenn sie auch manches beschleunigen oder hemmen, weil er mehr ein Symptom ist als ein Symptomatiker, darf er sich darauf beschränken, im einzelnen zu unterliegen oder zu widerstehen und unverdrossen auf die Überzeugbarkeit seines Sensoriums, wie seines Kunstverstandes zu setzen. Kein Dogma braucht ihn zu binden. Immer wieder, finde ich, darf er sich abwenden, immer von neuem sich einer Sache zuwenden, und kein Vorwurf sollte ihn weniger schrecken als der des Wankelmuts. Denn hinter seiner unheimlich freundschaftsgefährdenden und feindschaftsentgiftenden Offenheit, die nicht eine prinzipielle Liberalität ist, sondern eher Leidenschaft, immer wieder Versuchsperson für Kunstwirkungen verschiedener Art und Absicht zu sein, hinter dieser Offenheit, um sie herum, bleibt ja doch die Kritikerperson als eine Art Einheit bestehen. Ist der Kritiker beispielsweise für die Finsternis von Becketts unbewohnter Welt empfänglich, bewegt ihn deren Größe und deren beinahe indiskrete Bescheidenheit, dann wird diese Bewegung sich wiederherstellen, falls Beckett sich seiner elementaren Gewalt und der Kritiker sich selber treu geblieben ist, im nächsten Stück. Und sollte der Kritiker, weiterlebend, sich verändernd, plötzlich dem Faszinosum Becketts entwachsen, dann muß er ebenso redlich wie unbefangen sagen, warum aus dem Paulus ein Saulus geworden ist. Den Vorwurf des Wankelmuts muß er ertragen lernen. Wenn er nicht Moden folgt, sondern seiner stetigen, diskursiv Ton für Ton, Wort für Wort, Impuls für Impuls, Gestalt für Gestalt ernstnehmenden Urteilskraft, dann hat er auch beim sogenannten Verrat die Gewißheit, sich selbst und nicht einem Dogma treugeblieben zu sein. Das klingt so allgemein, meine Damen und Herren, wie es gemeint ist. Denn Kritiker wird der Kritiker ja erst beim Schreiben, beim Objektivieren und Vergegenwärtigen, eben beim Verbalisieren. Vorher ist er, wie alle anderen, denen es Spaß macht, nur Interessent, nur Liebhaber, vielleicht Fachmann.
These 7:
Prophetengabe ist weder ein absolut notwendiger noch ein absolut zureichender Beweis für kritisches Talent.
Erläuterung:
Vor der Zunft und der Zukunft legitimiert man sich, glaube ich, nur, wenn man sich bei den Gegenwartsautoren oder Komponisten auskennt und da auf die jeweils stärksten Bataillone setzt. Der Musikkritiker H. H. Stuckenschmidt schrieb: »In einem musealen Musikleben, wie es bei uns seit der Mitte des 19. Jahrhunderts herrscht, liegt die Aufgabe eines Kritikers in einer Förderung und Beurteilung nicht anerkannter Werte. Der konservative Musikkritiker ist seit Hanslick in der Musikkultur ohne eigentliche Funktion. Die letzte Entscheidung über künstlerischen Wert und Unwert fällt die Zeit« – das hört man gern, da braucht man ja gar nicht mehr zu arbeiten – »in der Zeit das Publikum. Der Rang einer kritischen Leistung bemißt sich nach dem zeitlichen Vorsprung ihrer Erkenntnis.« Zu deutsch, wenn man es zehn Jahre früher weiß als die Öffentlichkeit, das bemißt den Rang. Nun erhebt sich da doch wirklich die Frage, ob man das so sagen kann. Wiederum scheint mir da ein Urmodell der Kritik-Flucht getroffen, nämlich die Flucht ins Beweisbare. »Ich hab’ als erster erkannt, was am Nono dran ist oder am Bernhard oder am Ionesco, da habt ihr das alle noch gar nicht bemerkt.« Natürlich, wenn man es nicht gemerkt hat, das ist für einen Kritiker schon ein Gegenargument; jede geistige Existenz hat mit ihren Irrtümern zu tun, und man kann solche Irrtümer nicht wegschieben und dabei doch ein furchtbar netter Kerl bleiben. Aber der Rang eines Kritikers hängt, glaube ich, doch nicht allein mit Eigenschaften zusammen, die eigentlich viel besser zu einem Konzertagenten oder zu einem Verleger passen. Je früher man merkt, daß da irgendwo ein Genie ist, desto billiger kann man es einkaufen, desto mehr wird man daran verdienen. Also, daß man einfach sagt, kommt es wirklich nur darauf an, der »Öffentlichkeit« um eine Nono-Länge voraus zu sein, um sich dann von ihr und der sogenannten Zeit (nicht der Wochenzeitung) bestätigen zu lassen? Das heißt doch wiederum, den kritischen Wahrheits-Anspruch in ein Grenzgebiet zu schieben. Auf Schönberg gesetzt zu haben, auch wenn ihm die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht die Genugtuung widerfahren läßt, die er sich selbst versprochen hat, das hat nichts Beschämendes. Ich freue mich zwar auch, daß ich als erster eine positive Kritik über Günter Grass in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« geschrieben habe, aber das allein wäre als Rechtfertigung des Kritiker-Berufs doch recht armselig.
Ich möchte also ein Wort der Zusammenfassung wagen. Die Schwierigkeiten der schwebenden, auf sich selbst, aufs Subjekt verwiesenen Kritiker-Existenz will immer wieder jemand heilen. Aber jedes Argument, jedes Ziel, das dem Kritiker aus dieser Notsituation heraushelfen soll, ist eine Art Verrat an seiner ungewissen Freiheit. Deren elitäres Moment sei hier nicht beschönigt.
Wenn man es aber reflektiert – und in Beziehung setzt zum »Umfang« der Literatur, aus welchem der Literaturkritiker oder der Musikkritiker doch nur jenen winzigen Bezirk auswählt, der kunstsprachliche Anstrengung verrät oder kunstsprachlichen Rang hat – dann hat Kritik heute weder Grund zu übermäßiger Bedeutungsseligkeit noch auch zu unmäßiger Zerknirschung.