Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Jens Bisky

Journalist
Geboren 13.8.1966

... Seine stilistische Brillanz und weltläufige Aufmerksamkeit werden moderiert von einer Besonnenheit, die ihn bei aller Bestimmtheit des Urteils zu einer der verlässlichsten Stimmen in den Debatten der Gegenwart macht.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Heinrich Detering
Vizepräsidenten Aris Fioretos, Wolfgang Klein, Gustav Seibt, Beisitzer László Földényi, Michael Hagner, Felicitas Hoppe, Per Øhrgaard, Ilma Rakusa, Nike Wagner

Laudatio von Steffen Martus

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lieber Jens Bisky,

»die Germanistik ist, wie jeder weiß, eine zerstückelte Dame« – das muss man sich als Literaturwissenschaftler von Jens Bisky sagen und gefallen lassen, obwohl er es eigentlich ganz gut mit uns meint. Und so gibt er der »alten Dame« dann auch noch einen freundschaftlichen Rat mit auf den Weg, damit sie nicht »vollends zerschreddert« wird. Sie möge sich eine Frage stellen: »Was will ich erklären, verstehen?« Das klingt nur scheinbar schlicht. Dahinter nämlich verbirgt sich die hohe Kunst des Einfachen, die Jens Bisky auf beneidenswerte Weise beherrscht: Seinen Texten geht es um die Sache, nicht um sich selbst, um die Erklärung von großen Zusammenhängen mit feiner Unterschiedsempfindlichkeit und um das Verstehen des Besonderen ohne falsches Verständnis. Seine Artikel und Beiträge verfügen über eine beträchtliche Thesenenergie, verzichten aber auf Bescheidwissertum. Ihre Formulierungslust lebt von einer tiefsitzenden Abneigung gegen Sprach- und Gedankenkonfektion. Jens Bisky schätzt Darstellungen, die über Eigenschaften verfügen, zu denen man sich verhalten muss: Gegenwärtigkeit, Anschaulichkeit, Verständlichkeit, Prägnanz und Erfahrungsgehalt.
»Erklären« und »verstehen« also. Wen aber genau hier und jetzt? Den Buchautor Jens Bisky, der sich mit der Architekturtheorie um 1800 befasst hat, mit der Lebensgeschichte der DDR, mit der »deutschen Frage« und der prekären »Einheit« des Landes? Den Biographen Heinrich von Kleists, der einen »unaussprechlichen Menschen« mit dem seltenen Vermögen distanzierter Zuneigung literarisch bewältigt hat? Den Kenner des 18. Jahrhunderts, der Friedrich den Großen aus dem Stimmengewirr der Zeitgenossen lebendig werden ließ? Den Feuilletonredakteur, der Literatur, Sach- und Hörbücher so genau und so kenntnisreich beurteilt, dass man sich sehr häufig wünscht, er hätte die rezensierten Werke besser selbst geschrieben? Soll der urbane Beobachter im Zentrum stehen, der Stadtplanung, Malerei oder Theater als Gesellschaftskünste thematisiert? Der zur Bildungs- und Kulturpolitik ebenso energisch Stellung bezieht wie zu den gesellschaftspolitischen Herausforderungen der Gegenwart? Oder soll es schließlich um den viel engagierten Moderator und Diskussionsleiter gehen, der die Stränge eines öffentlichen Gesprächs leichthändig verflicht und zugleich seinen roten Faden einspinnt? Jens Biskys Bandbreite ist beeindruckend groß, seine Interessen sind weit gespannt. Über die Krisen des Postkapitalismus schreibt er genauso erhellend wie über die Pilzkopfstützen in der neuen U-Bahn-Station neben dem Roten Rathaus. Die geistige Einheit findet sich somit nicht in den Themen und Gegenständen, sie ergibt sich aus einer ganz besonderen Haltung.
Als wir uns vor rund zwanzig Jahren im Forschungskolloquium unseres gemeinsamen Doktorvaters kennengelernt haben, ist mir zunächst eines aufgefallen: Jens Bisky redete wie ein Buch. Und damit meine ich nicht, dass er viel oder gar zu viel geredet hätte. Jede Äußerung aber war so wohl überlegt, so gedankengesättigt und gedankenreif, als könnte der Diskussionsbeitrag augenblicklich gedruckt werden oder als zitierte Jens Bisky eigentlich aus einem Buch, das nur wir, seine Kommilitonen, noch nicht kannten. Tatsächlich haben wir anderen Doktorandinnen und Doktoranden damals an unseren Dissertationen gearbeitet, an akademischen Qualifikationsschriften. Er dagegen hat sein erstes Buch geschrieben. Es behandelt die Poesie der Baukunst von Winckelmann bis Boisserée. Wenn Sie heute den Prolog der Studie aufblättern, dann lesen Sie keine akademische Pflichtübung, sondern stoßen, vermittelt über den künstlerischen Gegenstand, auf das Bekenntnis zu einem Ethos der Wahrnehmung, der Reflexion und des Schreibens. Diese Haltung misstraut allen abstrakten Theorien. Jens Bisky bekennt sich – mit einer Formulierung Goethes – zur »halb raisonierten Empirie« und verbindet unauflöslich konkrete Anschauung, ästhetische Analyse und historische Nachdenklichkeit.
»Von nahezu allem kann der Mensch der Gegenwart Auskunft geben«, so bemerkte Jens Bisky einmal, »nur sich selbst kennt er wenig und gerade das Entscheidende nicht.« Daher bedarf es der geschichtlichen Reflexion, um der eigenen Zeit nahezukommen. Diese Kunst der Selbstvergewisserung im Rückblick beherrscht Jens Bisky meisterhaft. Dabei bildet die Revolutionsphase ›um 1800‹ nicht zufällig einen Gravitationspunkt, denn das wilde Neben- und Gegeneinander unterschiedlicher Positionen vermittelte damals nicht nur den Eindruck von fundamentaler Unordnung, sondern es beschwor auch das gefährliche Gespenst einer ›guten alten Zeit‹ als Gegenbild her auf.
Das historische Interesse am Umbruch und der Abschied von selbstgewisser Theorie sind bei Jens Bisky lebensgeschichtlich gesättigt von den Erfahrungen mit einem politischen System, das von heute auf morgen abgeräumt wurde. Davon erzählt sein zweites Buch, die autobiographische Erkundung der DDR und einer grenzgängerischen Existenz zwischen »Apparat und Gesellschaft«, »Herrschenden und Beherrschten«. Jens Bisky, und auch das wurde mir bald klar, verfügte bereits über eine fertige Biographie, als die meisten von uns gerade erst anfingen, eine Lebensgeschichte zu erzählen. Ihm wurde – Geboren am 13. August – die Erfahrung vieler Existenzen aufgezwungen und damit die Einsicht, dass absolute Wahrheiten immer an der Wirklichkeit zerschellen und nur im Plural und in ihrer wechselseitigen Moderation erträglich sind. Er weiß, was passiert, wenn man seinen eigenen Erfahrungen und Empfindungen misstraut und stattdessen in die »Zauberkiste des Wissens« greift.
Die Autobiographie, 2004 erschienen, endet in der »Promotionsfeiernacht« mit einem wunderschönen Schlussbild, an dessen Realität ich mich sehr gern erinnere. Nach einer langen Nacht torkelt eine kleine Schar von Studenten auf die Straße. »Ehe ich michs versah«, so Jens Bisky, »wankte ich, von Studienfreundinnen geführt, in die Morgendämmerung. Wann immer man mich fragt, ob ich in der Bundesrepublik angekommen sei, sehe ich diese Szene vor mir: wie ich im Vollrausch durch Berlin-Mitte stolpere, von zwei westdeutschen Frauen gestützt und sie haltend ... Mir fehlt nichts zum Glück. Drei Schritte stürzen wir voran, drei Schritte setzen wir behutsam einen Fuß vor den anderen. Von mir aus hätten wir stundenlang so weitergehen können.« Das war im Februar 1999, und bekanntlich pendelte sich die Geschichte nicht in diesen munteren Rhythmus ein. Bereits 2005 warnte Jens Bisky in seinem hellsichtigen Essay über Die deutsche Frage vor dem Entstehen einer »Angstgesellschaft«. In den jüngsten großen Artikeln setzt er sich mit der aktuellen Realisierung dieser Vision auseinander.
Wie für den Rezensenten gilt auch für den Kritiker des grassierenden Politpopulismus: Man muss seine Gegner ernst nehmen, darf sie nicht einfach denunzieren. Politisch erfordert dies zumal eine Partei, die, wie Jens Bisky zu Recht bemerkt, ihre Energie aus der Verachtung bezieht und die eigene Ausgrenzung bejammert, obwohl ihre Vertreter »so häufig im Fern sehen zu sehen sind wie die Tierfutterwerbung«. Die »vertrauten Einteilungen« in ›oben‹ und ›unten‹, ›links‹ und ›rechts‹ oder ›West‹ und ›Ost‹ helfen hier offenkundig nicht weiter. Wohl aber die Haltung, die Jens Bisky charakterisiert. Es bedarf der Anschauung: Die therapeutisch verständnisvolle Berücksichtigung von »Sorgen und Ängsten« infantilisiere und verniedliche »Zorngemeinschaften«, die schlicht die Macht anstrebten. Der Blick, fordert Jens Bisky, müsse sich schärfen und die »sozialen Räume« ausleuchten, ohne die Wirklichkeit an die »Sozialstatistik« auf der einen Seite und die »Skandalreportage« auf der anderen zu verraten. Durch Konkretion verdampfen Ideologien. Es bedarf ästhetischer Analyse: Weil die »politische Kultur« auf dem Spiel steht, muss die Regierungskunst Stilfragen bedenken. Es ist fatal, auch nur in der Tonlage die »alten Vorstellungen von Staat und Machbarkeit« künstlich zu beatmen. Diesem Versprechen von Handlungsmacht wird die Politik nicht gerecht werden können und erzeugt daher selbst jenen Verdruss, von dem der Populismus sich nährt. Und es bedarf historischer Reflexion: »Freie Gesellschaften« müssen lernen, »wie selten, gefährdet und unwahrscheinlich sie sind«.
Aus diesem Grund benötigen wir den denk- und sprachmutigen Zeitgenossen Jens Bisky, der Anschauung, ästhetische Analyse und historische Besinnung auf eine ganz besondere Weise verschränkt, der das Risiko des dezidierten Urteils eingeht und zugleich die Tugend gedanklicher Zurückhaltung pflegt – weil er genau hinsieht und genau formuliert, weil er erklärt und versteht. Ich gratuliere dir, lieber Jens, von ganzem Herzen zur Verleihung des Johann-Heinrich-Merck-Preises 2017.