Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Heinrich Vormweg

Journalist, Literaturkritiker und Theaterkritiker
Geboren 20.3.1928
Gestorben 9.7.2004

Heinrich Vormweg, dem vorsichtig abwägenden und unbestechlichen Kritiker...

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann
Vizepräsidenten Ludwig Harig, Hans-Martin Gauger, Helmut Heißenbüttel, Beisitzer Beda Allemann, Günter Busch, Hans Paeschke, Lea Ritter-Santini, Bernhard Zeller, Ernst Zinn, Ehrenpräsidenten Dolf Sternberger, Bruno Snell

Quer zum Zeitgeist

So dringlich an den unglücklichen Johann Heinrich Merck erinnert zu werden, wie es durch den Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der seinen Namen trägt, geschieht, ist für mich erneut geradezu eine Provokation, und ich möchte versuchen, dies zumindest skizzenhaft zu begründen. Mercks Name hat sich mir früh eingeprägt. Es war allerdings nicht die übliche, seit so langer Zeit als allgemeinverbindlich anerkannte Quelle, nach der ich mir ein Bild von diesem Darmstädter Kriegsrat, Freigeist und Unternehmer, diesem Kritiker im späteren 18. Jahrhundert gemacht habe, der es schon im Alter von fünfzig Jahren nicht mehr ausgehalten und seine Pistole gegen sich selbst gekehrt hat. Zwar bin auch ich Merck erstmals begegnet in Goethes Dichtung und Wahrheit, worin Goethes Freund aus den Jahren des Sturms und Drangs mit so wenig Schattierungen als ein Geist dargestellt ist, der stets verneint, als das lebende Vorbild für Goethes Mephistopheles. Bei der ersten Lektüre dieser Autobiographie ist mir aber in der Vielzahl der Namen und Situationen gerade Merck zunächst nicht besonders aufgefallen. Bekanntschaft ergab sich von anderer Seite. Mit ständig wachsendem, bis heute wachem Interesse habe ich meine halbe Studienzeit verbracht mit dem Werk Christoph Martin Wielands. Und weil er Mitarbeiter an Wielands »Teutschem Merkur« war, ist mir hierbei der Name Johann Heinrich Merck zum Begriff geworden.
Mephistopheles Merck, von dem Goethe sich schon früh distanziert hat, weil er sich auch mit guten Argumenten nicht mehr dreinreden lassen wollte, und jener Kritiker Merck, der in Wielands »Merkur« und in Friedrich Nicolais »Allgemeiner Deutscher Bibliothek« das in den »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« gemeinsam mit Goethe Begonnene im Interesse der Aufklärung fortzusetzen versuchte: – das sind zweifellos zwei ziemlich verschiedene Bilder des einen Mannes. Wobei mir bewußt ist, daß ich Goethe bei dieser Unterscheidung festlege auf jene Konsequenz, die er nach den wenigen gemeinsamen Jahren mit seinem kritischen Bewunderer Merck gezogen und erst sehr viel später festgeschrieben hat. Noch in Dichtung und Wahrheit erinnert sich Goethe immerhin auch daran, daß er selbst sich kaum sonst besser begriffen und ergründet gefühlt hat als durch Merck, insbesondere ein frühes Wort Mercks. Goethes »unablenkbare Richtung« sei, hat Merck zu Goethe gesagt, »dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben«, während die anderen alle nur »das sogenannte Poetische, das Imaginative zu verwirklichen« suchten, und das ergebe »nichts wie dummes Zeug«. Dieser Grund seiner – übrigens andauernden – Bewunderung, sie war für Merck allerdings auch Inhalt einer rigorosen, Ästhetik und das krude Wirkliche in eine direkte Beziehung bringenden Forderung an den Autor und den Menschen Goethe. Das gefiel diesem nicht.
Christoph Martin Wieland hatte ein anderes, ein nicht zuerst und zuletzt der Entfaltung eigener Individualität, sondern allgemeiner auf Humanität, aufs Gemeinwohl, auf die zukünftige Entwicklung des Menschengeschlechts bezogenes Interesse an der Kritik. Wieland hielt Literaturkritik nicht für im Grunde doch unproduktiv, eine Sekundärangelegenheit, die ans Schöpferische nicht heranreiche, sondern für nützlich, unentbehrlich, gesellschaftlich notwendig; allerdings nicht irgendeine Kritik, sondern Kritik, die sich zu Recht berief auf Vernunft. Dieser traute er ihr Teil daran zu, die Menschheit voran und zu sich selbst zu bringen. Wozu – das wußte er – Revolutionen nötig waren. Wieland hoffte auf vernunftbegründete und friedliche Revolutionen, doch – das wußte er – Revolutionen würden es sein.
Der Kritiker Merck, den ich ganz pauschal zunächst durch Wielands Augen gesehen habe, die Augen des älteren Bruders und Freundes – so die Anreden in Mercks Briefen –, doch auch seines Redakteurs, – Merck hat weit unduldsamer, auch anfälliger für Unglück als Wieland solche Erwartungen in sich geschürt und auf dem aufklärerischen, realitätsbewußt fordernden Impuls gerade des Sturms und Drangs bestanden. Der Kritiker Merck, er hat, wenngleich erfolglos, den unterdrückten Bauern, den Armen als Unternehmer praktisch zu helfen versucht. Zwar hatte Merck ebenfalls sein »Toleranzsystem«, konnte doch auch er überleben nur als Fürstendiener. Ihm aber kam offenbar jedesmal die Galle hoch, wenn er in einem seiner zahlreichen Briefe an die hohen Damen und Herren aus fürstlichen Häusern, denen er durch Bildung, Wissen und Kunstverstand nützlich war, Unterzeichnete als ihr »untertänigster Knecht«. Und es hatte für ihn unmittelbar mit seiner Literaturkritik zu tun, wenn er während und nach seiner Parisreise 1790 uneingeschränkte Bewunderung und Begeisterung zeigte angesichts der Französischen Revolution. In Frankreich hatte man sich, so wollte er glauben, von den Despoten befreit. Die Vermutung, daß Mercks Selbstmord im Juni 1791 nicht mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Krankheit zu erklären ist, sondern vor allem ein Akt der Verzweiflung war aus der Erkenntnis, daß es in Frankreich nicht gut ausgehen werde, daß die alten Mächte noch längst nicht geschlagen waren, diese Vermutung hat ihre Gründe für sich.
Es ist mir bewußt, daß dies eine sehr grobe Skizze ist. Und noch gröber bleibt notwendigerweise die Erwägung, was denn in dem allen heute noch die Provokation sei. Niemand steigt mehrmals in denselben Fluß, das ist mir bekannt, Geschichte mag im Kreis laufen, aber sie wiederholt sich nicht. Und doch sagt es etwas, meine ich, daß 1964, als der Merck-Preis gestiftet wurde, dem Jahr, in dem z. B. der Welterfolg des Marat/Sade-Dramas von Peter Weiss sich abzeichnete, die Erinnerung an Merck dem Zeitgeist entsprach, während sie heute ganz und gar querliegt zum Zeitgeist, und nicht weil alles besser geworden wäre, sondern dank vergeßlicher »neuer Unübersichtlichkeit«.
Auch noch als Merck Hand an sich gelegt hatte, blühte das Rezensionswesen üppig weiter, blühte bis hin zur Emigration der Heine, Börne, Marx und zur Oberherrschaft des unsäglichen Wolfgang Menzel. Die Kritik aber, die erste Waffe der Aufklärung, sie verlor sich in all dem Rezensionswesen nach und nach bis zur Unkenntlichkeit. Liegt es nicht nahe, sich dessen zu erinnern, wenn heute z. B. ein Schriftsteller wie Max Frisch von einer Gesellschaft spricht, »die nicht mehr durchleuchtet werden will«, die Verschleierung statt Aufklärung suche? Deutlich, ja schrecklich spürbar längst das allmähliche Verschwinden der Kritik aus dem öffentlichen Bewußtsein. Und ihre Medien selbst, so scheint es, tragen zur Verschleierung dieses Sachverhalts bei. Weiterhin gibt man sich ja Widerworte. Geschimpf und Gezänk sind durchaus an der Tagesordnung, der Parteienstreit ist so laut wie je, Bücher, Bilder, Theater, Filme werden gelobt und getadelt. Überall wird dem freiheitlichen Ritual Genüge getan. Eine Verständigung über die Gründe aber ist meist schon kaum noch möglich. Versuche zu einer solchen Verständigung werden schon kaum noch begriffen. Und ganz Altes, ganz und gar überwunden Geglaubtes spielt sich als das neueste Neue auf.
Eine Verständigung über die Gründe Kritik wird, und dies ist das Provozierende der Erinnerung an Johann Heinrich Merck, zum Popanz ihrer selbst, wo nicht mehr von allen Positionen aus unablässig der Versuch gemacht wird, ein Bewußtsein dessen zu erlangen, was für die Menschen, und zwar alle, nützlich sei, was sie freier machen und zu sich selbst bringen kann. Ohne eine Ästhetik mit diesem Vorzeichen keine Kritik, die sich berufen darf auf Johann Heinrich Merck oder gar mit diesem Namen schmücken. Das ist komplizierter als gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Trotz allem hat die bürgerliche Revolution, an der Merck schließlich verzweifelte, die Formen der Herrschaft verändert und gemildert. Sehr viel mehr Wissen als damals ist im Spiel, sehr viel mehr historische Erfahrung begründet Skepsis und Unsicherheit. Aufklärung ist nicht mehr zu denken ohne ihre Dialektik. Die Beziehungen zwischen Freiheiten und Despotie, zwischen Reichtum und Armut, zwischen individueller Entfaltung und Unterdrückung stellen sich völlig anders dar, und oft genug so, als sei es unmöglich oder überflüssig, sie noch zu durchschauen oder für all das Wirkliche noch so etwas wie eine »poetische Gestalt« zu finden, die gar das Wirkliche näher zu sich selbst brächte. Die makabren Euphorien des Pessimismus oder die öffentlichkeitswirksamen Rückzüge in private Heiligtümer oder – anstelle von Kritik – das selbstgewisse Spiel zwischen Animation und Abschreckung leuchten da viel eher ein.
Ganz gewiß: jede Erinnerung an Johann Heinrich Merck steht heute quer zum Zeitgeist, der wie eh und je der Herren eigener Geist ist. Und fraglich ist, ob es nicht fürs erste nur unfreiwillige Abdankung aus der Zeit ist, sich von solcher Erinnerung noch herausgefordert zu fühlen. Was mich betrifft, so kann ich jetzt, da ich meine Gründe hierfür offengelegt habe, nur um so herzlicher danken für den Johann-Heinrich-Merck-Preis der Akademie.