Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Hans Egon Holthusen

Germanist und Lyriker
Geboren 15.4.1913
Gestorben 21.1.1997

Hans Egon Holthusen, dem Essayisten, Kritiker und Biographen, der die Maßstäbe abendländischer Tradition auch für die Literatur nach 1945 zu erhalten trachtete...

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann
Vizepräsidenten Günter de Bruyn, Hartmut von Hentig, Ivan Nagel, Beisitzer Walter Helmut Fritz, Oskar Pastior, Lea Ritter-Santini, Peter Wapnewski, Hans Wollschläger

Laudatio von Peter Wapnewski
Mediävist, geboren 1922

I

»Wie fängt man es an, wenn man sich vor die Aufgabe gestellt sieht, das unübersehbar massenhafte Geschehen, das sich als das literarkritische Leben der Nachkriegszeit vor unseren Augen ereignet hat, auf begrenztem Raum darzustellen? Fünfzig Jahre in der Geschichte der Literaturkritik sind eine lange Zeit.«
Ich habe, wie den Aufmerksamen unter meinen Zuhörern nicht entgangen sein wird, zitiert. Habe Hans Egon Holthusen zitiert und habe mir lediglich die Eigenmächtigkeit erlaubt, in diesem Text den Begriff der Literatur zu ersetzen durch den der Literaturkritik und entsprechend den Autor nicht etwa zu verbessern, sondern seine Worte zuzuschneiden für meinen Zweck. Dem es darum zu tun ist, den Literaturkritiker, den Essayisten Hans Egon Holthusen zu charakterisieren, und das heißt, die Preisvergabe begründend, ihn zu rühmen.
Da sitzt er vor uns, unter uns, 8o-jährig, ein gegenwärtiges Stück Geschichte. 1937 begann es, mit einer Dissertation über Rainer Maria Rilke. Und endet – vorerst und durchaus vorläufig – mit einem Essayband, der sehr bezeichnend betitelt ist Vom Eigensinn der Literatur (Stuttgart 1989). Das selbstbewußte Substantiv meint allererst natürlich die Berufung auf die Autonomie des Literarischen, die Willkür der Poesie. Aber so ganz zufällig hat sich der Begriff des Eigensinns hier nicht in den Titel gestohlen. Denn wahrlich, an eigenem Sinn und Eigensinn hat es dem Literaten Holthusen auf seinem langen Weg durch die Bücher nicht gefehlt. Ein Leben – nicht für die Literatur, sondern durch die Literatur, in der Literatur. Ihre theoretischen Voraussetzungen, ihre praktischen Möglichkeiten, ihre tatsächlichen Wirkungen unermüdlich bedenkend. (Und sie als lyrischer wie epischer Dichter auch produktiv repräsentierend, – doch davon kann hier die Rede nicht sein).
Wer es unternimmt, dieses kritischen Œuvres habhaft zu werden, ist versucht, allererst nach den Titeln der Bücher zu greifen, in denen sich Holthusens Literaturverständnis, Literaturverstehen manifestiert. Das hilft fürs erste, denn er ist ein Meister der prägsamen, der prägenden Formel, die dann landläufig wurde: Die Welt ohne Transzendenz (1949); Hier in der Zeit (1949); Der unbehauste Mensch (1951); Labyrinthische Jahre (1952); Kritisches Verstehen (1961).
Man mag diese Titel – wie andere neben ihnen – als Wegmarken, als Stufen der persönlichen und literarischen Entwicklung lesen, und wer ihnen auch einen theologisch getönten Untergrund abhört, der wird sich daran erinnern, was es auf sich hat mit der Beziehung unserer Poesie zum deutschen Pfarrhaus, – wird denken dabei an Mörike und Gottfried Benn, denen der Pfarrerssohn Holthusen als Literaturhistoriker eindrucksvolle Studien gewidmet hat.
Rendsburg (wo Holstein sich berührt mit dem Schleswigschen) die Geburtsstadt, über sie ist vor allem zu sagen, daß sie zwischen Eider und Nord-Ostsee-Kanal gelegen ist und daß sie sich inmitten der ländlichen Fläche bemerkbar macht durch eine hochragende Brücke, die die Eisenbahn über eben diesen Kanal leitet. Rendsburg, nicht eben ein Tanz- und Rastplatz der Musen, so führte denn der Weg über Hildesheim (schon eher ein der Poesie sich – gewissermaßen rosenfingrig – zuneigender Ortsname), über die Studienstädte Tübingen, Berlin und München, über dunkle Soldatenjahre in Rußland und über die bedeutenden Stationen New York und Evanston (am Nordrand von Chicago, ich lasse viele Strecken aus und damit die mit Ortsnamen verbundenen Werke und Tage) endlich nach München.
Etwa 25 Bücher: Romane, Lyrikbände, Monographien, Essays. Mitgliedschaft in Akademien, Preise, Auszeichnungen, Orden: dies die Landkarte des äußeren Lebens, für die Markierung des Inneren ist ihr nicht viel abzulesen (zumal wenn man, wie sich ziemt, verhält vor dem, was das private Schicksal angeht, das der Laudator nicht zu berühren hat). Die geographische Metaphorik erlaubt es, von den Fixsternen zu sprechen, die als Orientierungspunkte über dieser Landschaft stehen. Da ergibt sich ein Sterngebilde aus der Kon-Stellation der Namen Eliot und Auden, Joyce und Brecht, Kafka und Thomas Mann, und inmitten ihrer und die Lineatur des Bildes am nachhaltigsten prägend, das Dreigestirn: Rilke, Benn, – und Goethe.
Um sie herum nun freilich noch die himmlische oder irdische Heerschar wenn nicht unzähliger so doch ungezählter Namen aus dem Schatz- und Beinhaus der Literatur der jüngst vergangenen vier Jahrzehnte, von Koeppen bis Böll und Claudel, von Grass und Walser und Bachmann und Celan bis Enzensberger.
Ein passionierter Leser fürwahr, und seiner Generation ein wirkungsmächtiger Vor-Leser. Leidenschaft: der Begriff drängt sich hier nicht von ungefähr an. Was immer dieser Kritiker bedenkt und beachtet, beurteilt, bewundert und rühmt, tadelt oder verwirft: er tut es mit vollen Sinnen und im Bewußtsein, daß Gerechtigkeit eine metaphysische Kategorie ist, die hienieden zu erreichen zwar ein redlich anzustrebendes Ziel bleibt, auf deren vollkommene Erscheinung indessen zu verzichten uns die Unzulänglichkeit menschlicher Urteilskraft und die Begrenzung menschlicher Einsichtsfähigkeit oft und oft schmerzlich nötigt. Er war ein Kritiker und haßte das Ungefähre, – um Rilkes großes Wort über den Dichter passend abzuwandeln. Einer, der nie lau war, – und wenn rücksichtslos, dann allererst gegen sich selbst, und in der Schärfe der Analyse oder der anstürmenden Heftigkeit des Zugriffs die eigene Flanke nicht vorsorglich schützend. Ich erinnere nur an das grandiose Pamphlet gegen Thomas Manns Doktor Faustus; die Protest-Kantaten gegen den Anspruch jener musenfernen Generation, die in der Literatur nichts aufzuspüren für wert fand als die »gesellschaftliche Relevanz«, und Katarakte des schäumenden Zorns stürzten über die Texte der agitierenden Doktrin von »links« oder scheinlinks. Doch auch die bildungsgeschützte Innerlichkeit der Tradition war nicht geschützt vor Holthusens sie anfechtender Kritik. Wie antwortete der weise Rudolf Alexander Schröder aus Bremen, den Holthusen gelegentlich auf liebenswürdige Weise ironisiert hat, in ihm einen Johann Heinrich Voss redivivus entdeckend, und dessen Lyrik er vor allem den Ton der frommen und klassisch gefestigten Erbaulichkeit ablauschte?

Kunstgewerbe nennt‘s Hans Egon
Und versagt ihm seine Gunst.
Habeat sibi, ich hingegon
Nenn es angewandte Kunst...

II

Die Gretchenfrage, die nicht nur Gretchen, mehr noch Faust jedem Kritiker stellt, stellen muß, sie lautet: Wie hältst du‘s mit deinen Kriterien?
Ich meinerseits halte mich da an Holthusens Essay Was ist kritisches Verstehen? aus dem Jahre 1967 (wiederabgedruckt in: Kreiselkompaß. Kritische Versuche zur Literatur der Epoche, München / Zürich 1976). Da kennzeichnet er zum einen die eine Methode, ihr Repräsentant ist (in diesem Falle) Georg Lukács, der Kleist verurteilt zufolge (so Lukács) »der borniert-religiösen Grundlage seiner fundamentalen Fragestellung« und seiner »objektiv kindischen Krisen« und ihrer vorgeblichen Tiefe. Dazu Holthusen: »Eine solche Art und Weise, mit einer doktrinären Kampfmaschine über einen großen Dichter herzufallen, ist literaturfremd, ist gegenstandsfeindlich, um nicht zu sagen gegenstandslos. Ich nenne das Flurschadenästhetik und würde mich weigern, es als eine rechtmäßige Form von Literaturkritik anzuerkennen.«
Sodann aber (zum andern): »es gibt auch die genau entgegengesetzte Methode, die Aufgabe zu verfehlen. Es gibt eine Bodenlosigkeit, eine Mark- und Witzlosigkeit des Verstehenswollens«, – und sie ist nicht minder schwer zu ertragen, sie arbeitet dürftig mit der Monotonie des beharrlichen Nacherzählens, »versetzt mit Statistik«, sie repetiert paraphrasierend das soeben Gelesene und beweist, was für den verständigen Leser des Beweises nicht bedarf, – kurzum: »Das Verstehen kann offenbar steril werden; die Quelle der Erkenntnis [...] kann versanden«.
Holthusen setzt dagegen, auf den Spuren Wilhelm Diltheys, das Verstehen aus kritischem Widerstand. Das meint: Verwerfung des Zensurierens aus der schulmeisternden Vermessenheit »privilegierten Wissens« (Benjamin). Meint Verachtung des Abkanzelns aus der Scheingewißheit literaturfremder politischer Heilslehren (s. Lukács). Meint den Verzicht auf ein dogmatisch sich verhärtendes Rechtbehaltenwollen. Vielmehr geht es um die redliche Anerkennung der Schwierigkeit, wie sie gegeben ist durch den hermeneutischen Zirkel, also jenes Gatters, das den Interpreten nicht entläßt aus der Aporie, das Teil nur aus dem Ganzen, das Ganze nur aus dem Teil erkennen zu können; und ihm bewußt macht, daß er schon mit der Auswahl des zu Erkennenden eine Art von Vor-Urteil fällt. Somit also:

»das rein passive oder paraphrasierende Verstehen kann sich verwandeln in ein aktives oder produktives Verstehen. Ich versuche zu verstehen, indem ich das in einem vorläufigen Sinne schon Verstandene ›verfremde‹, das heißt, indem ich etwa das Verwirklichte in den Stand seiner Möglichkeit, das Vollendete in eine Aura von Fraglichkeit zurückversetze, indem ich durch Vergleiche, Analogien, Kontrastbildungen, durch ›komparatistische‹ Manöver der verschiedensten Art meinen Text [gemeint ist der behandelte Text, P.W.] wechselnden Beleuchtungen aussetze.«

Das aber heißt: »Der Kritiker, wie ich ihn mir vorstelle, ist allen methodischen Neuerungen gegenüber aufgeschlossen«; und »er wird nicht zugunsten eines einzigen methodischen Prinzips alle anderen verwerfen. [...] Als der Leser, der über Gelesenes schreibt, Gelesenes als Material für eigene Ausdrucksleistung behandelt, ist er der Partner des literarischen Lebens«. Dies alles aber führt unweigerlich zu der letzten Frage an den literarischen Kritiker: Was ist das Kriterium für die Tauglichkeit seiner Kriterien? Also für »die Glaubwürdigkeit eines kritischen Verfahrens?« Da stehen wir nun unversehens im methodologischen Zentrum nicht nur des Wesens der Kritik sondern aller Geisteswissenschaft. Denn sie analysiert, beobachtet, kennzeichnet oder urteilt, wägt und wertet ihren Gegenstand immer und allemal gebrochen durch das Medium eines Subjekts, einer Persönlichkeit. Um es mit Holthusen in Bezug auf sein Metier zu sagen: Die letzte Instanz findet sich (»fürchte ich«) in der »persönlichen Überzeugung des kritischen Autors, der sich in einer bestimmten Situation den Konsens eines bestimmten Publikums erstritten hat«. Und »persönlich«, das will sagen,

»daß man sich selber, alles Seinige ins Treffen führt: Phantasie und Intelligenz, Kennerschaft und Leidenschaft, Träume, Erinnerungen, Verzichte, Entwürfe, all das muß verpfändet werden an den Prozeß, in dem man das Werk eines ändern zu verstehen und zu beurteilen versucht. So wird kritische Autorschaft und unter Umständen kritische Autorität erworben.«

Alles Seinige ins Treffen führt... Zu der Schärfe des Arguments, der Menge gewußten Wissens, der überzeugungsfreudigen Energie des Bildungsbewußtseins tritt im Falle der Person des Hans Egon Holthusen als letztes, jeden Ansatz zum Widerspruch erledigendes Argument die Wucht seiner Person, die schmetternd vom Turm seiner Daseinshöhe den aufbegehrenden Opponenten die eigne Nichtigkeit kläglich erfahren und ihn kleinlaut verstummen läßt. Jupitergleich das tönende Haupt, die Arme – ähnlich den gewaltigen Rudern eines Meeresungeheuers – türmen die Wogen auf des überwältigenden Wortes. Da weitete sich der Raum der Literatur aus und wölbt sich in außerliterarischen Dimensionen des Daseins.
Der Kritiker nicht als Versucher sondern als Versuchender. Sisyphus, den Stein immer wieder wälzend ohne je den Gipfel zu erreichen, – und insoweit (siehe Camus) ein glücklicher Mensch. Der Kritiker als Meister des Versuchs, das heißt des Essays. Ein Lieblingszitat Holthusens, den ›Four Quartets‹ von T. S. Eliot entnommen (dem »einst zu Europa konvertierten Amerikaner«): »For us, there is only the trying. The rest is not our business«.
Es ist aber in dieser Bewußtheit des Versuchens, in dieser Einsicht ins Fragmentarische, Unzulängliche und Vorläufige alles kritischen Tuns ein Element auch der Höflichkeit, – was uns Holthusen deutlich macht durch ein anderes seiner Lieblingszitate (nämlich aus den Maximen und Reflexionen): »Es gibt kein äußeres Zeichen der Höflichkeit, das nicht einen tiefen sittlichen Grund hätte«: Höflichkeit, ihrerseits innig verwandt der Tugend der Dankbarkeit. Ihr als einem hervorragenden »Ausdruck mitmenschlicher Kultur« geht Holthusen in einem seiner schönsten Essays nach (1976, wieder in Kreiselkompaß), indem er diesen »Grundgestus der ›menschlichen Natur‹« als einen Grundgestus in Werk und Person Goethes erkennt. Das Motiv der Dankbarkeit zieht sich unter dem Blick Holthusens »als ein Inbegriff dieser Liebe zum Ganzen, zur Wahrheit des Realen beziehungsweise zur Schöpfung Gottes [...] in Variationen durch das ganze Werk«.
Durch Goethes Werk, und es ist erlaubt – bei aller Rücksicht auf das Gesetz der Proportion –, diesen humanen Gestus auch in Holthusen aufzufinden, in seinem Werk, er selbst gibt uns die Lizenz, wenn er bekennt, es sei ihm dieses Motiv »als wär’s ein Stück von mir, von Kindesbeinen an vertraut gewesen«.
Als wär’s ein Stück von ihm ... Es ist ein Stück von ihm. Wir haben Anlaß, dem Kritiker und Essayisten Hans Egon Holthusen für dieses Grundempfinden der Dankbarkeit und des ihr zu dankenden Werks dankbar zu sein.