Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

François Bondy

Journalist
Geboren 1.1.1915
Gestorben 27.5.2003
Mitglied seit 1981

Als Publizist und Übersetzer, als Redakteur und Gesprächspartner dient er stets anregend und kritisch der Vermittlung zwischen den Literaturen vieler Sprachen und Völker.

Jurymitglieder
Präsident: Präsident Peter de Mendelssohn
Vizepräsidenten Karl Krolow, Horst Rüdiger, Dolf Sternberger, Beisitzer Horst Bienek, Walter Helmut Fritz, Rudolf Hagelstange, Geno Hartlaub, Gerhard Storz, Wolfgang Weyrauch

Ein Kritiker, der gelegentlich zu Jurys gehört, Preisträger mitbestimmt und rühmt, muß sich, wenn er vom aktiven Zustand des Auszeichnens in den passiven Zustand des Ausgezeichneten gerät, Vorkommen wie ein Reporter, der statt zu interviewen, interviewt wird – geschmeichelt, aber auch ein wenig verwundert und desorientiert. Da es zum Thema Ihrer diesjährigen Herbsttagung paßt, und mit meiner – ach! – langjährigen Erfahrung zu tun hat, möchte ich bei diesem Anlaß etwas über »Austausch und Vermittlung« sagen, zu welchem Problemkreis hier, wenn ich es recht verstand, Verleger, Herausgeber, Übersetzer, literarische Agenten zu Wort gekommen sind, aber der auf Vermittlung zwischen Sprachkreisen spezialisierte Kritiker vielleicht einige besondere Wahrnehmungen beisteuern darf.
Zweierlei unterscheidet den mittelnden Kritiker, der über Literatur anderer Sprachen berichtet, vom Rezensenten, der vor allem auf Neuerscheinungen der deutschen Sprache eingeht: er informiert mehr, er verreißt weniger. Gegenüber Autoren der eigenen Sprache darf, sofern sie bekannt sind, beim Leser einiges vorausgesetzt werden. Um über ein Buch von Günter Grass oder von Peter Handke zu schreiben, wird kein Kritiker vom Nullpunkt ausgehen, sondern das Neue mit den früheren Werken vergleichen, wird prüfen, ob ein Autor sich bewährt, sich wandelt, ob er Erwartungen übertroffen oder enttäuscht hat. Viele Leser werden nicht nur diese eine Kritik zur Kenntnis nehmen, sondern mehrere, also »pluralistisch« viel erfahren haben, und vielleicht auf die Frage, ob sie das betreffende Buch schon gelesen haben, antworten, wie jene Amerikanerin, »Yes, but not personally« (»Gewiß doch, aber nicht persönlich«). Der Rezensent wird sich auch bewußt sein, daß der Inhalt der Kritik weniger zählt als deren Länge, weil ein umstrittenes Buch mehr interessiert als ein allseits gerühmtes. »Verrisse konservieren ein Werk wie Essig die Frucht«, sagte Jean Paulhan.
Ein auf Bücher anderer Sprachen konzentrierter Kritiker wird eine Auswahl treffen, die er nicht durch Vergleich mit anderen seiner Meinung nach weniger bedeutenden Autoren der gleichen Sprache motiviert, denn die Zahl unbekannter Namen, die er dem Leser zumuten darf, ist begrenzt. Hingegen wird er über den Autor, auf den er rühmend hinweist, viele Informationen geben, um die Auswahl zu begründen und die Neugier der Leser – auch vielleicht der Verlagslektoren unter ihnen – zu stimulieren. Zwar ist im Literarischen jede Mitteilung zugleich eine Wertung, doch kann innerhalb dieser Einheit die Information stärker betont werden als das Urteil. Was ein Rezensent über Bücher der eigenen Sprache meint, können die Leser überprüfen. Ihrer Bevormundung sind Grenzen gesetzt. Wer darauf aufmerksam macht, was in fremden Sprachen literarisch zählt, mag von zwei Dutzend Kollegen beurteilt werden. Die übrigen Leser müssen es ihm abnehmen. In seinem schmalen, neuerdings schrumpfenden Bereich hat dieser Mittler »Autorität«. Zuweilen mag ihm gelingen, Entdeckungen durchzusetzen, doch wird der größte Teil seiner Anregungen verloren gehen, kein Echo finden. Da mag sich der Mittler schon kränken, wenn ihm nicht gelingt, für das großartige Tagebuch des nicht unbekannten Jacques Audiberti und für die hervorragende Romantrilogie des berühmten Evelyn Waugh irgend ein Interesse zu wecken. Mangelt es den Verlegern an Wagemut, den Lesern an Neugier? Gleichwie. Hier geht es nicht um eine Wehklag noch um eine Anklage. Der Kritiker, der freiwillig als unbezahlter »talent scout« fungiert, muß sich auch sonst mit beschränkten Genugtuungen zufrieden geben.
Wie verhält sich der Mittler zu den verschiedenen Gattungen des Schrifttums: Theater, Erzählung, Essay und Sachbuch, Lyrik? Beim Theater ist der Bedarf groß, die Bereitwilligkeit, es mit neuen ausländischen Autoren zu wagen, entsprechend. Immerhin zählt auch hier Einsicht und Einsatz des einzelnen Kritikers. Dafür stehe im Verhältnis zum französischen Neuen Theater der Fünfziger Jahre der Name des verstorbenen Albert Schulze-Vellinghausen. Von der englischen Literatur sind Bühnenautoren wie Pinter, Stoppard, Bond allgemein bekannt geworden, während so meisterhafte Erzähler wie Doris Lessing oder V. S. Naipaul – nobelpreisverdächtig, sofern sie nur lang genug leben – wenn nicht ganz unbekannt, so doch unvertraut bleiben.
Beim Roman scheint die Neugier gegenüber bestimmten Völkern und Lebensformen mindestens soviel auszumachen wie die Begabung des Erzählers. Der Japaner Kobo Abe, der Nigerianer Chinua Achebe mögen bedeutender sein als dieser oder jener amerikanische Romancier, von dem alles übersetzt wird. Es verhält sich aber so, daß den Leser das amerikanische Milieu besonders interessiert. Der außerliterarische Faktor der Lust am Romanlesen darf nie unterschätzt werden. Diese Einsicht stammt übrigens nicht von mir sondern von Henry James. Nach der hiesigen Rezeption zu urteilen, beginnt das allzufremd Exotische schon bei Italien. Ob die rühmenswerte, ein wenig schlagartige Anstrengung zu Gunsten der lateinamerikanischen Literatur diese Feststellung Lügen straft? Ich hoffe es, aber nicht ganz ohne Skepsis.
Manche ausländische Essayisten kommen außerordentlich gut an, Michel Foucault zum Beispiel, andere gar nicht. Es gibt da Moden, aber auch Unterlassungen, die wie eine – vermutlich ungewollte – Zensur wirken. Die hervorragendsten französischen Essays über die Sowjetunion, über China wurden meist übersehen, und die Schule der neuen Historiker, die vielleicht das derzeit Beste an französischer Forschung und Methode bietet, wenig beachtet.
In der Lyrik ist es eine Verlegenheit. Was hier vorgeht, eignet sich kaum zur informativen Mitteilung, nur zur Übersetzung, und für die ist der Raum, auch der Zeitschriften, sehr beschränkt. Hier ist jedenfalls vom übersetzenden Dichter alles zu erwarten, vom kritischen Mittler wenig. So kommt es, daß der Kritiker, der über fremdsprachige Literatur schreibt, oft gerade das ausklammert, was ihn am stärksten berührt hat. Verreißen – das sollten sich Kritiker eingestehen – ist nicht nur eine bittere Pflicht, sondern auch ein Mordsspaß, was sich
manchmal im polemischen »overkill« zeigt. Hier kann der Kritiker Temperament und kabarettistischen Sinn für Komik beweisen, was beim Loben eines Buches doch nur selten möglich ist. Verreißen kann man aber nur, was ohnehin im Gespräch ist, also nicht jene Bücher, die man selber erst ins Gespräch zu bringen versucht.
Wir haben vermutlich heute mehr Welt, die auf uns eindringt, als früher, und weniger Weltliteratur, die wir aufnehmen. Vielleicht ist das eine Illusion und überschätzen wir die Aufgeschlossenheit der Verleger und Leser von dazumal. Was aber gewiß fehlt, ist das Medium. Länder, in denen es auflagenstarke Literaturperiodica auf Zeitungspapier gibt – die USA, England, Frankreich, Italien – sind uns Deutschsprachigen voraus. Solange es hierzuland ein Organ wie TIMES LITERARY SUPPLEMENT, NEW YORK REVIEW OF BOOKS, NOUVELLES LITTERAIRES, TUTTOLIBRI nicht gibt, wissen wir nicht, woran es wirklich liegt, wenn derzeit relativ wenig vermittelt und angeeignet wird. Erst das Vorhandensein einer solchen Publikation und ihr Echo könnten mehr Klarheit schaffen. Ich darf mit meinem Dank an die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung für eine Auszeichnung, die jenseits der Person bestimmt auch die Funktion des Mittlers meinte, die Feststellung verbinden, daß uns gegenwärtig im deutschen Sprachbereich ein solcher Ort des regelmäßigen literarischen Gespräches fehlt, und ich hoffe, daß Sie mir zustimmen, wenn ich diesen Umstand nicht als schicksalhaft sehen mag, sondern als provisorisch und veränderbar.