Georg-Büchner-Preis

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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Satzung

Präambel

Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.

§ 1

Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.

§2

Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.

§3

Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.

Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.

§4

Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.

Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.

Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.

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Uwe Johnson

Schriftsteller
Geboren 20.7.1934
Gestorben 24.2.1984
Mitglied von 1977 bis 1979
Homepage

... die strenge Kunst seines epischen Werkes, worin er gegenwärtige Menschenwelt mit ernster Wahrhaftigkeit dargestellt hat.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Gerhard Storz
Siegfried Dörffeldt (Hessisches Kultusministerium), Richard Gerlach, Ernst Kreuder, Karl Krolow, Fritz Martini, Otto Rombach, Horst Rüdiger, Heinz Winfried Sabais (Stadt Darmstadt), Hans Scholz, Dolf Sternberger, Wolfgang Weyrauch

Dankrede

Meine Damen. Meine Herren. Der Verfasser des literarischen Werkes, für das der Georg Büchner-Preis des Jahres 1971 vergeben werden soll, dankt dem Präsidium der Akademie für Sprache und Dichtung zu Darmstadt für seine Absichten, dem Kultusministerium des Landes Hessen und dem Magistrat der Stadt Darmstadt für ihr Einverständnis. Der Verfasser dankt allen Beteiligten, nicht zuletzt jenen, die diesen Raum in Ordnung bringen werden am Ende der Gelegenheit.


Der Georg Büchner-Preis ist mit 10000,00 deutschen Mark ausgestattet. Der Verfasser möchte einen solchen Betrag nicht als schlichte Freundlichkeit annehmen, oder etwa als Honorar für die von Empfängern dieses Preises erwartete Rede. Er hält sich für verpflichtet, Ihnen zu beschreiben, wofür er den größeren Teil dieses Geldes angelegt hat, bevor er es überhaupt besaß; er ist überzeugt, daß die Anwesenden ein Recht auf solche Kostenabrechnung anzumelden haben.


Der Verfasser bittet um die Geduld derjenigen unter den Anwesenden, denen die öffentliche Besprechung von Geld als unschicklich gilt. Der Verfasser ahnt ihre Empfindungen, nachdem er auf einer förmlichen Gesellschaft in New York dringlich Erkundigungen eingezogen hatte nach den Quadratmeterpreisen von Wohnungen in der Park Avenue an den fünfziger Straßen; er wurde diskret befragt, ob er nicht zu oft an das Geld denke. Ob er am Ende money-conscious sei. Der Verfasser war lediglich seiner Arbeit nachgegangen, denn er benötigte die Höhe der Mieten an solcher Straßenecke für eine Arztpraxis, die er dort und in einem Roman einzurichten gedachte. Jedoch möchte er jenen Vorwurf verstärken insofern, als er es eher hält mit Menschen, die im Gelde noch ihre verwandelte, nämlich verkaufte Arbeitszeit erkennen. Er dankt also jenen beiden Büroarbeiterinnen, die vor einigen Wochen in einem new yorker Fahrstuhl unbekümmert öffentlich verhandelten über die Kosten eines Apartments am Riverside Drive, würdig umstanden von schicklichen Gestalten in dunklen Anzügen. Die Herren mißbilligten dergleichen Aufführung; der Verfasser erfuhr dadurch etwas über eine seiner Personen, deren Leben zu beschreiben er vorhat. Geld, in welcher Form immer es auftrat, hat das Leben dieser Person oftmals verändert; so geht es dem Verfasser mit zu vielen seiner Personen. Demnach ist es keine Bitte um Entschuldigung, sondern eine Feststellung, daß der Verfasser aus beruflichen Gründen ein besonderes Verhältnis zum Gelde unterhalten muß.


Der Verfasser hat das Geld, das er aus dem Georg Büchner-Preis erwartete, in Dollars verbraucht. Die Kundigen unter Ihnen werden das Unternehmen beurteilen nach der gegenwärtigen Schwäche jener Währung; die Kundigen unter denen sollen versichert sein, daß der Verfasser nicht vermochte, sich einem Auftrage zu entziehen. Roh zusammengezogen bestand der Auftrag in der Suche nach dem Leben einiger Personen in der Zeit zwischen dem 20. April und Mitte August in der Stadt New York, also in der Nachprüfung und neueren Vermessung der Gebiete, die sie in New York vordringlich zum Leben benutzten, nämlich der Oberen Westseite von Manhattan und des kommerziellen Viertels auf der Ostseite in den vierziger Straßen. Der Verfasser hoffte, durch seine Anwesenheit in den damaligen Lebensgebieten seiner Personen noch erinnert zu werden an frühere Vorfälle in ihrer Biographie, ja sogar Zusammenhänge zwischen diesen Vorfällen aufzufinden.


Dem Plan ließe sich entgegenhalten, Personen eines Romans seien in einem Gemeinwesen wie Darmstadt mit geringeren Kosten an Erschließung und Produktion anzusiedeln als in einer Gegend des Dollar, welches Geld immerhin noch lange nicht umsonst zu haben ist. Der Verfasser führt beiläufig ins Feld, daß er den Personen eines fortzusetzenden Romans schon über tausend Druckseiten ein Leben in New York eingerichtet hat. Nachdrücklicher verweist er darauf, daß er keine unbedingte Verfügung über seine Personen besitzt. Er hat in ihrer Gesellschaft gelebt, seit er sie erfunden hat, und er hat sie nicht aufgegeben, nachdem ein Buch hinter ihnen geschlossen wurde. Selbst die Toten unter ihnen wurden im Gedächtnis der Verbliebenen bewahrt und griffen vermittels Erinnerung in deren Handlungen ein. Insbesondere eine dieser Personen, aus deren Leben der Verfasser einmal nichts als wenige Wochen im Herbst 1956 erzählt hat, steht ihm mit nicht einschränkbar eigenen Rechten gegenüber. Die Person hat sich finden lassen bis zu ihren Urgroßeltern, sie hat den Verfasser suchen lassen nach den Einwirkungen von vier gesellschaftlichen Systemen auf ihr Leben, sie läßt den Verfasser mit ihrem Kind, mit ihren Freunden und Vorgesetzten und Feinden Beziehungen unterhalten weit über die Verpflichtung von Bekanntschaft hinaus. Sei es in den Gedanken des Verfassers, sie wird ihm widersprechen, wenn er ihr eine Entscheidung vorschlägt, die zu ihren Bedürfnissen und Bedingungen nicht paßt. Sie wäre im Frühjahr 1961 nicht von Düsseldorf nach Darmstadt umgezogen. Sie war mit solchem Spielraum nicht versehen; sie mußte damals ihre Arbeit einem Düsseldorfer Unternehmen verkaufen, das schickte sie nach New York. Nach zwei Jahren in New York hätte sie eine Rückkehr nach Düsseldorf oder Darmstadt, zu irgend einem Deutschland überhaupt, auf das strengste verweigert; in einer der erzählten Zeiten, im August 1967 bis zum August 1968, wohnte sie in New York, und wollte der Verfasser das letzte Drittel der vorgegebenen Zeit genauer wiederfinden, half ihm keine Ausrede gegen eine Reise nach New York.


Die Reise nach New York wurde unternommen in einer Maschine einer westdeutschen Fluggesellschaft; gewiß nicht aus Ehrfurcht vor den Besitzverhältnissen. Dem Verfasser kam es eher darauf an, in dem Verhalten westdeutschen Flugpersonals Erinnerungen zu finden an die hartnäckige Abneigung, die eine seiner Personen gegen Einzelheiten des deutschen Wesens unterhält, selber eine Deutsche, obwohl sehr oft schon Mrs. C. genannt. Die Hoffnung auf solche Funde mußte der Verfasser nicht nur über dem Atlantik, auch in New York sorgfältig kontrollieren mit einem Filter, der nur hindurchließ, was in der von ihm angestrebten Zeit zwischen April und August 1968 möglich gewesen wäre. Also ist er nicht imstande, Ihnen das durch einen neuerlichen Streik veränderte Verhalten des Taximannes als einen Ertrag abzurechnen, und da die Fahrt vom Flughafen Kennedy nach Manhattan 1968 $ 7.00 gekostet hatte, kann der Verfasser Ihnen hier, wie bei anderen Gelegenheiten auch, nichts bieten als Rechnungslegung: $ 13.00.


Der Verfasser erlaubt sich, in die Abrechnung des Preisgeldes einen anderen Arbeitsauftrag aufzunehmen. Das war die Vorbereitung einer Rede anläßlich des Preises. Lange Zeit schien dieser mit dem ersten Auftrag unverträglich, manchmal reinweg ein Hindernis. Der Verfasser fürchtete, er könne von seinen Personen und New York abgelenkt werden durch womöglich die Verpflichtung, Äußerungen eines zweiundzwanzigjährigen Schriftstellers aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts zu kommentieren. Vor der germanistischen Methode, die der Verfasser zwar gelernt hat, war ihm am meisten bange, und er hätte gern entscheiden mögen, ob jener Gg. Büchner in einem Jahr 1880 auf ein Schauspiel namens »Dantons Tod« oder auf eine wissenschaftliche Vorlesung »Über Schädelnerven« zurückgeblickt hätte als den Anfang seiner Laufbahn seit 1835, und ob ihm solche Betrachtungen beigekommen wären als renommiertem Schriftsteller im kaiserlichen Berlin oder als deutschem Flüchtling und Professor in Philadelphia (zwei Eisenbahnstunden von New York; $ 8.60).


In Gesprächen unterwegs verzichtete der Verfasser darauf, noch eigens der Forderung zuzustimmen: Ja, man müsse die Leute in allen Verhältnissen sehen. Er wartete jeweils vergebens auf die Fortsetzung: Es sei recht gut, daß das Sterben so öffentlich werde; und wäre diese Äußerung getan worden von jemand, der die Straße herunterkommt und vorbeigeht.


Im allgemeinen Auftrag des Verfassers stand ein besonderer verzeichnet: die Suche nach einem Kind namens Marie, 1968 zehneinhalb Jahre alt, deutscher Herkunft, jedoch seit 1961 aufgewachsen auf den Straßen und in den Schulen New Yorks. Dem Verfasser war auf seine bisher vorgelegten Berichte von dieser Marie entgegengehalten worden: dies Kind sei zu fix, im Denken wie im Handeln. So um die Ecke zu fragen vermöge ein Kind nicht in diesem Alter, es könne mit erwachsenen Manieren nicht so firm, wenn auch spielerisch, umgehen, und es sei vor allem außerstande, sein Verhalten mit einmal akzeptierten Folgerungen kongruent zu halten. Unkindlich, mit einem Wort. Der Verfasser hatte das Verhalten seines Kindes Marie Cresspahl sorgfältig zusammengesucht aus Einzelheiten des Verhaltens von ehemals europäischen Kindern, die durch die Lebensbedingungen einer Stadt wie New York rascher die Tricks des Überlebens gelernt hatten, er hätte die Amerikanisierung dieser mecklenburgisch-rheinländischen Marie als theoretischen Vortrag aus der bisher geschriebenen Erzählung herausziehen können; er gab dem Verdacht nach, ihm sei dies Kind im Verlauf der Erfindung über den Kopf gewachsen, ob nun mit den Mitteln der Liebenswürdigkeit oder mit zu wenig geprüfter Unabhängigkeit. Also begann er, nach weiteren Belegen für kindliches Verhalten in New York zu suchen; ergeben bereit, die für ihn ungünstigen wenigstens als Korrektiv im folgenden Teil seines Buches zu verwenden.


Am 14. September meldete die New York Times von der Revolte der Eingesperrten im Gefängnis von Attica, New York, die Häftlinge hätten den als Geiseln gehaltenen Schließern die Kehlen durchgeschnitten, während die Ordnungsmächte den besetzten Teil des Gebäudes stürmten. Ein etwa vierzehnjähriges Mädchen sagte auf die Nachricht, ohne zu zögern: im Gegenteil seien die Geiseln unter den Schüssen der Polizei gestorben! zur heftigen Bestürzung einer Mutter, die dem Kind gerade politische Unterweisung nicht vorenthält und deren Kummer über die Lage der Nation sich ausdrücken kann in dem Ausruf: Ach unser Land! Am Abend war offenbar, daß das Kind die Wahrheit eher gefunden hatte als die angesehenste Zeitung des Landes.


Gewiß, jenes Mädchen ist um die vierzehn Jahre alt; Marie Cresspahl war 1968 zehneinhalb. Dennoch wird der Verfasser nunmehr, im weiteren Schreiben, hartnäckig sich erinnern, daß Marie doch schon mit sechs Jahren auf die Nachricht vom Tod einer Nachbarin nicht fragte, woran sie denn gestorben sei. Nein, sie wird sagen, und ohne daß der Verfasser ihr Altklugheit anzuhängen gedenkt: Who shot her? Wer hat sie erschossen?


Am 15. September hatte die Times in trübem Ton zu erwägen, wie es denn zu so widersprüchlichen Darstellungen aus Attica habe kommen können, einmal die Messer an den Kehlen der Aufseher, dann ihr Sterben an manchmal bis zu zehn Schußwunden. Der Times hätte nach ihrem Eingreifen in die Geheimnistuerei des Kriegsministeriums einfallen können, daß in Attica eine kleinere Behörde das Verfahren der großen befolgte und, wie die Regierung, auch einmal mit einer Lüge zum eigenen Vorteil durchzukommen versuchte, bis ein junger jüdischer Arzt an nichts sich hielt als an seinen Diensteid (in einem Fernseh-Interview bezeichnete er sich nachdrücklich als forensischen Pathologen und als Beamten) und keine Kehlen durchschnitten sah, zur kaum unterdrückten Wut des Gefängnisdirektors. Dort wird es demnächst wieder heißen: Die Juden, etc.; die Geschäftsleute von Attica haben die Nationalflagge hoch aufgezogen, um die bei dem unnötigen Feuerüberfall getöteten Gefangenenbewacher (nicht die Gefangenen) einmal anders zu ehren und vor allem die schwächliche Anwendung der Staatsgewalt zu tadeln. Der Verfasser wird im weiteren Schreiben seiner Person Mrs. C. noch deutlicher vor Augen halten müssen, in welchem Land sie vorzieht zu leben (und darf nicht vergessen, daß es 1971 [nicht 1968] war, als die Times 15 statt 10 Cents kostete, und an Sonntagen einen halben Dollar).


Der Verfasser hatte sich zu wehren gegen die Versuchung, demnächst in die Zeit von 1968 eine Zeile aus einem Gedicht einzuführen. Er wurde das falsch angeklungene Zitat nicht los, endlich fand er es wieder in der Nacht des 18. Juni 1958, als Mrs. C., damals Gesine Cresspahl, in einem fremden Zimmer auf dem Boden saß und immer von neuem einen Kommunisten aus dem Grammofon singen ließ: Aber als er zur Wand ging –


Um den 15. September herum wurde der Verfasser darauf hingewiesen, daß bis Montag in den jüdischen Geschäften so zu grüßen sei: A Happy New Year! Ein glückliches Neues Jahr.


Den Versuch, ein ganzes Leben zu beschreiben, von den Großeltern an bis über den 35. Geburtstag hinaus, der Verfasser hätte ihn mit vielen anderen seiner Personen unternehmen dürfen. Er hat sich auf diese eine eingelassen auch unter dem Vorbehalt, daß sie an den Verbrechen der Deutschen gegen die Juden noch beteiligt ist, und sei es als Angehörige der Kindgeneration nach der schuldigen, und weil er ihre Ratlosigkeit gegenüber der so genannten »jüdischen Frage« begreift, besser als das Verhalten zu vieler ihrer Altersgenossen im westlichen wie östlichen Staat deutscher Nation. Sie hat durch das Leben im Ausland annehmen müssen, daß die Deutschen noch auf Dekaden hinaus in den Augen der anderen Völker gemessen werden auf ihre Distanz zum versuchten Genozid an den Juden, und der Verfasser hält diese ihre Einsicht für eine, die er unter die Leute zu bringen hat.


Wiedergefunden als Zwischenfall im Leben dieser Person, wahrscheinlich für den Juni 1968 zu schreiben: die Äußerung einer jüdischen Freundin gegen Mrs. C. Die Freundin sagte: Eine jüdische Frage gibt es für Euch nicht mehr. Die habt Ihr für die Deutschen erledigt. Nunmehr ist dies unsere Frage, eine nichts als jüdische! Wir haben dies neu entdeckt bei einer Gelegenheit, bei der der Verfasser die Rechnung übernahm. (Die Verwendung von »wir« an einer Stelle, da die erste Person Einzahl stehen sollte, bedeutet hier lediglich: der Verfasser, in Gemeinschaft mit seinen Personen.) (Die Rechnung ist verloren gegangen.)


Für diese Person G. C. wird es, entgegen solcher Belehrung, weiterhin eine jüdische Frage deutscher Art geben. Es kann ihr geschehen wie dem Verfasser, daß sie eines Abends am Broadway essen geht, in der Gegend der hunderter Straßen, in ein Restaurant aus Hockern um eine Theke, mit wenig Tischen. In den hunderter Straßen geht ein alter Mann abends in sein Restaurant. Es war mal seines. Jetzt ist es von Puertorikanern geführt; er hat sich von der Räumlichkeit nicht trennen können, reinlich und gut beleuchtet wie sie ist. Die Neuen haben von ihm gelernt, daß er abends immer nur Kaffee und Toast bestellt, aber sie antworten nicht richtig. Überhaupt ist es nicht richtig. Er hat seinen Stammplatz! mit dem Rücken zum Straßenfenster. Sie wissen es; sie halten ihm den Platz nicht frei. Allabendlich kommt er um sieben; sie müßten es wissen. (Für mehr als Toast und Kaffee reicht das Geld nicht.) Die anderen, die Iren, hatten ihm helfen wollen, immer so lehrhaft seine Bestellung nachgesprochen, damit er sie besser sagt, nicht mit so dickem deutschen Akzent. Wenn man wenig sagen kann den ganzen Tag über, sieht man am Abend krank aus. Mit sich selber sprechen, damit fängt es an. Manchmal merkt er schon, daß er die Lippen bewegt. Unterhält sich mit Toten. Deutsche dürfen die Toten allerdings nicht sein. – Ssänk ju: sagt er schüchtern. 1941, bei der Zeremonie der Einbürgerung, haben die amerikanischen Beamten ihn davor gewarnt, die deutsche Staatsbürgerschaft abzulegen. Es könne sein, daß er Heimweh bekomme nach dem Ende des Krieges. Heimweh.


Bei solchen Zusammentreffen läßt Mrs. C. den größeren Teil ihres Essens stehen, und mag sie dafür $ 1.85 zu bezahlen haben. 20 Cents neben dem Teller als Trinkgeld.

Die deutschen Emigranten, sie müssen nicht Juden sein, sprechen inmitten liebevoller Gastlichkeit, an entspannten Feierabenden, doch immer wieder von ihrer Flucht aus Deutschland, von den Lagern, vom Einmarsch der Deutschen in ein Gastland nach dem anderen, von neuer Flucht, knapper Rettung. Sie taten es dem Verfasser gegenüber; sie werden es gegenüber Mrs. C. tun.



Die Fluggesellschaft der Deutschen will ihre Transatlantikflüge für die Passagiere verbilligen. Sie beginnt das Inserat: I announce..., und auch in den U.S.A. gilt solche Eröffnung mit der ersten Person singularis als nicht die höflichste. Es genügt den Deutschen nicht. Sie unterzeichnen die Ankündigung mit dem Namen »The Red Baron«. »Der rote Baron« mag durch die Traumerlebnisse eines vielgeliebten Hundes in einer Serie von comic strips bekannt sein durch die ganzen Staaten; es bleibt doch der Spitzname eines deutschen Kampffliegers im Ersten Weltkrieg. Die Deutschen können nicht davon lassen, die anderen Völker immer von neuem an die deutschen Kriege zu erinnern. Das Beispiel ist für das Jahr 1968 nicht zu benutzen; die Sache wohl. (Ein Prospekt kostete nichts.)


Der Verfasser kaufte für 80 Cents eine westdeutsche Zeitung und versuchte sie zu lesen auf einer Ziermauer an der Dritten Avenue. In dieser Gegend hatte Mrs. C. gearbeitet, bis sie New York doch verlassen mußte. Der Nachbar, eher skandinavischen Typs, begann leise, dann aufdringlich das so genannte Deutschlandlied durch die Zähne zu pfeifen. Wiederum die Ausbreitung der Deutschen von der Maas bis an die Memel oder Einigkeit plus Recht plus Freiheit? Dem Verfasser waren die Absichten des Deutschenfreundes gleichgültig; wäre dies einer Mrs. C. im Sommer 1968 passiert, wie hätte sie sich verhalten? Gewartet bis zur Annäherung eines Polizisten, den Mann wegen unsittlicher Belästigung angezeigt, ihn mit einem Meineid ins Gefängnis gebracht?


Der Verfasser, ob mit einer Arbeit nun schreibend oder bloß wartend beschäftigt, sah die meisten seiner persönlichen Erfahrungen doch an daraufhin, ob er sie einer seiner Personen schenken oder anbieten kann; das kann sich ergeben bei Gelegenheiten, die für berufliche Zwecke ausgeschlossen sein sollten. Es war ein Besuch bei Freunden. Allerdings will auch solches finanziert sein; sechs Nelken zu $ 3.50. Es sollte privat sein; der Verfasser wollte Glück wünschen, Fragen nach dem Ergehen andeuten, sich an einer günstigen Lösung zwischen Freunden vergnügen. Die festeren Vorsätze können umschlagen in Wachsamkeit, wenn ein Deutscher auftritt bei solchem nachmittäglichem Fest und die Kinder ärgert. Von den fünf Kindern als Festgästen waren vier zwischen sieben und neun, eins zehn Jahre alt. Der Verfasser verbot sich, mit dieser Zehnjährigen ein Gespräch über seine Marie anzufangen. Die Kinder hatten sich ihr eigenes Fest abseits von den lärmenden Erwachsenen gerichtet, in der kleinen Hoffläche hinter dem Haus, wo sie eine Flasche Limonade auf dem Tisch hielten, ganz wie die Erwachsenen oben mit Champagner taten, und die Zehnjährige als stellvertretende Gastgeberin schenkte ein. Es war ein Spiel; wie die Großen kamen die Kinder an und maulten, daß sie nicht genug zu trinken bekämen, oder sie ahmten andere Albernheit erwachsener Konvention nach, und ernsthaft, geduldig, fürsorglich wurden sie von der Zehnjährigen bedient. (Eine Marie.) Sie waren da ganz unter sich, in ihren besten Kleidern, lernten die Formen eines Festes, freuten sich auf Träume davon. Kam ein Deutscher, erkennbar nicht nur an seinem eigensinnig bewahrten Akzent, auch an seinem »kindgerechten«, zudringlichen Gehabe, seinen erzieherischen Fragen: ob sie denn so viel trinken dürften. Ob sie nicht selber einsähen, sie hätten genug... und unverhofft ist der Verfasser nicht mehr ein Gast, der die Szenen im Hof kaum beachtet hat, sondern, an die Arbeit gerufen, faßt er den Vorsatz, jener einen seiner Personen die Empfindlichkeit gegen gewisse Arten deutschen Verhaltens vollständig zu belassen, ja ihre Abneigung gegen manche deutsche Auffassung von Pädagogik noch deutlicher vorzuführen, ohne daß der Leser über sie lachen sollte, wenn sie auf Fragen nach ihrer Nationalität gelegentlich unbefangen antwortet: sie komme aus Polen, aus Norwegen, aus Luxemburg...

Die Unkindlichkeit des Kindes Marie; der Verfasser bekam von einer anderen Elfjährigen geradezu eine Schulvorführung. Es war die new yorker Bürgerin Anna Marie Gargiulo, sie führt an manchen Tagen Schulkinder umher im Metropolitan Museum of Art. Sie hat sich als Kategorie ausgesucht: »Der Körper in der Kunst«. Anna Marie, dies unkindliche Kind, kann nicht haben, daß ihre Schützlinge bloß zuhören, nicht aber reagieren. – Irgend welche Fragen? sagt sie. Keine Fragen. – Bitte! sagt sie: fragt mich doch was! Nichts. – Ihr müßt doch irgend eine Frage haben! sagt sie, empört. Es hilft nichts. Sie führt ihre Schützlinge (die meisten in ihrem Alter, aber eben doch Fremde und obendrein Jungen) zu der Marmorstatue einer alten Bäuerin, griechisch, zweites Jahrhundert vor der Zeitrechnung. So sprach Anna Marie: Diese Dame hier soll krumm sein. Versucht sie wohl, sich richtig zu halten? Schweigen. Neuer, geduldiger Ansatz von Anna Marie: Ihr Korb ist schwer, deswegen beugt sie sich so vor. Sie ist ganz verflucht müde, und alt ist sie auch, nun kann sie sich nicht ganz aufrichten, und ihr Kleid muß ihr ein wenig zu lang sein, darum hat sie‘s hochgenommen und mit einem Riemen festgebunden. Wo ihr einer Arm abgeblieben ist, das weiß ich nicht. Sagt Anna Marie. Sie will nun wissen, von all diesen fremden Jungen: Mögt ihr sie, oder ist sie euch zuwider? Einer sagt, nach vorsichtigem Bedenken: So in der Mitte. Enttäuscht wendet Anna Marie sich ab, verlangt nach anderen Antworten. Sie bekommt fast immer die selbe, und schließlich sagt sie ziemlich scharf: No more in-betweens! Nicht mehr von halb so und halb so! Sie ist so böse, sie hat zu sagen vergessen: Bitte. Ein mageres Kind, Skinny mag ihr Spitzname sein, mit einem fast schon erwachsenen Gesicht, was die lateinischen Formen angeht, mit selbstbewußt gekämmtem langem Dunkelhaar. Sie trägt Sandalen, das sind nur Sohlen mit glitzernden Fäden am Fuß gehalten, die hat sie sich ausgesucht wie eine Erwachsene. Ist aber ein Kind, ein Kind wie Marie Cresspahl, and thank you very much, Anna Marie. (Für den Eintritt ins Metropolitan Museum werden Gebühren nicht erhoben.) Danke Ihnen, Miss Gargiulo.


Die Unkindlichkeit seines Kindes Marie Cresspahl in New York und den Gegenbeweis, der Verfasser strich diesen Punkt nicht etwa von seiner Liste; nur er suchte danach nicht mehr, ganz nach seinen Erwartungen lief ihm Zehn- und Elfjähriges zu, und zwar für, nicht gegen seine Marie, regelmäßig umsonst, bis auf einen Fall, wo er zweimal 10 Cents abzugeben hatte. Er bekam sie dann in einzelnen Stücken wieder.


Anderes, zum Auftrag gehörig, lief dem Verfasser störrischer nach und konnte nicht vernachlässigt werden: Bei einem Besuch in einem Restaurant, dessen europäisches Dekor, dessen Ausblick auf die nächtlichen Lichtgitter im Süden Manhattans der Verfasser bereits ausbaute für einen Besuch zweier seiner Personen, zu einem letzten gemeinsamen Essen, ohne Ahnung von der Trennung, es kam etwas anderes. Ob denn wirklich nur die Deutschen imstande gewesen seien, den Juden anzutun, was sie den Juden antaten. Der Beweis hieß: Die Treue der Deutschen zum Alphabet. Wer von denen A gesagt hat, und merkt es nicht einmal, sagt dann doch B. Das mörderische Alphabet... Der Verfasser bittet bei solchen Bemerkungen um die Erlaubnis, sie zu verwenden. (Die Rechnung für das Abendessen war ziemlich hoch; jedoch hat er den Betrag darüber vergessen.)


Am jüdischen Festtag Yom Kippur war ein Kino am Broadway mehr besetzt als der Verfasser es je gesehen hatte. Es war eines von jenen Lichtspieltheatern, in denen eine seiner Personen einmal Tagesläufe verbrachte. Gezeigt wurde der Film »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch«. Das Publikum verhielt sich anders als gewohnt: schweigsam, nicht auf Nachbarschaften sondern auf den Film konzentriert. Kaum jemand verließ den Saal, bevor das Licht eingeschaltet wurde. Was wäre mit Tränen zu beweisen; überdies waren da mehr befriedigte Mienen zu sehen, als sei eine andere Ansicht von jener sowjetischen Alternative gar nicht erst erwartet worden. ($ 3.00.)

Gespräche, Abendessen, Leben nach der Arbeit, und doch konnte ein harmloser, lachlustiger Anlaß streng zulaufen auf etwas, von dem der Verfasser nur noch nicht gewußt hatte, daß er es im weiteren Schreiben brauchen würde für die Erinnerungen seiner Personen: von den Utraquisten bis zum Slanskyprozeß der C.S.S.R., bis zur Wiederherstellung der alten Herrschaftsverhältnisse in jenem Lande. (Bewirtungskosten: etwa $ 125.00.)


Berichtigung eines Fehlers, Selbstkritik, etc. Schon auf dem ersten Gang über den Broadway in der Höhe jener Straßen, an denen der Verfasser mit seinen Personen bis zum August 1968 lebte, wischte ihm etwas durch den rechten Augenwinkel, noch gar kein Anblick, eine Ahnung nur. Die Erwartung des Bildes von der 105. Straße hatte einen winzigen Riß bekommen. Da hätte auf der nördlichen Seite ein solider Ziegelbau stehen sollen, mit einer schräg hängenden Fahne davor. Nicht einmal die Fahne war zu sehen. Beim ersten Mal ließ es sich fast noch vergessen; wenige Stunden später war der Verfasser abermals in der 105. Straße. Er genierte sich erheblich. Zweimal hatte er sein Geschriebenes gedruckt gelesen, zweimal hatte er dabei Hilfe gehabt, noch nicht die fünfte Durchsicht hatte zu Tage gebracht, daß das Postamt Cathedral Station, benutzt vom Verfasser wie von seinen Personen, in der 104. Straße steht. Nicht in der 105. Wie denn auch in der 105., wir hätten doch mit unseren Bücherpaketen einen Block weiter gehen müssen! Ungefähr 4 500 Meilen entfernt, in Memmingen im bayerischen Schwaben, lief der Fehler durch die Druckmaschinen, unerreichbar, säuberlich aufbewahrt für das schlechte Gewissen des Verfassers. Er hatte der Erinnerung einmal zu oft getraut. Er versprach der Erinnerung sein Mißtrauen für alle kommenden Male. Das tut ihr nichts, der Katze Erinnerung. Der Verfasser versuchte, etwas zu retten aus dem Postamt Cathedral Station, und sollte es denn eine Trostbeute sein. Es war nicht viel, aber immerhin war zu sehen, daß die Beamten auch in diesem Lande gewohnheitsmäßig auf der Waage schreiben, und vielleicht sind des Verfassers Kunden 1968 doch einmal aufgewacht zu der Frage, ob die Waagenfabriken solche Benutzung ihrer Produkte durch Konstruktion ausgleichen oder ob die Post doch nur eine unterschied liehe Genauigkeit versprechen kann. Und wie vor drei Jahren hängt da der vergilbte, angerissene, durch Klebeversuche verdorbene Zettel: Keine versicherten Pakete nach Cuba, Zypern, Dominikanische Republik, östliches Deutschland, Haiti..., so daß dem Verfasser wenigstens gewärtig wird, wie eine seiner Personen denn doch sich empörte über die amtlich verordnete Nachbarschaft für ein Land, das sie doch einmal aus freien Stücken und im Zorn verlassen hat; er wird diesen Augenblick noch einmal wirklich machen dürfen für 1968, und ein wenig glaubt er sich für sein Versäumnis entschädigt. Da stand am Schalter nicht mehr der Mann von 1968, aber seine Abwesenheit holte ihn mit Anblick und Stimme um so merkbarer hervor und damit die Erinnerung, daß er im Mai 1968 den Präsidenten Eisenhower für einen Kommunisten erklärt haben muß. Eine von des Verfassers Personen brachte Pakete mit einer mecklenburgischen Adresse zur Post, und der Angestellte erkannte darin den Namen der feindlichen Stadt, die er im April 1945 hatte besetzen helfen, bis der Oberkommandierende Eisenhower auf Weisung seiner Regierung das ganze Gebiet aufgab, um damit zu bezahlen für die Westsektoren von Westberlin, die die Kommunisten dann gleichwohl auf ihr eigenes Territorium verlegten, als habe da ein Tausch nie stattgefunden. Der Verfasser erkannte sogleich die Äußerung seiner Mrs. C, die sie im Sommer 1968 noch hatte machen müssen. Jetzt kann der Verfasser noch einmal mit ihr gemeinsam das Postamt Cathedral Station verlassen, und erinnert sich beim Betreten der 104. Straße an die konkrete Art des Argumentierens, auf der diese Person vor drei Jahren noch bestand. Um seinen Fehler auszugleichen, muß er das Postamt jedoch mit eigenen Aufträgen bedacht haben: etwa soll er ein vorjähriges Telefonbuch von Manhattan als Drucksache zu ermäßigter Gebühr nach Westberlin aufgeben, um künftig Fehler wie falsche Straßenangaben zu vermeiden. Das ergibt samt Verpackung als erste Kosten 67 Cents.


Von seiner Rede zum Georg Büchner-Preis wußte der Verfasser immer noch nicht den Satz, den er in der Presse wiederfinden würde, geschweige denn den dritten Satz. Gelegentlich wäre er wohl gern aufgewacht aus einem Traum, in dem ein Expreßbrief aus Straßburg gekommen war, Absender ein Gg. Büchner: Dispens von der Rede erteilt... Die nicht geschriebene Rede im Gedächtnis, hatte der Verfasser nach White River Junction zu fliegen ($ 66.00), um in den noch immer sommergrünen Waldfalten Vermonts nach dem einen Holzhaus zu suchen, in dem einige seiner Personen durch ihn zu Wohnsitz und Tagesläufen gekommen waren, saß nach der Arbeit in einem bäuerlich gehaltenen Garten und hatte auf den Knien nicht etwa sein Exemplar der Werke Georg Büchners, am 14. August 1953 erworben für drei Mark in der Buchhandlung »Unterhaltung und Wissen« zu Rheinsberg in Brandenburg, sondern las in der New York Times vom Tage. Es war zur Zeit des Aufstands in Attica, und erst im zweiten Blatt kamen sowjetische Architekten mit ihren Eindrücken von New York City zu Wort. Unter ihnen Igor A. Pokrovsky, aus Moskau, beschrieb, daß ihm die Häuser in New York zwar hoch, gleichzeitig jedoch die Straßenstücke dazwischen lang erschienen seien, so daß der Maß-Stab den Menschen nicht zum Zwergen mache, sondern ihn versetze in ein Labyrinth, was recht menschlich sei. Während der Verfasser in Gedanken ein wenig widersprach und auch erwog, ob Herrn Pokrovskys Befund einen geringfügigen (»geistigen«) Diebstahl verlohne oder einen Bittbrief nach Moskau erfordere, war der Verfasser unversehens mit einem Plan für eine Rede zum Büchner-Preis versehen, mit diesem.


Hätte er unverzüglich Rat vom vereinigten westdeutschen Feuilleton einholen wollen, oder Gegenrat, es wäre leicht zu Telefongebühren bis zu $ 75.00 gekommen.


Danach stand es dem Verfasser einige Zeit lang frei, vordringlich für seinen ersten Auftrag zu sorgen. Er ging mit einem Netz durch die Stadt und sammelte für seine vier Monate im Jahr 1968, was seine Personen noch brauchen konnten:

Den Broadway. Die Nachbarn; die Szenen, von denen er eine belegt: Eine halbnackte Frau geht etwas taumelig vor sich hin an der 95. Straße, gefährlich dicht am Rinnstein. In der Hand hat sie eine Bierdose in brauner Tüte; vielleicht ist sie betrunken. Sie trägt nur noch eine Sandale; das scheint sie nicht zu wissen und geht, als sei sie gewohnt, zu humpeln. Sie schimpft Undeutliches, schräg nach oben. Auf dem Rücken, wo ihr Kleid weit aufgerissen ist, sehen die Zuschauer (auch Kinder) zwei Striemen, einer davon ist kräftig verfärbt, doch wie von einer Peitsche. Zwei ältere Bürgerinnen, ordentlich zum Ausgehen und Kaffeetrinken gekleidet, bleiben stehen und blicken ihr hinterher. Denen war es recht, wenn jene Sünderin hier und jetzt vom Teufel geholt würde. Es sind aber keine Teufel auf dem Broadway unterwegs; bloß Leute. Der Broadway ist hier geblieben, wie der Verfasser ihn weiter beschreiben muß für das Jahr 1968; die Zukunft ist ihm nicht weggelaufen von seinem Buch.


Die New York Times, noch einmal ein Beispiel für ihre fortgesetzte Macht und Herrlichkeit, in der Weltgeschichte wie zu Hause: Anfangs sollen es nur wenige Jugendliche gewesen sein, die in der Ubahn auf Plakate oder Wände mit Filzstiften schrieben: Joe 182, Carmen 108, Benji 136. Dann befaßte die neugierige alte Tante Times sich mit der Sache und machte sie öffentlich in ihrem sonntäglichen Magazin: Dies sei eine neue Form der Grafitti. Die Kinder wohnen in den Straßen, deren Zahlen sie angeben, und quasi laden sie den Betrachter ein zu Besuchen dort, wo er nach Roy oder Angel oder Teresa fragen soll, wie nach berühmten Personen. Mit der Times/' gütiger Nachhilfe sind die Kinder nun unbefangen genug, für das Aufmalen ihrer Einladungen sehr haltbaren Farbsprühstoff zu benutzen, mit Vorliebe an den äußeren Wänden der Tunnels, wo die Inschriften augenfälliger sind und schwieriger zu beseitigen; der geschickteste dabei scheint Babyface 86, der seinem Namen eine kleine Grafenkrone aufsetzt, und wohnt doch wie alle diese in den oberen Straßen, wo die Wohlhabenheit mit ihnen zusammen nicht bleiben mag. Wie wir nicht wüßten von den Geheimpapieren des Pentagon, ohne die New York Times gäbe es auch diese Signale nicht, und nach wie vor ist dem Verfasser bestätigt, daß eine seiner Personen diese Zeitung seit 1961 als ein Mittel des Lebens in New York halten durfte, und sei es in der Empfindung von einer Tante, eines bescheidwisserischen, eines dienstwilligen, eines freundlichen, eines schußligen, eines unentbehrlichen Wesens, das in Arbeit entgangenes Leben nachliefert, eine Person geradezu, ohne die zu leben nach mehrjähriger Gewöhnung nicht leicht wäre.


Erworbenes im Netz des Verfassers: die Reisen durch die Stadt mit dem Bus, der Ubahn, der Fähre, dem Helikopter, zu vielmals 30 und 5 Cents, einmal zu 2000. Der Anblick des Gebäudes »Sperrholz von Amerika und Papiere von Champion«, dennoch erbaut aus Stahl und Glas und Beton (drei Biere; $ 1.95 plus Trinkgeld). Immer noch werden die Manager in ihren wüsten schwarzen Särgen zum beschwerlichen Dienstessen gefahren. Wie dem Kunden in New York das Geld vorgezählt wird. Die neueren Vorwände der Bettler sind die alten ($ 15.00; geschätzt). Wie eine der Personen zu Mittag ißt bei einem Freund, den sie Sam nennt ($ 2.35). Die vielen Streiks, fast jede Woche neu in einer anderen Gewerkschaft. Besuche in der Buchhandlung einer der Personen, 8. Straße West, da die Zeit für ein Studium der wissenschaftlichen Untersuchungen an Ort und Stelle knapp wird ($ 46.00; $ 32.00; $ 50.00). Kleinere Buchkäufe, die schließlich in New York liegen bleiben, weil der Streik der Stauer auch das Postamt Cathedral Station (104. Straße) zu einem »Embargo« gegen Drucksachen nach Übersee veranlaßt. Die Mißerfolge der Mafia in Chinatown. Das Geschenk eines großen Regens; anders als heftiger Schneefall erzeugt er unter den Bürgern der Stadt nicht Solidarität (fünf Tassen Kaffee zu je 20 Cents). Das Krankenhaus Bellevue. Noch ein Besuch in Mrs. C.s liebstem Restaurant, dem »Heiligen Wenzel«; wiewohl es das nicht gibt, betrug die Rechnung über $ 30.00. Ein Besuch in der Schule jener Marie Cresspahl, und doch eine Umfrage unter den Kindern zum Thema des Lebensgefühls zwischen zehn und elf Jahren. Der fortgesetzte Antikommunismus in den Ubahnreklamen für Radio Freies Europa; Spenden willkommen. Die Polizei, New York‘s Finest, in ihrer Verbitterung über Kommissar Murphys neuesten Feldzug gegen die Korruption: Er hat ja recht, aber was er dem Ruf der force angetan hat, wir vergebn‘s ihm nie! und ein Polizist, an der Imbißtheke stehend, hält einen grünen Schein sehr auffällig vor sich hin zum Zeichen dessen, daß er seine Mahlzeit wirklich und wahrhaftig bezahlen wird in Zeiten wie diesen. Immer wieder ein Versuch zu privatem Leben: mit zwanzig weißen Nelken und einer Flasche Feuerwassers und Geschenken für die Kinder unterwegs zu Freunden. Vor der Hand kann man ihnen guten Gewissens verneinen, ob man sie denn in der Erzählung aus New York abgeschrieben, abgemalt, abgeformt habe; es befriedigt sie nicht vollständig, weil sie nun unrichtig annehmen, unter den Personen des Verfassers lebten keine mit dunkler Haut, schon gar nicht als Freunde. Der Versuch nach Wiederherstellung der gewünschten Situation führt ein noch falscheres Thema an den Tisch: Der Verfasser müsse die Ratten von New York in sein Buch nehmen. Vor fünf Jahren, an den hundertsechziger Straßen, bei einem allerletzten Badeversuch im Hudson, kommt doch so ein Biest auf mich zu, größer als eine vierjährige Katze... unverhofft ist der Freund und Gast doch wieder Verfasser, – Joe! sagt er: schenkst du mir die Geschichte? und Joe verschenkt dies Stück aus seinem Leben, mit Vergnügen, es wird der Nachmittag aber nun mit Geschichten für das Buch hingebracht, es hilft ein Freund dem anderen arbeiten; der Verfasser zieht jeden Falls vor, die Kosten der Mitbringsel als private zu verbuchen.


Tatsächlich waren viele Personen des Verfassers erst jetzt, drei Jahre nach seinem letzten Aufenthalt in New York, zu genaueren Auskünften bereit, ob nun über ihr Vorleben oder über die letzten Wochen im August 1968, als der Verfasser nicht mehr so pünktlich hatte hinsehen können. Er glaubt nicht an das Konzept der Nebenfigur, für ihn ist es erzwungen durch die Bedürfnisse der jeweiligen Geschichte, die Ökonomie eines Buches. Wie alle wichtig war jener Besitzer einer Tabak- und Süßwarenhandlung in der neunziger Straße, der sich nunmehr als Vorstand einer Handelshochschule für seine vielgliedrige Familie zu erkennen gab; spätestens für den August 1968 zu erwähnen. Wichtig geblieben ist jener zukünftige Kriegsverbrecher aus Mecklenburg, New Jersey und Thule, der von einem Tag auf den anderen nicht mehr zu finden war in New York, der gesucht werden mußte überall und in den Catskills (Wagenmiete: $ 16.00 je Tag; Kosten pro Meile: 15 Cents; Gesamtsumme: $ 64.85; davon abzuziehen Auslagen für Benzin: $ 4.25; neue Gesamtsumme: $ 60.60). (Der Gouverneur des Staates New York, der den Überfall auf die Strafanstalt Attica nicht verhindern wollte, hatte die Fahnen an den Auffahrten zur Autobahn auf halbmast setzen lassen.) Dort ließ Jener sich nicht finden, auch in keiner der new yorker Bars, der er »sein« nennt, obwohl in eine von denen kürzlich doch eine weiße Katze eingezogen war (Getränke für mindestens $ 65.00, da die Steigerung von Preisen und Steuern erst recht nicht hier haltgemacht hatte). Unter diesen Umständen waren Nachforschungen in Dublin nötig (Unterbrechung des Fluges kostenlos; Hotelkosten von $ 45.00, umgerechnet). Zu entscheiden war fernerhin, in welchen Ort eine der Personen umziehen würde im August 1968, nachdem sie in New York keinen Fuß mehr auf den Boden bekam (New York – San Francisco – New York: $ 301.95, tatsächlich $ 262.96, wenn der Rückflug binnen dreißig Tagen angetreten wird; oder aber New York – Havanna – New York: $ 206.00). Der Verfasser möchte die Anwesenden mit den Ergebnissen dieser Reisen vorerst nicht befassen. Da kam auch noch, und nicht als Letzter, Herr Fang Liu, der bisher nur als Besitzer einer Wäscherei am Broadway vorgestellt worden ist, und wünschte erträgliche Zusicherungen. Der Verfasser mochte nicht geradezu versprechen, sämtliche Beziehungen innerhalb seiner großen Familie (Kanton / New York / Oakland) auszubreiten, erklärte sich aber bereit, das Leben Herrn Fang Lius in seinem Kellerladen am Broadway um einiges ausführlicher zu zeigen, entweder mit jenem ungeheuren Schäferhund, der dazu aus Manhattans Chinatown an die Obere Westseite umziehen müßte, oder indem er Mr. Fang Liu beim Warten auf die Kunden zeigt, den Kopf mit den graphitgrauen Haaren in eine sanfte Handfläche gestützt, beim Studium einer Tageszeitung mit chinesischen Charakteren und, bitte, ausgemachter Weise, nicht mit einem 1 für ein r in der Aussprache.

Mit einem R. Da der Verfasser auch seiner Person Fang Lui noch oft begegnen wird, ist ihm abermals Sorgfalt angeraten (Wäschereikosten insgesamt: etwa % 21.00).


Eines stand am letzten Tag in New York noch aus. Im Riverside Park, einem der Hauptorte der Erzählung, oft benutzt von ihren Personen, an der 83. Straße und der South Mall, steht in einen Stein gehauen: This is the site for the American Memorial to the heroes of the Warsaw Ghetto Battie, April – May 1943, and the six million Jews of Europe martyred in the cause of Human Liberty. (Dies ist die Stätte des Amerikanischen Mahnmals für die Helden der Schlacht im Warschauer Ghetto vom April und Mai 1943, und für die sechs Millionen Juden Europas, die für die Idee der Freiheit des Menschen zu Märtyrern gemacht wurden.) Der Stein ist sorgfältig mit einem eisernen Gitter umgeben worden; die Errichtung des Denkmals ist bisher ausgeblieben. Der Verfasser hofft, daß der Grund dafür ihm noch geschrieben wird aus New York; die Auskunft mag ausreichen für einen unentbehrlichen Satz, ob er nun lang ausfallen wird oder als ein halber.


Der Verfasser hatte am Nachmittag vor seiner Abreise aus New York eine Stunde frei, in der für seinen ersten Auftrag nichts mehr zu tun war. Er konnte in dieser Stunde nochmals bedenken, ob er eine Rede zum Georg Büchner-Preis nicht schicklicher anlegen solle aus einem Streit zwischen Büchners Robespierre und Danton. Der eine nennt Hochverrat, daß der andere als Unterschied zwischen den Menschen nur erkennen will, ob Einer ein grober oder aber ein feiner Epikureer sei; Christus allerdings sei der feinste gewesen. Es war verlockend, daß Robespierre die Strafandrohung einschränkte mit dem Bemerken: zu gewissen Zeiten. Als der Verfasser versuchte, die gewiß erörternswerte und anderswo sogar ausgeführte Sentenz zu verbinden mit seiner eigenen Sache und Lage, fand er sich nicht mehr in einem Recht, in einer öffentlichen Rede davon zu handeln. Denn der Verfasser hat sich beim Verbrauchen des Geldes vom Georg Büchner-Preis in beiden Situationen befunden, kaum ein Mal in einer eindeutig, zwischen beiden meist. War der Verfasser nicht in einer ungünstigen Lage gewesen? in einer Stadt, die ihm Jahre lang Heimat gewesen war, und mußte fremd tun mit ihr? Er durfte nicht zurück in die Zeit, die er hier mit seinen Personen gemeinsam gehabt hatte, und in jene Lage nur in der Vorstellung. Oft genug reichte ein unachtsam wiedererkannter Anblick oder Laut aus für den leichten Schwindel, der gleitende Rückkehr vortäuschte in eigene Verhältnisse vor drei Jahren in New York, in eine Verfassung, in der eine Stadt von acht Millionen Menschen ihn angesprochen und angehalten hatte zu dringlichem, aufmerksamem, lernendem Leben, in eine Lage, in der er durch das Gastrecht gleichwohl geschützt war gegen unmittelbare Schuld an der Unterdrückung der Arbeitenden wie der Arbeitslosen durch die Bedürfnisse des Großen Kapitals. Und hatte der Verfasser nicht sich in einer günstigen Lage befunden? Das Heimweh nach New York, das ihm wie seinen Personen schon bekannt gewesen war, als ihnen allen die Stadt noch erlaubter Wohnsitz war, ließ sich diese Empfindung nicht mitsamt ihren Anlässen verwandeln in Gegenstände für Arbeit? Der Verfasser konnte von Glück reden. Er durfte aufschreiben, was er wollte, wo er wollte. Seine Fragen wurden verstanden als die, die sie waren, und beantwortet. Was er sehen wollte, es wurde ihm gezeigt. Er befand sich nicht auf der Flucht. Sein Paß war gültig für das Verlassen des Landes. Er durfte seine Briefe offen schreiben, wenn auch nicht in alle Länder. Er mußte bei der Vorbereitung seines Buches nur berücksichtigen, was für das Buch gut war, nicht was eine Herrschaftsinstanz als gut befinden würde. Er durfte die vorgefundene Wirklichkeit verwandeln in die Wirklichkeit seiner Erfindung und Erzählung, ohne Umwege über äsopische Sprache oder amtliche Stellwände zwischen seiner Mitteilung und dem Leser. Gewiß war ihm der eigene Augenblick entfremdet durch den Raster, der objektiv Verwendbares aus dem Subjektiven zog; der Verfasser wünschte es so, nicht zuletzt angesichts der so teuer bezahlten Zeit. Da ging Genuß verloren; nicht aller. Da war Arbeit gewesen; das Meiste.


Bei den angegebenen Kosten ist gelegentlich eine Verkaufssteuer von drei bis sechs Prozent der Beträge hinzuzurechnen.


Die Fluggesellschaft schrieb dem Verfasser einen Gutschein über $ 50.00, da er die Rückreise schon nach fünf Wochen antrat. Dieser Betrag ist für die Anreise zur Gelegenheit des Georg Büchner-Preises von 1971 benutzt worden.


Der Verfasser hat in seine Abrechnung nicht eine separation allowance, eine Trennungszulage aufgenommen, obwohl die Abwesenheit der gewohnten Arbeitsbedingungen seinen Unternehmungen nicht in jedem Fall förderlich gewesen sein mag. Aus dem gleichen Grund hat er über ein Tagegeld nicht Rechenschaft gelegt. Das Finanzamt veranschlagt ihn als einen Unternehmer, nicht als einen Arbeiter.

Was die Arbeit des Verfassers angeht, so hat er versucht, einen Teilbereich davon zu erklären.


Wenn der Verfasser an vergangenen oder künftigen Ansätzen taktischer Politik keinen Teil nahm oder wenig Teil nehmen wird, so geschieht es weder aus Mißbilligung noch aus Furcht, sondern weil er im gegenwärtigen Zeitpunkt jede revolutionäre Bewegung als eine vergebliche Unternehmung betrachtet und nicht die Verblendung derer teilt, welche in den Deutschen ein zum Kampf für sein Recht bereites Volk sehen. Der Verfasser betrachtet als seine Arbeit, vorläufig, das Schreiben.


Meine Damen. Meine Herren. Sie können abfahren, die Wagen halten vor der Tür.


Der Verfasser dankt den Anwesenden dieser Gelegenheit für ihre Geduld. Er dankt jenen, die ihm behilflich waren über die Mittel des Büchnerpreises hinaus; für Gastfreundschaft, für Stipendien. Der Verfasser dankt jenen Mitgliedern der Akademie, die die Verleihung solchen Preises an ihn hinnehmen wollen; er dankt jenen Mitgliedern der Akademie, die öffentlich eine Vergebung des Preises an ihn mißbilligten. Der Verfasser dankt Herrn Reinhard Baumgart für seine Mühe. Er dankt jenen unter den Anwesenden, die mitgerechnet haben, und jenen, die ihm Wege für eine mehr würdige Verwendung des Geldes zu weisen Lust hätten. Der Verfasser wünscht einem Freund und einem Gegner unter seinen Kollegen mehr Glück, wenn das Präsidium der Akademie über den Preisträger des nächsten Jahres berät. Er dankt dem Kultusministerium das Landes Hessen und dem Magistrat der Stadt Darmstadt für ihr Einverständnis, und dem Präsidium der Akademie für Sprache und Dichtung: für ihre Absicht, den Verfasser durch den Namen Georg Büchners zu verpflichten, und dafür, daß sie ihn bei einigen Arbeiten unterstützte.