Georg-Büchner-Preis

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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Satzung

Präambel

Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.

§ 1

Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.

§2

Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.

§3

Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.

Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.

§4

Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.

Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.

Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.

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Paul Celan

Lyriker
Geboren 23.11.1920
Gestorben 20.4.1970

Aus der Tiefe poetischer Eingebungen geholt, findet in seinem Werk das Wort zur Inständigkeit des Dauernden.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Hermann Kasack
Friedrich Bischoff, Kasimir Edschmid, Hanns W. Eppelsheimer Adolf Grimme, Rudolf Hagelstange, Wilhelm Lehmann, Fritz Martini, Rudolf Pechel (Ehrenpräsident), Gerhart Pohl, Rudolf Alexander Schröder (Ehrenpräsident), Fritz Usinger

Dankrede

Die Kunst, das ist, Sie erinnern sich, ein marionettenhaftes, jambisch-fünffüßiges und – diese Eigenschaft ist auch, durch den Hinweis auf Pygmalion und sein Geschöpf, mythologisch belegt – kinderloses Wesen.

In dieser Gestalt bildet sie den Gegenstand einer Unterhaltung, die in einem Zimmer, also nicht in der Conciergerie stattfindet, einer Unterhaltung, die, das spüren wir, endlos fortgesetzt werden könnte, wenn nichts dazwischenkäme. Es kommt etwas dazwischen.

Die Kunst kommt wieder. Sie kommt in einer anderen Dichtung Georg Büchners wieder, im »Woyzeck«, unter anderen, namenlosen Leuten und – wenn ich ein auf »Dantons Tod« gemünztes Wort Moritz Heimanns diesen Weg gehen lassen darf – bei noch »fahlerem Gewitterlicht«. Dieselbe Kunst tritt, auch in dieser ganz anderen Zeit, wieder auf den Plan, von einem Marktschreier präsentiert, nicht mehr, wie während jener Unterhaltung, auf die »glühende«, »brausende« und leuchtende« Schöpfung beziehbar, sondern neben der Kreatur und dem »Nix«, das diese Kreatur »anhat«, – die Kunst erscheint diesmal in Affengestalt, aber es ist dieselbe, an »Rock und Hosen« haben wir sie sogleich wiedererkannt.

Und sie kommt – die Kunst – auch mit einer dritten Dichtung Büchners zu uns, mit »Leonce und Lena«, Zeit und Beleuchtung sind hier nicht wiederzuerkennen, wir sind ja »auf der Flucht ins Paradies«, »alle Uhren und Kalender« sollen bald »zerschlagen« bzw. »verboten« werden, – aber kurz vorher werden noch »zwei Personen beiderlei Geschlechts« vorgeführt, »zwei weltberühmte Automaten sind angekommen«, und ein Mensch, der von sich verkündigt, daß er »vielleicht der dritte und merkwürdigste von den beiden« sei, fordert uns, »mit schnarrendem Ton«, dazu auf, zu bestaunen, was wir vor Augen haben: »Nichts als Kunst und Mechanismus, nichts als Pappendeckel und Uhrfedern!«

Die Kunst erscheint hier mit größerer Begleitung als bisher, aber, das springt in die Augen, sie ist unter ihresgleichen, es ist dieselbe Kunst: die Kunst, die wir schon kennen. – Valerio, das ist nur ein anderer Name für den Ausrufer.

Die Kunst, meine Damen und Herren, ist, mit allem zu ihr Gehörenden und noch Hinzukommenden, auch ein Problem, und zwar, wie man sieht, ein verwandlungsfähiges, zäh- und langlebiges, will sagen ewiges.

Ein Problem, das einem Sterblichen, Camille, und einem nur von seinem Tod her zu Verstehenden, Danton, Worte und Worte aneinanderzureihen erlaubt. Von der Kunst ist gut reden.

Aber es gibt, wenn von der Kunst die Rede ist, auch immer wieder jemand, der zugegen ist und... nicht richtig hinhört.

Genauer: jemand, der hört und lauscht und schaut ... und dann nicht weiß, wovon die Rede war. Der aber den Sprechenden hört, der ihn »sprechen sieht«, der Sprache wahrgenommen hat und Gestalt, und zugleich auch – wer vermöchte hier, im Bereich dieser Dichtung, daran zu zweifeln? –, und zugleich auch Atem, das heißt Richtung und Schicksal.

Das ist, Sie wissen es längst, sie kommt ja, die so oft und kaum von ungefähr so oft Zitierte, mit jedem neuen Jahr zu Ihnen – das ist Lucile.

Das während der Unterhaltung Dazwischengekommene greift rücksichtslos durch, es gelangt mit uns auf den Revolutionsplatz, »die Wagen kommen angefahren und halten«. Die Mitgefahrenen sind da, vollzählig, Danton, Camille, die anderen. Sie alle haben, auch hier, Worte, kunstreiche Worte, sie bringen sie an den Mann, es ist, Büchner braucht hier mitunter nur zu zitieren, vom gemeinsamen In-den-Tod-gehen die Rede, Fabre will sogar »doppelt« sterben können, jeder ist auf der Höhe, – nur ein paar Stimmen, »einige« – namenlose – »Stimmen«, finden, daß das alles »schon einmal dagewesen und langweilig« sei.

Und hier, wo alles zu Ende geht, in den langen Augenblicken, da Camille – nein, nicht er, nicht er selbst, sondern ein Mitgefahrener –, da dieser Camille theatralisch – fast möchte man sagen: jambisch – einen Tod stirbt, den wir erst zwei Szenen später, von einem ihm fremden – einem ihm so nahen – Wort her, als den seinen empfinden können, als rings um Camille Pathos und Sentenz den Triumph von »Puppe« und »Draht« bestätigen, da ist Lucile, die Kunstblinde, dieselbe Lucile, für die Sprache etwas Personhaftes und Wahrnehmbares hat, noch einmal da, mit ihrem plötzlichen »Es lebe der König!«

Nach allen auf der Tribüne (es ist das Blutgerüst) gesprochenen Worten – welch ein Wort!

Es ist das Gegenwort, es ist das Wort, das den »Draht« zerreißt, das Wort, das sich nicht mehr vor den »Eckstehern und Paradegäulen der Geschichte« bückt, es ist ein Akt der Freiheit. Es ist ein Schritt.

Gewiß, es hört sich – und das mag im Hinblick auf das, was ich jetzt, also heute davon zu sagen wage, kein Zufall sein –, es hört sich zunächst wie ein Bekenntnis zum »ancien régime« an.

Aber hier wird – erlauben Sie einem auch mit den Schriften Peter Kropotkins und Gustav Landauers Aufgewachsenen, dies ausdrücklich hervorzuheben –, hier wird keiner Monarchie und keinem zu konservierenden Gestern gehuldigt.

Gehuldigt wird hier der für die Gegenwart des Menschlichen zeugenden Majestät des Absurden.

Das, meine Damen und Herren, hat keinen ein für allemal feststehenden Namen, aber ich glaube, es ist... die Dichtung.

»– ach, die Kunst!« Ich bin, Sie sehen es, an diesem Wort Camilles hängengeblieben.

Man kann, ich bin mir dessen durchaus bewußt, dieses Wort so oder so lesen, man kann verschiedene Akzente setzen: den Akut des Heutigen, den Gravis des Historischen – auch Literarhistorischen –, den Zirkumflex – ein Dehnungszeichen – des Ewigen. Ich setze – mir bleibt keine andere Wahl –, ich setze den Akut.

Die Kunst – »ach, die Kunst«: sie besitzt, neben ihrer Verwandlungsfähigkeit, auch die Gabe der Ubiquität –: sie ist auch im »Lenz« wiederzufinden, auch hier – ich erlaube mir, das zu betonen –, wie in »Dantons Tod«, als Episode.

»Über Tisch war Lenz wieder in guter Stimmung: man sprach von Literatur, er war auf seinem Gebiete...«

»... Das Gefühl, daß, was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen beiden und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen...«

Ich habe hier nur zwei Sätze herausgegriffen, mein in bezug auf den Gravis schlechtes Gewissen verbietet es mir, Sie nicht sogleich darauf aufmerksam zu machen, – diese Stelle hat, vor allem anderen, literarhistorische Relevanz, man muß sie mit der schon zitierten Unterhaltung in »Dantons Tod« zusammenzulesen wissen, hier findet Büchners ästhetische Konzeption ihren Ausdruck, von hier aus gelangt man, das Lenz-Fragment Büchners verlassend, zu Reinhold Lenz, dem Verfasser der »Anmerkungen übers Theater«, und über ihn, den historischen Lenz also, weiter zurück zu dem literarisch so ergiebigen »Elargissez l‘Art« Merciers, diese Stelle eröffnet Ausblicke, hier ist der Naturalismus, hier ist Gerhart Hauptmann vorweggenommen, hier sind auch die sozialen und politischen Wurzeln der Büchnerschen Dichtung zu suchen und zu finden.

Meine Damen und Herren, daß ich das nicht unerwähnt lasse, beruhigt zwar, wenn auch nur vorübergehend, mein Gewissen, es zeigt Ihnen aber zugleich auch, und damit beunruhigt es mein Gewissen aufs neue, – es zeigt Ihnen, daß ich von etwas nicht loskomme, das mir mit der Kunst zusammenzuhängen scheint.

Ich suche es auch hier, im »Lenz«, – ich erlaube mir, Sie darauf hinzuweisen.

Lenz, also Büchner, hat, »ach, die Kunst«, sehr verächtliche Worte für den »Idealismus« und dessen »Holzpuppen«. Er setzt ihnen, und hier folgen die unvergeßlichen Zeilen über das »Leben des Geringsten«, die »Zuckungen«, die »Andeutungen«, das »ganz feine, kaum bemerkte Mienenspiel«, – er setzt ihnen das Natürliche und Kreatürliche entgegen. Und diese Auffassung von der Kunst illustriert er nun anhand eines Erlebnisses:

»Wie ich gestern neben am Tal hinaufging, sah ich auf einem Steine zwei Mädchen sitzen: die eine band ihr Haar auf, die andre half ihr; und das goldne Haar hing herab, und ein ernstes, bleiches Gesicht, und doch so jung, und die schwarze Tracht, und die andre so sorgsam bemüht. Die schönsten, innigsten Bilder der altdeutschen Schule geben kaum eine Ahnung davon. Man möchte manchmal ein Medusenhaupt sein, um so eine Gruppe in Stein verwandeln zu können, und den Leuten zurufen.«

Meine Damen und Herren, beachten Sie, bitte: »Man möchte ein Medusenhaupt« sein, um... das Natürliche als das Natürliche mittels der Kunst zu erfassen!

Man möchte, heißt es hier freilich, nicht: ich möchte.

Das ist ein Hinaustreten aus dem Menschlichen, ein Sich-hinaus-begeben in einen dem Menschlichen zugewandten und unheimlichen Bereich – denselben, in dem die Affengestalt, die Automaten und damit... ach, auch die Kunst zuhause zu sein scheint.

So spricht nicht der historische Lenz, so spricht der Büchnersche, hier haben wir Büchners Stimme gehört: die Kunst bewahrt für ihn auch hier etwas Unheimliches.

Meine Damen und Herren, ich habe den Akut gesetzt; ich will Sie ebensowenig wie mich selbst darüber hinwegtäuschen, daß ich mit dieser Frage nach der Kunst und nach der Dichtung – eine Frage unter anderen Fragen – daß ich mit dieser Frage aus eigenen, wenn auch nicht freien Stücken zu Büchner gegangen sein muß, um die seine aufzusuchen.

Aber Sie sehen es ja: der »schnarrende Ton« Valerios ist, so oft die Kunst in Erscheinung tritt, nicht zu überhören.

Das sind wohl, Büchners Stimme fordert mich zu dieser Vermutung auf, alte und älteste Unheimlichkeiten. Daß ich heute mit solcher Hartnäckigkeit dabei verweile, liegt wohl in der Luft – in der Luft, die wir zu atmen haben.

Gibt es nicht – so muß ich jetzt fragen –, gibt es nicht bei Georg Büchner, bei dem Dichter der Kreatur, eine vielleicht nur halblaute, vielleicht nur halbbewußte, aber darum nicht minder radikale – oder gerade deshalb im eigentlichsten Sinne radikale In-Frage-

Stellung der Kunst, eine In-Frage-Stellung aus dieser Richtung? Eine In-Frage-Stellung, zu der alle heutige Dichtung zurück muß, wenn sie weiterfragen will? Mit anderen, einiges überspringenden Worten: Dürfen wir, wie es jetzt vielerorts geschieht, von der Kunst als von einem Vorgegebenen und unbedingt Vorauszusetzenden ausgehen, sollen wir, um es ganz konkret auszudrücken, vor allem – sagen wir – Mallarmé konsequent zu Ende denken?

Ich habe vorgegriffen, hinausgegriffen – nicht weit genug, ich weiß –, ich kehre zu Büchners »Lenz« zurück, zu dem – episodischen – Gespräch also, das »über Tisch« geführt wurde und bei dem Lenz »in guter Stimmung war«.

Lenz hat lange gesprochen, »bald lächelnd, bald ernst«. Und jetzt, nachdem das Gespräch zu Ende ist, heißt es von ihm, also von dem mit Fragen der Kunst Beschäftigten, aber zugleich auch von dem Künstler Lenz: »Er hatte sich ganz vergessen.«

Ich denke an Lucile, indem ich das lese; ich lese: Er, er selbst.

Wer Kunst vor Augen und im Sinn hat, der ist – ich bin hier bei der Lenz-Erzählung –, der ist selbstvergessen. Kunst schafft Ich-Ferne. Kunst fordert hier in einer bestimmten Richtung eine bestimmte Distanz, einen bestimmten Weg.

Und Dichtung? Dichtung, die doch den Weg der Kunst zu gehen hat? Dann wäre hier ja wirklich der Weg zu Medusenhaupt und Automat gegeben!

Ich suche jetzt keinen Ausweg, ich frage nur, in derselben Richtung, und, so glaube ich, auch in der mit dem Lenz-Fragment gegebenen Richtung weiter.

Vielleicht – ich frage nur –, vielleicht geht die Dichtung, wie die Kunst, mit einem selbstvergessenen Ich zu jenem Unheimlichen und Fremden, und setzt sich – doch wo? doch an welchem Ort? doch womit? doch als was? – wieder frei?

Dann wäre die Kunst der von der Dichtung zurückzulegende Weg – nicht weniger, nicht mehr.

Ich weiß, es gibt andere, kürzere Wege. Aber auch die Dichtung eilt uns ja manchmal voraus. La poésie, elle aussi, brûle nos étapes.

Ich verlasse den Selbstvergessenen, den mit Kunst Beschäftigten, den Künstler. Ich habe bei Lucile der Dichtung zu begegnen geglaubt, und Lucile nimmt Sprache als Gestalt und Richtung und Atem wahr –: ich suche, auch hier, in dieser Dichtung Büchners, dasselbe, ich suche Lenz selbst, ich suche ihn – als Person, ich suche seine Gestalt: um des Ortes der Dichtung, um der Freisetzung, um des Schritts willen.

Der Büchnersche Lenz, meine Damen und Herren, ist ein Fragment geblieben. Sollen wir, um zu erfahren, welche Richtung dieses Dasein hatte, den historischen Lenz aufsuchen?

»Sein Dasein war ihm eine notwendige Last. – So lebte er hin...« Hier bricht die Erzählung ab.

Aber Dichtung versucht ja, wie Lucile, die Gestalt in ihrer Richtung zu sehen, Dichtung eilt voraus. Wir wissen, wohin er lebt, wie er hinlebt.

»Der Tod«, so liest man in einem 1909 in Leipzig erschienenen Werk über Jakob Michael Reinhold Lenz – es stammt aus der Feder eines Moskauer Privatdozenten namens M. N. Rosanow –, »der Tod als Erlöser ließ nicht lange auf sich warten. In der Nacht vom 23. auf den 24. Mai 1792 wurde Lenz entseelt in einer der Straßen Moskaus aufgefunden. Er wurde auf Kosten eines Adligen begraben. Seine letzte Ruhestätte ist unbekannt geblieben.«

So hatte er hingelebt.

Er: der wahre, der Büchnersche Lenz, die Büchnersche Gestalt, die Person, die wir auf der ersten Seite der Erzählung wahrnehmen konnten, der Lenz, der »den 20. Jänner durchs Gebirg ging«, er – nicht der Künstler und mit Fragen der Kunst Beschäftigte, er als ein Ich.

Finden wir jetzt vielleicht den Ort, wo das Fremde war, den Ort, wo die Person sich freizusetzen vermochte, als ein – befremdetes – Ich? Finden wir einen solchen Ort, einen solchen Schritt?

»... nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte.« – Das ist er, Lenz. Das ist, glaube ich, er und sein Schritt, er und sein »Es lebe der König«.

»... nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte.«

Wer auf dem Kopf geht, meine Damen und Herren, – wer auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich.

Meine Damen und Herren, es ist heute gang und gäbe, der Dichtung ihre »Dunkelheit« vorzuwerfen. – Erlauben Sie mir, an dieser Stelle unvermittelt – aber hat sich hier nicht jäh etwas aufgetan? –, erlauben Sie mir, hier ein Wort von Pascal zu zitieren, ein Wort, das ich vor einiger Zeit bei Leo Schestow gelesen habe: »Ne nous reprochez pas le manque de clarté car nous en faisons profession!« – Das ist, glaube ich, wenn nicht die congénitale, so doch wohl die der Dichtung um einer Begegnung willen aus einer – vielleicht selbstentworfenen – Ferne oder Fremde zugeordnete Dunkelheit.

Aber es gibt vielleicht, und in einer und derselben Richtung, zweierlei Fremde – dicht beieinander.

Lenz – das heißt Büchner – ist hier einen Schritt weiter gegangen als Lucile. Sein »Es lebe der König« ist kein Wort mehr, es ist ein furchtbares Verstummen, es verschlägt ihm – und auch uns – den Atem und das Wort.

Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten. Wer weiß, vielleicht legt die Dichtung den Weg – auch den Weg der Kunst – um einer solchen Atemwende willen zurück? Vielleicht gelingt es ihr, da das Fremde, also der Abgrund und das Medusenhaupt, der Abgrund und die Automaten, ja in einer Richtung zu liegen scheint, – vielleicht gelingt es ihr hier, zwischen Fremd und Fremd zu unterscheiden, vielleicht schrumpft gerade hier das Medusenhaupt, vielleicht versagen gerade hier die Automaten – für diesen einmaligen kurzen Augenblick? Vielleicht wird hier, mit dem Ich – mit dem hier und solcherart freigesetzten befremdeten Ich, – vielleicht wird hier noch ein anderes frei?

Vielleicht ist das Gedicht von da her es selbst... und kann nun, auf diese kunst-lose, kunstfreie Weise, seine anderen Wege, also auch die Wege der Kunst gehen – wieder und wieder gehen?

Vielleicht.

Vielleicht darf man sagen, daß jedem Gedicht sein »20. Jänner« eingeschrieben bleibt? Vielleicht ist das Neue an den Gedichten, die heute geschrieben werden, gerade dies: daß hier am deutlichsten versucht wird, solcher Daten eingedenk zu bleiben?

Aber schreiben wir uns nicht alle von solchen Daten her? Und welchen Daten schreiben wir uns zu?

Aber das Gedicht spricht ja! Es bleibt seiner Daten eingedenk, aber – es spricht. Gewiß, es spricht immer nur in seiner eigenen, allereigensten Sache.

Aber ich denke – und dieser Gedanke kann Sie jetzt kaum überraschen –, ich denke, daß es von jeher zu den Hoffnungen des Gedichts gehört, gerade auf diese Weise auch in fremder – nein, dieses Wort kann ich jetzt nicht mehr gebrauchen –, gerade auf diese Weise in eines Anderen Sache zu sprechen – wer weiß, vielleicht in eines ganz Anderen Sache.

Dieses »wer weiß«, zu dem ich mich jetzt gelangen sehe, ist das einzige, was ich den alten Hoffnungen von mir aus auch heute und hier hinzuzufügen vermag.

Vielleicht, so muß ich mir jetzt sagen, – vielleicht ist sogar ein Zusammentreffen dieses »ganz Anderen« – ich gebrauche hier ein bekanntes Hilfswort – mit einem nicht allzu fernen, einem ganz nahen »anderen« denkbar – immer und wieder denkbar.

Das Gedicht verweilt oder verhofft – ein auf die Kreatur zu beziehendes Wort – bei solchen Gedanken.

Niemand kann sagen, wie lange die Atempause – das Verhoffen und der Gedanke – noch fortwährt. Das »Geschwinde«, das schon immer »draußen« war, hat an Geschwindigkeit gewonnen; das Gedicht weiß das; aber es hält unentwegt auf jenes »Andere« zu, das es sich als erreichbar, als freizusetzen, als vakant vielleicht, und dabei ihm, dem Gedicht – sagen wir: wie Lucile – zugewandt denkt.

Gewiß, das Gedicht – das Gedicht heute – zeigt, und das hat, glaube ich, denn doch nur mittelbar mit den – nicht zu unterschätzenden – Schwierigkeiten der Wortwahl, dem rapideren Gefälle der Syntax oder dem wacheren Sinn für die Ellipse zu tun, – das Gedicht zeigt, das ist unverkennbar, eine starke Neigung zum Verstummen.

Es behauptet sich – erlauben Sie mir, nach so vielen extremen Formulierungen, nun auch diese –, das Gedicht behauptet sich am Rande seiner selbst; es ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück.

Dieses Immer-noch kann doch wohl nur ein Sprechen sein. Also nicht Sprache schlechthin, und vermutlich auch nicht erst vom Wort her »Entsprechung«.

Sondern aktualisierte Sprache, freigesetzt unter dem Zeichen einer zwar radikalen, aber gleichzeitig auch der ihr von der Sprache gezogenen Grenzen, der ihr von der Sprache erschlossenen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation.

Dieses Immer-noch des Gedichts kann ja wohl nur in dem Gedicht dessen zu finden sein, der nicht vergißt, daß er unter dem Neigungswinkel seines Daseins, dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit spricht.

Dann wäre das Gedicht – deutlicher noch als bisher – gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen, – und seinem innersten Wesen nach Gegenwart und Präsenz.

Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs. Wer es schreibt, bleibt ihm mitgegeben.

Aber steht das Gedicht nicht gerade dadurch, also schon hier, in der Begegnung – im Geheimnis der Begegnung?

Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.

Jedes Ding, jeder Mensch ist dem Gedicht, das auf das Andere zuhält, eine Gestalt dieses Anderen.

Die Aufmerksamkeit, die das Gedicht allem ihm Begegnenden zu widmen versucht, sein schärferer Sinn für das Detail, für Umriß, für Struktur, für Farbe, aber auch für die »Zuckungen« und die »Andeutungen«, das alles ist, glaube ich, keine Errungenschaft des mit den täglich perfekteren Apparaten wetteifernden (oder miteifernden) Auges, es ist vielmehr eine aller unserer Daten eingedenk bleibende Konzentration.

»Aufmerksamkeit« – erlauben Sie mir hier, nach dem Kafka-Essay Walter Benjamins, ein Wort von Malebranche zu zitieren –, »Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele«.

Das Gedicht wird – unter welchen Bedingungen! – zum Gedicht eines – immer noch – Wahrnehmenden, dem Erscheinenden Zugewandten, dieses Erscheinende Befragenden und Ansprechenden; es wird Gespräch – oft ist es verzweifeltes Gespräch.

Erst im Raum dieses Gesprächs konstituiert sich das Angesprochene, versammelt es sich um das es ansprechende und nennende Ich. Aber in diese Gegenwart bringt das Angesprochene und durch Nennung gleichsam zum Du Gewordene auch sein Anderssein mit. Noch im Hier und Jetzt des Gedichts – das Gedicht selbst hat ja immer nur diese eine, einmalige, punktuelle Gegenwart –, noch in dieser Unmittelbarkeit und Nähe läßt es das ihm, dem Anderen, Eigenste mitsprechen: dessen Zeit.

Wir sind, wenn wir so mit den Dingen sprechen, immer auch bei der Frage nach ihrem Woher und Wohin: bei einer »offenbleibenden«, »zu keinem Ende kommenden«, ins Offene und Leere und Freie weisenden Frage – wir sind weit draußen.

Das Gedicht sucht, glaube ich, auch diesen Ort.

Das Gedicht?

Das Gedicht mit seinen Bildern und Tropen?

Meine Damen und Herren, wovon spreche ich denn eigentlich, wenn ich aus dieser Richtung, in dieser Richtung, mit diesen Worten vom Gedicht – nein, von dem Gedicht spreche?

Ich spreche ja von dem Gedicht, das es nicht gibt!

Das absolute Gedicht – nein, das gibt es gewiß nicht, das kann es nicht geben!

Aber es gibt wohl, mit jedem wirklichen Gedicht, es gibt, mit dem anspruchslosesten Gedicht, diese unabweisbare Frage, diesen unerhörten Anspruch.

Und was wären dann die Bilder?

Das einmal, das immer wieder einmal und nur jetzt und nur hier Wahrgenommene und Wahrzunehmende. Und das Gedicht wäre somit der Ort, wo alle Tropen und Metaphern ad absurdum geführt werden wollen.

Toposforschung?

Gewiß! Aber im Lichte des zu Erforschenden: im Lichte der U-topie.

Und der Mensch? Und die Kreatur?

In diesem Licht.

Welche Fragen! Welche Forderungen!

Es ist Zeit, umzukehren.

Meine Damen und Herren, ich bin am Ende – ich bin wieder am Anfang.

Elargissez l‘Art! Diese Frage tritt, mit ihrer alten, mit ihrer neuen Unheimlichkeit, an uns heran. Ich bin mit ihr zu Büchner gegangen – ich habe sie dort wiederzufinden geglaubt.

Ich hatte auch eine Antwort bereit, ein »Lucilesches« Gegenwort, ich wollte etwas entgegensetzen, mit meinem Widerspruch dasein: Die Kunst erweitern?

Nein. Sondern geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei.

Ich bin, auch hier, in Ihrer Gegenwart, diesen Weg gegangen. Es war ein Kreis.

Die Kunst, also auch das Medusenhaupt, der Mechanismus, die Automaten, das unheimliche und so schwer zu unterscheidende, letzten Endes vielleicht doch nur eine Fremde – die Kunst lebt fort.

Zweimal, bei Luciles »Es lebe der König« und als sich unter Lenz der Himmel als Abgrund auftat, schien die Atemwende da zu sein. Vielleicht auch, als ich auf jenes Ferne und Besetzbare zuzuhalten versuchte, das schließlich ja doch nur in der Gestalt Luciles sichtbar wurde. Und einmal waren wir auch, von der den Dingen und der Kreatur gewidmeten Aufmerksamkeit her, in die Nähe eines Offenen und Freien gelangt. Und zuletzt in die Nähe der Utopie.

Die Dichtung, meine Damen und Herren –: diese Unendlichsprechung von lauter Sterblichkeit und Umsonst!

Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, da ich ja wieder am Anfang bin, noch einmal, in aller Kürze, und aus einer anderen Richtung nach dem Selben zu fragen.

Meine Damen und Herren, ich habe vor einigen Jahren einen kleinen Vierzeiler geschrieben – diesen:

»Stimmen vom Nesselweg her: / Komm auf den Händen zu uns. / Wer mit der Lampe allein ist, / hat nur die Hand, draus zu lesen.«

Und vor einem Jahr, in Erinnerung an eine versäumte Begegnung im Engadin, brachte ich eine kleine Geschichte zu Papier, in der ich einen Menschen »wie Lenz« durchs Gebirg gehen ließ.

Ich hatte mich, das eine wie das andere Mal, von einem »20. Jänner«, von meinem »20. Jänner«, hergeschrieben.

Ich bin... mir selbst begegnet.

Geht man also, wenn man an Gedichte denkt, geht man mit Gedichten solche Wege? Sind diese Wege nur Um-Wege, Umwege von dir zu dir? Aber es sind ja zugleich auch, unter wie vielen anderen Wegen, Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird, es sind Begegnungen, Wege einer Stimme zu einem wahrnehmenden Du, kreatürliche Wege, Daseinsentwürfe vielleicht, ein Sich-vorausschicken zu sich selbst, auf der Suche nach sich selbst... Eine Art Heimkehr.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß – ich komme, mit dem Akut, den ich zu setzen hatte, zum Schluß von... »Leonce und Lena«.

Und hier, bei den letzten zwei Worten dieser Dichtung, muß ich mich in acht nehmen.

Ich muß mich hüten, wie Karl Emil Franzos, der Herausgeber jener »Ersten Kritischen Gesammt-Ausgabe von Georg Büchner‘s Sämmtlichen Werken und handschriftlichem Nachlaß«, die vor einundachtzig Jahren bei Sauerländer in Frankfurt am Main erschienen ist – ich muß mich hüten, wie mein hier wiedergefundener Landsmann Karl Emil Franzos, das »Commode«, das nun gebraucht wird, als ein »Kommendes« zu lesen!

Und doch: Gibt es nicht gerade in »Leonce und Lena« diese den Worten unsichtbar zugelächelten Anführungszeichen, die vielleicht nicht als Gänsefüßchen, die vielmehr als Hasenöhrchen, das heißt also als etwas nicht ganz furchtlos über sich und die Worte Hinauslauschendes verstanden sein wollen?

Von hier aus, also vom »Commoden« her, aber auch im Lichte der

Utopie, unternehme ich – jetzt – Toposforschung:

Ich suche die Gegend, aus der Reinhold Lenz und Karl Emil Franzos, die mir auf dem Weg hierher und bei Georg Büchner Begegneten, kommen. Ich suche auch, denn ich bin ja wieder da, wo ich begonnen habe, den Ort meiner eigenen Herkunft.

Ich suche das alles mit wohl sehr ungenauem, weil unruhigem Finger auf der Landkarte – auf einer Kinder-Landkarte, wie ich gleich gestehen muß.

Keiner dieser Orte ist zu finden, es gibt sie nicht, aber ich weiß, wo es sie, zumal jetzt, geben müßte, und... ich finde etwas!

Meine Damen und Herren, ich finde etwas, das mich auch ein wenig darüber hinwegtröstet, in Ihrer Gegenwart diesen unmöglichen Weg, diesen Weg des Unmöglichen gegangen zu sein. Ich finde das Verbindende und wie das Gedicht zur Begegnung Führende.

Ich finde etwas – wie die Sprache – Immaterielles, aber Irdisches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrendes und dabei – heitererweise – sogar die Tropen Durchkreuzendes –: ich finde... einen Meridian.

Mit Ihnen und Georg Büchner und dem Lande Hessen habe ich ihn soeben wieder zu berühren geglaubt.

Meine Damen und Herren, mir ist heute eine sehr hohe Ehre zuteil geworden. Ich werde mich daran erinnern dürfen, daß ich neben Menschen, deren Person und deren Werk mir Begegnung bedeuten, Träger eines Preises bin, der Georg Büchners gedenkt.

Herzlich danke ich für diese Auszeichnung, herzlich danke ich für diesen Augenblick und für diese Begegnung.

Ich danke dem Lande Hessen. Ich danke der Stadt Darmstadt. Ich danke der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Ich danke dem Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, ich danke Ihnen, lieber Hermann Kasack.

Liebe Marie Luise Kaschnitz, ich danke Ihnen.

Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Anwesenheit.