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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
Satzung
Präambel
Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.
§ 1
Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.
§2
Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.
§3
Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.
Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.
§4
Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.
Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.
Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.
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Georg-Büchner-Preis 2024 an Oswald Egger
Mit Oswald Egger zeichnet die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung einen Schriftsteller aus, der seit seiner ersten Veröffentlichung im Jahre 1993 die Grenzen der Literaturproduktion überschreitet und erweitert. Er arbeitet an einem Werkkontinuum, das Sprache als Bewegung, als Klang, als Textur, als Bild, als Performance begreift...
Der Preis wird am 2. November 2024 im Staatstheater Darmstadt verliehen. Die Veranstaltung ist öffentlich. Eintrittskarten können über das Staatstheater Darmstadt erworben werden. Der Vorverkauf beginnt circa 3 Wochen vorher. Wir informieren Sie gern über unseren Newsletter.
Die Jury wird gebildet aus dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und je einem Vertreter, einer Vertreterin des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme.
Aktuelle Besetzung des Erweiterten Präsidiums: Ingo Schulze, Rita Franceschini, Olga Martynova, Lothar Müller, Lukas Bärfuss, Maja Haderlap, Felicitas Hoppe, Joachim Kalka, Daniela Strigl, Michael Walter.
Schriftsteller
Geboren 31.7.1951
Mitglied seit 2003
... dem Erzähler von weltweitem Horizont, der die klassischen und die modernen Traditionen des Romans zu einer kraftvollen neuen Synthese geführt hat, und dem Essayisten von universaler Bildung.
Jurymitglieder
Juryvorsitz: Klaus Reichert
Friedrich Christian Delius, Peter Hamm, Harald Hartung, Joachim Kalka, Peter von Matt, Uwe Pörksen, Ilma Rakusa, Gustav Seibt, Werner Spies, außerdem Peter Benz (Stadt Darmstadt), Albert Zetzsche (Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst)
Laudatio von Navid Kermani
Schriftsteller und Orientalist, geboren 1967
Die Möglichkeit des Romans
Mit Martin Mosebach zeichnet die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung einen Schriftsteller aus, den nur wenig zu verbinden scheint mit der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte. Welcher Richtung, Gruppe, Schule würde man ihn zuordnen können, wer wären die Kollegen, mit deren Werk das Seine korrespondiert? Heimito von Doderer fällt einem als Vorbild ein, zumal Mosebach sich immer wieder auf ihn bezieht – aber Doderer war selbst ein literarischer Exzentriker, den zu bewundern für sich schon einen Ausweis darstellt fürs Unzeitgemäße. Nicht einmal einer bestimmten Generation würde man Mosebach zuschlagen können, stünde nicht das Geburtsjahr auf den Umschlägen seiner Bücher. Bereits in seinem Erstling tritt er mit der stilistischen Sicherheit eines alten Meisters auf, und seither verjüngt sich die Sprache eher, weiten sich die Motive aus, wendet Mosebach sich der Welt auch außerhalb des deutschen Bürgertums zu, dessen Krankschrumpfung zu seinen Lebensthemen gehört.
Die längste Zeit unbemerkt von allem, was als breitere Öffentlichkeit gelten könnte, haben sich seine Bücher innerhalb eines Vierteljahrhunderts zu einem wahren Werk gefügt, einem Regalfach aus Erzählungen, Reiseberichten, Essays, Dramen, Gedichten und vor allem den acht Romanen, die gewichtig nicht nur ihrem literarischen Wert nach sind. Martin Mosebach schreibt dicke Bücher, fünfhundert Seiten, sechshundert Seiten, achthundert Seiten, und so wenig Zahlen gewöhnlich aussagen, so geben sie hier doch einen ersten Hinweis, was ihn unterscheidet von der Literatur seiner Zeit und wo die Literatur zu suchen wäre, an die er anknüpft. Martin Mosebach schreibt Romane!
Ein Romanschreiber, was ist das schon?, wird man einwenden. Die Verlagskataloge sind voller Romane. Sobald ein Text hundert Seiten lang ist – und mögen sie noch so groß bedruckt sein, Hauptsache hundert Seiten, meinetwegen neunzig, aber bitte kein Erzählband, bitte bitte keine Lyrik und schon gar keine Anthologie, man muß es durchlesen können, so wie man durchregiert oder Durchfall hat –, erhält er das Etikett Roman. Daß die meisten Romane gar keine sind, daß sie außer in der Länge keinem der Kriterien entsprechen, die klassischerweise den Roman kennzeichnen, also nicht auf einen breiten Weltentwurf angelegt sind und eine geschichtliche Erfahrung in ihrer gesellschaftlichen Gesamtheit aufnehmen, die Vielschichtigkeit der Motive und Personen, die Heterogenität der Ausdrucksweisen und Sprachebenen – egal.
Gewiß entstehen auch in Deutschland weiterhin viele, manchmal großartige Romane, für die Verleger und Vertreter zurecht die Gattung reklamieren. Doch stehen sie – jedenfalls der Tendenz nach – in einer spezifischen, neueren Romantradition, nämlich der des protestantisch geprägten Bildungsromans, der sich bekanntlich im achtzehnten Jahrhundert gegen die Gesellschaftsromane aus Frankreich und England herausgebildet hat. Die Welt nicht mehr als solche, sondern die Welt aus dem Blickwinkel einer spezifischen Person, oft einer Künstlerfigur oder eines Narren, meist in Ich-Form erzählt oder von einem namentlich eingeführten Erzähler – darin ist schon das gebrochene, subjektivierte Verhältnis zur Wirklichkeit ausgedrückt, das in Folge von Reformation und Aufklärung die menschliche Erfahrung kennzeichnet. Bedeutende katholische Autoren treten erst an der Wende zum 19. Jahrhundert auf und bleiben bis zu dessen Ende die Ausnahme. Nur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die deutsche Literatur die Bindung an das Protestantische vorübergehend verloren, wurde sie zu bedeutenden, vielleicht sogar zu den bedeutenderen Teilen verfaßt in den katholischen oder jüdischen Sphären der multikulturellen Habsburger Monarchie. Die Nachkriegsliteratur hingegen – gleich welcher Konfession ihre bekanntesten Vertreter selbst entstammen – sieht das Leben wieder aus der Frosch- statt aus der Vogelperspektive, reduziert die Welt zugleich auf ihr Sosein, ist anti-metaphysisch und dafür gesellschaftskritisch bis hin zum Pädagogischen – und damit im Kern, bei aller ausgestellten Säkularität, urdeutsch und protestantisch.
Natürlich, ich skizziere hier mit wenigen Strichen bloße Tendenzen der zeitgenössischen Literatur, und Martin Mosebach ist nicht der einzige deutsche Schriftsteller von Rang, auf den sie nicht zutreffen – aber es gibt unter den Lebenden wohl keinen, dessen Werk der allgemeinen Entwicklung so vehement widerspricht. Mosebach glaubt an den Roman – den Roman im eigentlichen, französischen oder russischen Sinne, den Roman als die Anmaßung, ein Abbild der Wirklichkeit zu schaffen, der gesamten Wirklichkeit, einer Gesellschaft, einer Epoche, eines Zustands, wie sie sich in einer Stadt, einem Viertel, einem Milieu oder einem Jahr verdichten. Deshalb brauchen Romane den zeitlichen oder örtlichen Abstand und gelingen auffallend häufig im Exil. Deshalb schreibt Mosebach viele seiner Bücher im Ausland. Von außen ist es eher möglich, das Ganze in den Blick zu bekommen, die menschliche Komödie, mit dem Erhabenen und dem Niedrigen, dem König und dem Narren, dem Liebenden und dem Zürnenden.
Halten wir uns seine Romane vor Augen, Das Bett, Die lange Nacht, Das Beben und all die anderen. Vergegenwärtigen wir uns die immergleichen Verlaufsgeschichten aus einmaligem Wagnis und dauerhaftem Scheitern, betrachten wir das Personal, das bis in die Nebenfiguren so ausdruckstark gezeichnet ist wie in Tschechowschen Dramen, erinnern wir uns vor allem der immer leicht tollpatschigen Helden auf ihrem Stolpermarsch durch die Fremde, die ihnen die Welt ist, bedenken wir die reichlich verwendeten Stilmittel des Sarkasmus, der Groteske, überhaupt des Humors, diesen leicht ironischen, nein selbst-ironischen Ton – woher wirken diese Charakteristika, bei aller Eigenart, bei aller Absonderung von der Gegenwartsliteratur, woher wirken sie dann doch vertraut, aus welcher Genealogie leiten sie sich her? Wir müssen weiter zurückgehen als bis zu Heimito von Doderer, noch weit vor Marcel Proust, weiter als Stendal oder Honoré de Balzac, dem realistischen Roman des 19. Jahrhunderts, mit dem Mosebach oft assoziiert wird, noch vor Eichendorf oder Moritz, wir müssen zurückgehen an den Anfang des modernen Romans, um den Ursprung des Mosebacschen Tons zu finden. Wir müssen zurückgehen bis zum Scharfsinnigen edlen Herrn Don Quijote de la Mancha des Miquel de Cervantes Saavedra.
So wie Cervantes mit seinem Don Quijote verwirft Mosebach in seinen Romanen einen überholten, von festgefügten Formen, Werten und Ritualen bestimmten Entwurf des Lebens und Schreibens, gerade indem er ihm bis aufs Äußerste verpflichtet zu sein scheint. Jeder seiner Sätze ist wohlgeformt, die Grammatik stets korrekt, der Rhythmus von gleichmäßiger Beschwingtheit, die Erzählung streng chronologisch und jedenfalls auf den ersten Eindruck auktorial so ungebrochen, als hätte es nie Joyce, nie Adorno gegeben. Entsprechendes gilt für die gesellschaftlichen Verhältnisse: In Mosebachs Romanen wird noch um 12 Uhr zu Mittag gegessen, und es gibt Kunstverstand, Traditionsbankhäuser und Liebespaare, die – Achtung, halten Sie sich fest –, erst nach der Hochzeit eine gemeinsame Wohnung nehmen. Kein Sex vor der Ehe! In der bundesdeutschen Wirklichkeit des neuen Jahrtausends, in der Christdemokraten auf Fragebögen die gleichgeschlechtliche Ehe zu den unveräußerlichen, von Neubürgern gefälligst zu heiligenden Errungenschaften der Aufklärung ausrufen, wirkt schon die Andeutung einer jungfräulichen Ehe so antiquiert wie die Ideale der Ritterlichkeit zu Lebzeiten Cervantes’.
Allein, Mosebach ist ein viel zu aufmerksamer Zeitgenosse, um zu übersehen, daß seine Protagonisten eher gestrig als zukunftsträchtig sind. Gerade darum interessiert er sich für sie. Und er ist ein viel zu reflektierter Autor, um die Krise des realistischen Erzählens im zwanzigsten Jahrhundert zu ignorieren, die zugleich die massenhafte Vervielfältigung des Realismus durch den Film ist. So absurd es wäre, Cervantes zum letzten Vertreter des mittelalterlichen Ritterromans zu erklären, so abwegig ist es, Mosebach für einen Reaktionär zu halten, der mit dem Roman des 19. Jahrhunderts auch dessen bürgerliche Welt zu restaurieren suche, gibt er doch das Gewand, in dem seine Werke daherkommen, ebenso der Lächerlichkeit preis wie den Lebensstil, den sie zu feiern scheinen.
Ähnlich wie Cervantes den Don Quijote platziert Mosebach seine Romane in einer sozialen Wirklichkeit, die bis hin zu den Straßennamen, den Tankstellen und den Bezügen zu realen Personen und tagespolitischen Ereignissen identifizierbar ist – freilich nur um der prosaischen Welt eine imaginierte Welt entgegenstellen zu können, in welcher selbst die Nebenfiguren Charakterköpfe sind, noch in ihrer panischen Furcht mannhafter, in ihrer Oberflächlichkeit tiefgründiger, in ihrer Dummheit differenzierter als wir wirklichen Menschen. Gerade um sie poetisch aufzuladen, muß die Welt, in der Mosebachs Romane spielen, von größtmöglicher Gewöhnlichkeit sein. Was Cervantes die Mancha ist, jene unspektakuläre, steinige Gegend seiner Herkunft, ist Mosebach das Nachkriegsfrankfurt mit seinen zehnspurigen Verkehrsschneisen und grauenvollen Vorstädten, den vierstöckigen Bausünden des Wiederaufbaus neben dem vierzigstöckigen Größenwahn der Jetztzeit, mitten drin der Witz einer neugebauten Altstadt. »Es gehört zu meinem besonderen Verhältnis zu meiner Geburtsstadt Frankfurt am Main, daß ich sie als eine der verdorbensten und häßlichsten Städte Deutschlands erlebe und in meiner Phantasie und in meinem inneren Bild von der Stadt an sie als eine der schönsten Städte denke, die ich kenne«, beginnt einer der zahlreichen Essays, in denen Martin Mosebach den Schauplatz seines Lebens und seiner Literatur beschreibt.
Die literarische Gattung, die er gewählt hat, untersagt ihm genauso wie Cervantes das Übernatürliche – also muß er, nicht zuletzt hierin ganz katholisch, noch die gewöhnlichsten Situationen ins Gleichnishafte, Wunderbare wenden, sei es eine Kuh, die durch die Eingangshalle eines indischen Flughafens schreitet, eine Ameise, die im Kamin verbrennt, oder eine Katze, die am Helden vorbeischleicht. Überhaupt die Tiere – es ist kein Zufall, daß sie bei Mosebach eine ähnlich prominente Rolle spielen wie im Don Quijote. Ob es dessen Abenteuer mit den Schafen ist, mit den Stieren oder mit den Schweinen – auch für Cervantes eignen sich gerade die Tiere in ihrer Stummheit und Andersartigkeit als Projektionsfläche einer fremden, magisch anmutenden Realität, nicht um die Existenz des Magischen zu veranschaulichen, sondern die Profanität unserer Existenz. Die große, dichte Staubwolke am Horizont wird ja nur für Don Quijote »von einem großmächtigen Heere« aufgewirbelt, »aus den verschiedensten unzählbaren Völkern zusammengesetzt«. Für den Leser bleibt es eine Schafherde, gegen die der komische Ritter zu Felde zieht. So sehr dessen neuerliche Blamage amüsiert, erzeugt Cervantes Roman jedoch zugleich ein Gefühl des Bedauerns, in einer Welt zu leben, in der Schafe nur Schafe und Ritter nur Witzfiguren sind.
Wie die Windmühlen nur in Don Quijotes Augen ungestalte Riesen sind, die mit den Armen um sich schlagen, die Marionetten lebende Menschen, der Blecheimer ein Helm, beschreiben die größten Szenen in Mosebachs Romanen ein Drama, das sich ausschließlich in der Wahrnehmung des Protagonisten abspielt. Die Dunkelheit, um nur ein Beispiel zu nennen, die Dunkelheit in der Langen Nacht ist nichts als ein gewöhnlicher Stromausfall in einem leeren Bürogebäude, aber wie Mosebach die existentielle Verzweiflung beschreibt, in die der Protagonist Ludwig Drais auf der Suche erst nach dem Ausgang, dann nach der Toilette schliddert – das ist mehr als bloßer Slapstick: Das entwickelt sich aus einer nichtigen Begebenheit zu einem geradezu biblischen Gleichnis menschlicher Lächerlichkeit, über die sich freilich nur die Götter amüsieren beziehungsweise die Leser. Ludwig Drais selbst bleibt nicht einmal der Trost, daß sein Leiden heroisch wäre wie in alten Büchern. Er muß einfach nur aufs Klo. »Hatte zwischen der Literatur und dem Leben eigentlich immer schon solch ein unüberbrückbarer Graben gelegen?«, fragt der Erzähler gegen Ende der Langen Nacht. Die Literatur erzähle von schicksalhaften Ereignissen, von Liebe und Eifersucht, Schuld und Sühne. All das habe es in Ludwigs Leben gegeben, die Liebe zu einer verheirateten Frau, den Betrug, sogar den Tod.
»War das nicht Stoff für eine ergreifende Erzählung? Wie mußte Menschen zumute sein, denen so etwas zustieß? Den Helden eines solchen Romans – man sprach tatsächlich von Helden, weil ein heroischer Kampf geschildert wurde, bei dem die Menschen an den Institutionen, die Institutionen an den Menschen, alles zusammen aber an Schuld und Sühne zugrunde ging.«
Man sieht hier und auf den folgenden Seiten des Romans genau, daß auch Mosebach eine literarische Tradition überholt erklärt, indem er sie unter heutigen Vorzeichen fortführt, und zwar mit der Genauigkeit dessen, der um ihr Ableben trauert. »Die größte Satire gegen die menschliche Begeisterung« nannte Heinrich Heine den Don Quijote, aber geschrieben werden konnte sie nur von einem, der selbst begeistert war, jener Welt der Ehre, Bildung und Leidenschaft noch angehörte, die er verabschiedete.
So wenig wie der Don Quijote, in dem sich gegen den Trend der damaligen Zeit keinerlei anti-absolutistischen oder anti-katholischen Klänge finden, sind Mosebachs Werke progressiv. Respekt verdient, was sich sinnlos gegen den Verfall stemmt, und sympathisch ist, wer verliert. Das mutet konservativ an, ist aber eher die Skepsis dessen, für den Entwicklung nicht Fortschritt bedeutet. Mosebachs Blick ist rückwärtsgewandt, ja. Wohin immer er blickt – ob auf Deutschland, Ägypten oder Indien –, interessiert ihn die Pracht des Gestrigen, gerade insofern sie gestrig ist. Seine Romane schildern das Vergängliche, um es gegen das Bestehende zu wenden und dessen Anmaßung anzufechten, es sei von Dauer. In der literarischen Welt Martin Mosebachs ist das Leben per se Verfall, ohne daß menschliche Verhältnisse jemals besser gewesen wären.
Ich behauptete zu Beginn, daß Martin Mosebach an den Roman glaube. Der ist freilich eine literarische Gattung, die in ihren Anfängen noch deutlich die Züge älterer Erzählformen trägt, speziell des Epos und der Märchensammlung mit ihrer Rahmenhandlung. Die äußere Handlung ist zwar auf eine moderne Dramaturgie aus Disposition, Drama und Auflösung ausgerichtet. In Wirklichkeit besteht ein solcher Roman aus tausend Einzelgeschichten, die sich mehr oder weniger geschmeidig in den Plot einfügen. Man merkt es daran, daß man als Leser beinah überall einsteigen kann, sofern man die Handlung in Grundzügen kennt. Alles ist immer in allem. Dieses Erzählprinzip ist älter als der Don Quijote; es manifestiert sich im Dekamaron, in der Göttlichen Komödie und natürlich in der literarischen Tradition des Orients und des Andalus, die Cervantes ebenso explizit aufgreift wie vor ihm Dante oder Boccaccio. Fihi mâ fihi hat der persische Mystiker Maulana Rumi eine seiner Sammlungen genannt: »Darin ist, was darin ist.«
Modern am Don Quijote ist nicht sein Weltentwurf, sondern dessen Scheitern, ist nicht die literarische Form an sich, sondern daß sie zum Zitat und damit gebrochen wird. Indem Cervantes den Roman als Übersetzung eines arabischen Schriftstellers ausgibt, den er auf dem Markt von Toledo erworben haben will und dann noch einen zweiten, angeblich später entstandenen Teil anhängt, darin alle Protagonisten bereits den ersten Teil der Geschichte kennen, spielt er mit den literarischen Behauptungen, den Wirklichkeitsebenen, der Aufnahme seines eigenen Werkes. Auch bei dem so formstreng auftretenden Mosebach hat der sprachliche Gestus etwas von einem Zitat, nimmt er gerade diejenigen Wendungen willentlich auf, die der Duden als veraltet brandmarkt, und gerät zugleich die Form immer wieder völlig aus der Fassung. Figuren wie das Ehepaar Kn. in der Langen Nacht werden kurz vor Ende der Geschichte eingeführt, ausführlichst beschrieben, nur um urplötzlich wieder abzutreten und bis zum Ende des Buches nicht mehr in Erscheinung zu treten. Oder gehen Sie der Reihe nach die Konstruktion seiner Romane durch, etwa im Beben das Erscheinen der Frankfurter Geliebten ausgerechnet am Hof des indischen Dorfkönigs – der dem Helden selbstverständlich die Geliebte buchstäblich vor den Augen wegschnappt, nur um sie wieder an den zufällig auch durch Indien tourenden Kunstguru zu verlieren, mit dem die Frankfurterin eigentlich verbandelt ist: Das ist so durchsichtig, daß man begreift, wie gleichgültig Mosebach die Konstruktion ist, die er scheinbar bedient, die immer gleichen Personenkonstellationen, ein ähnlicher Plot, die merkwürdigen Fügungen, die selbe ironische Tonlage.
Den Unterschied macht nicht die Geschichte, die beliebig, ja austauschbar anmutet, sondern der Mut, sich in eine einzelne Situation, eine abseitige Episode von vielleicht zehn, vielleicht fünf, vielleicht zwei Minuten Realzeit hineinzustürzen wie in einen reißenden Fluß, sich darin zehn, fünfzehn, dreißig Seiten treiben zu lassen, ohne einen Gedanken zu verschwenden ans Ufer, an das, was draußen in der Handlung passiert. Mosebachs Romane wirken auf mich an diesen Stellen wie Improvisationen des Jazz oder der Rockmusik, die sich häufig aus den banaleren Stücken entwickeln, um die Komposition in den besten Momenten hinter sich zu lassen, ja sie für den Augenblick vollständig zu vergessen.
Bislang am weitesten getrieben hat Mosebach diese wahrhaft mystische Hingabe an das Objekt des Erzählten in seinem vorletzten Roman Das Beben, der in Frankfurt einsetzt wie ein typischer Mosebach-Roman, um sich im zweiten Teil in eine literarische Meditation, eine einzige große Situationsbeschreibung zu verwandeln, die schon in ihrer Proportion nach in keinem Verhältnis steht zu dem viel kürzeren ersten Teil und dem winzigen Schlußteil. Auf diesen gut zweihundert Seiten, in denen so gut wie nichts und in wenige Szenen gepreßt alles passiert, bricht Mosebach nicht bloß die Form des Romans auf, er bringt sie zum Bersten. Spannung, Realzeit, dramatische Entwicklung im konventionellen Sinne spielen darin keine Rolle mehr. Darin ist, was darin ist. Im Beben gibt Mosebach preis, daß sein Glauben an den Roman so verwegen, so anmaßend, so absurd und sogar lächerlich ist wie der Glauben des Don Quijotes, ein Ritter zu sein. Aber genau durch das Scheitern – das ist der Clou – wird Don Quijote zum Ritter, werden die Windmühlen zu Riesen, gelingt Martin Mosebach der Roman.
Sein jüngster Roman nun, Der Mond und das Mädchen, tritt ganz anders auf, ungleich konzentrierter, knapper auch, streng und ebenmäßig geordnet. Zwar findet sich auch hier, was seinen Stil so glanzvoll macht: das Melodische des Rhythmus, die Eleganz seiner weitverzweigten Syntax, die den Satzbau als Teilgebiet der Architektur ausweist, der feine Spott, die Vorfreude auf die zu erwartende Metapher, die ein jedes »als ob« auslöst. Und doch ist allein schon die Ausgewogenheit der Kapitel ungewohnt. Bis auf das letzte sind sie alle gleich lang, als hätte Mosebach auf die Seitenzahl geachtet, und folgen der gleichen Struktur, einem Wechsel aus Erzählung und eingeschobenen Reflektionen, die so musikalisch wie ein Refrain wirken. Der Aufbau ist von beängstigender Vollkommenheit – und doch nicht das, was zumindest den Laudator am Preisträger begeistert. Natürlich wollen wir Jüngeren die Sprengung, nicht die Vollendung, interessiert uns an der Handlung vor allem die Abschweifung. Dafür kristallisiert sich in Der Mond und das Mädchen etwas weiter heraus, was den frühen Romanen mit ihren doch ziemlich liebenswerten Charakteren noch fremd ist, und erst seit dem Westend, spätestens seit der Langen Nacht verstört, eine Eigenschaft, die mir unverzichtbar erscheint für die Literatur: die Bosheit. Nicht von ungefähr wird in Der Mond und das Mädchen zum ersten Mal in einem Mosebach-Roman eiskalt gemordet. Literatur muß böse sein, sie muß weh tun, gerade um des Menschlichen willen muß sie unerbittlich sein in ihrem Blick auf die Menschen. Herr Mosebach, Sie haben uns mit Ihren Büchern reich beschenkt. Wir haben noch viel zu erwarten. Ich gratuliere Ihnen zum Büchner-Preis und uns allen zum diesjährigen Preisträger.