Georg-Büchner-Preis

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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Satzung

Präambel

Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.

§ 1

Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.

§2

Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.

§3

Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.

Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.

§4

Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.

Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.

Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.

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Erich Fried

Lyriker und Übersetzer
Geboren 6.5.1921
Gestorben 22.11.1988
Mitglied seit 1986
Homepage

Erich Fried, der in seinen poetischen Werken wie in seinen Übersetzungen die deutsche Sprache aus Verdunkelungen und aus dem Geschwätz zu einer unmißverständlichen Triftigkeit führt.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Herbert Heckmann
Beda Allemann, Peter Benz (Stadt Darmstadt), Herman Dieter Betz (Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst), Günter Busch, Hans-Martin Gauger, Ludwig Harig, Helmut Heißenbüttel Hans Paeschke, Lea Ritter-Santini, Dolf Sternberger (Ehrenpräsident), Bernhard Zeller, Ernst Zinn

Laudatio von Herbert Heckmann
Schriftsteller, geboren 1930

Die richtigen Namen

Mendele Moicher Sfurim beginnt seinen Vorspruch (...) da er mit eigenen, zum ersten Mal gedruckten Schriften vor die Welt tritt mit folgenden Worten: »Wie ist Euer Name?« Das ist die erste Frage, die ein Jude einem Wildfremden gleich bei der ersten Begegnung stellt, sobald er ihm Willkommen gesagt hat. Niemandem fällt es dabei ein, daß man dagegen zum Beispiel antworten könnte: »Was liegt Euch denn so sehr daran, zu wissen, wie ich heiße, Herr Gevatter? Wollen wir denn unsere Kinder miteinander verheiraten? Ich heiße so, wie man mich nannte, und laßt mich in Ruhe!« Nein, im Gegenteil, die Frage nach dem Namen ist etwas ganz Natürliches. Also: der Name des diesjährigen Büchnerpreisträgers ist Erich Fried – und nicht der politische Lyriker, nicht Agitator, nicht der Epigrammatiker, nicht der Menschenfreund, nicht der Engagierte, nicht der Zornige, nicht der Traurige, nicht der Liebende, nicht der Übersetzer Shakespeares. Erich Fried ist all das, aber er ist es unverwechselbar als Erich Fried, der für das in Deutschland so beliebte Schubfachdenken hysterischer Systeme nicht das Geringste übrig hat. Er besteht auf der Unverwechselbarkeit der Namen. Namen haben aber nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere, die Pflanzen, die Dinge und Sachverhalte – und es ist eine unerläßliche Voraussetzung sich ihrer Namen zu versichern, wenn wir mit ihnen umgehen wollen. Recht ist Recht, Unrecht Unrecht, Liebe ist Liebe und Haß Haß, Friede ist Friede und Krieg Krieg, ein Warner ist ein Warner und kein Nestbeschmutzer. Wir haben nur zu oft Angst, die Dinge und Zustände beim richtigen Namen zu nennen. Auf das richtige Wort kommt es an, das immer auch das gerechte Wort ist. Aber was tut man? Man beschwichtigt, vertuscht, verdreht, beschönigt, wirft das Fangnetz der Sprachregelung aus, daß alles die leicht verstehbare Gleichförmigkeit der Lüge annimmt.
Der Name ist das Unverwechselbare. Er bezieht sich auf die Dinge, auf die Zustände, auf den Menschen – und nicht auf die Vorstellungen von ihnen. Sprache wird leicht zur Kunst, die Wahrheit zu verbergen, weil sie unbequem ist. Diese ist jedoch nur dann sagbar, wenn wir die richtigen Namen kennen. Es gibt nicht wenige, die die Dichtung für ein Vermögen halten, den Menschen und Zuständen und Dingen einen schöneren Namen zu verleihen als den, den sie besitzen. So wird aus einem Verbrechen Notwehr, aus Schuld »eine besondere Form des Vergessens: vergessen haben, was man vergessen hat.« (Kurt Guggenheim), aus Unrecht, Sachzwang und so weiter. Man unterschätze nicht die Phantasie der öffentlichen Sprachregeler! In Wirklichkeit trifft nur ein Name: alles andere ist schönschreiendes oder denunzierendes Geschwätz.
Wenn es einen Grund für die Literatur gibt, dann doch vor allem den, daß sie den Menschen und den Dingen den Namen zurückgibt, die diese im Furioso der sprachregelnden Lüge verloren haben. Richard Beer-Hofmann hat den Dichter – welche Scham hindert uns daran, diesen Namen zu nennen – den Freund der Worte genannt.

»Das Wort ist immer älter und weiser, als der, der es gebraucht. Es hat mehr erlebt. Es erzählt auch – dabei in jedem Augenblick von innerem Leben bebend – was es erlebt hat – aber so wenige haben Ohren, es zu hören. So viele, die, als Forscher, beflissen um das Wort bemüht sind – auch manche darunter, die von ihrer Zunft gepriesen werden, berichten von den Worten als Totenbeschauer und Anatomen. Das Wort – und die wunderbaren Zellenstaaten des Wortes, die man Dichtungen nennt – liegen als Leichen auf dem Seziertisch. Und was dann am Ende davon berichtet wird, kann ja doch nur ein Sektionsbefund sein. Nur der Dichter lebt – Freund und Genosse der Worte – ihr Leben mit, darum lieben die Worte den Dichter.«

Lieber Erich, das ist, wie du weißt, keine behagliche und behagende Liebe, die einen in Filzpantoffeln durch die Bildungsidyllen führt. Sie stellt vielmehr in Frage, sie stellt sich selbst in Frage und sie wird in Frage gestellt. In der Öffentlichkeit ist die Sprache den verschiedensten Regelungen unterworfen – Das Mißverständnis breitet sich wie ein Krebsgeschwür aus. Die Öffentlichkeit zehrt vom Mißverständnis. Da geraten die Namen durcheinander und werden zu Münzen einer stets wechselnden Währung. Nennst du jedoch die Zustände und Dinge bei ihrem richtigen Namen, werden diejenigen, die sich von der Sprachregelung erhoffen, daß keiner ihnen in die Karten schauen könne, dir vorwerfen, du verdrehest die Fakten. Das Normale ist das Wunder: die Dichtung ist das Normale.
Daß ein Wort die Sache treffe, daß es gelebt sein muß, diese Unbedingtheit der Sprache hast du dir schon in deinen ersten Gedichtbänden Deutschland (London 1944) und Österreich (London / Zürich 1945) zur Aufgabe gemacht und dabei bist du bis zum heutigen Tag geblieben. Wie Karl Kraus ist dir die Sprache ein Indiz für den Zustand menschlichen Zusammenlebens. Das Schreiben beginnt, streng genommen, mit dieser Einsicht, es ist in einem sehr konkreten Sinne gegen hohle Wörter und Worte gerichtet.
Nur zu gut weißt du, daß die Art und Weise, wie wir mit der Sprache umgehen, eben die Art und Weise ist, wie wir mit Menschen umgehen. In deinem Gedichtband Lebensschatten aus dem Jahre 1981 findet sich ein Gedicht, das die lebensbeschwörende Kraft der dichterischen Sprache mit einer fast verzweifelnden Nachdrücklichkeit offenbart.

»Bevor ich sterbe
Noch einmal sprechen
von der Wärme des Lebens
damit doch einige wissen:
Es ist nicht warm
aber es könnte warm sein

Bevor ich sterbe
noch einmal sprechen
von Liebe
damit doch einige sagen:
Das gab es das muß es geben
Noch einmal sprechen
vom Glück der Hoffnung auf Glück
damit doch einige fragen:
Was war das
wann kommt es wieder?«

In dem Gedicht gibt es keinen Punkt. Punkte setzt man als Abschluß eines Satzes, aber hier gibt es keinen Abschluß. Hier reichen die Wörter über die grammatischen Grenzen hinweg – in die Wirklichkeit die sie vergessen machen will.
Gedichte gegen das Vergessen hast du einen Gedichtband aus dem Jahre 1985 genannt. Das ist programmatisch für deine Lyrik zu verstehen. In einer Zeit, in der das Vergessen zum politischen Gesellschaftsspiel und in der Öffentlichkeit zur allgemeinen Unterhaltung wird, ein Ärgernis! Und tatsächlich haben es dir die Moderatoren des allgemeinen Literaturverständnisses übel genommen und dir den direkten Bezug zur Wirklichkeit angekreidet. Darf denn ein Lyriker überhaupt direkt werden? Ist es nicht besser, wenn er im Ungefähren wandelt und weihevolle Worte raunt, die nichts, aber auch gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben? Manchmal muß ich mich wundern, daß bei dem falschen Literaturverständnis hierzulande Literatur überhaupt noch eine Chance hat. Damit keine Mißverständnisse aufkommen: ich wundere mich gern, und ich bin glücklich, daß du die Namen der Wirklichkeit wieder zurückzugeben suchst, daß du an der Unverwechselbarkeit festhältst. Das provoziert, das muß provozieren. Darüber wundere ich mich gern. Deinen Gedichten eigen ist die Beunruhigung, von der sie ausgehen, und du tust alles, um diese Beunruhigung weiterzugeben. Du willst nicht gefallen, weil Gefallen immer ein Schmeicheln ist. Du machst nicht Worte, wie sie jeder Viel- und Allesschreiber aus dem Handgelenk schüttelt, du machst dir ein Gewissen aus Worten.
Günther Anders stellte in seinem Buche Die Antiquiertheit des Menschen fest:

»Unsere Welt ist post-ideologisch, das heißt: ideologie-unbedürftig: – Womit gesagt ist, daß es sich erübrigt, nachträglich falsche, von der Welt abweichende Welt-Ansichten, also Ideologien zu arrangieren, da das Geschehen der Welt selbst sich eben bereits als arrangiertes Schauspiel abspielt. Wo sich die Lüge wahrlügt, ist ausdrückliche Lüge überflüssig.«

Nie hat Dichtung, die ein bildungsbeflissenes Publikum aus der Welt retten zu müssen glaubte, einen so schweren Stand gehabt wie heute. Schließlich ist sie nicht für Rezitationsabende oder für einen ästhetischen Gott, der bei jeder guten Formulierung verzückt lächelt. Im Gegensatz zu vielen Lyrikern der fünfziger und der anfänglichen sechziger Jahre, die so taten, als sei das Publikum ästhetisch verzichtbar, hast du, Erich, immer den Dialog gesucht.
Du weißt, wie und was gesprochen wird, wie man dir zuhört – und aus dieser Kenntnis hast du eine verblüffende und eine verblüffend einfache Dialektik entwickelt. Du enthüllst die Verhüllenden, daß sie ihrer Blöße sprachlos werden müssen, du läßt Lügen sich selbst überführen, du nimmst Sprachregelungen wörtlich, um ihre verborgenen Absichten zu entlarven. Du sagst: »Er versteckt sich hinter seinen Fragen vor seinen Fragen. Er versteckt sich hinter seiner Antwort vor seiner Antwort.«
Du bist ein Nachfahre Till Eulenspiegels, wenn auch ohne dessen grobderbe Nachdrücklichkeit, die zum Schaden des Gefoppten noch den Spott setzte.
In welcher Welt leben wir denn, in der wir die Sprache nicht mehr wörtlich nehmen können! Du wirst nicht müde, auf diesen Zustand hinzuweisen, und scheust dich nicht, Verhaltungsmaßregeln zu geben:

»Zweifle nicht
an dem
der dir sagt
er hat Angst

aber hab Angst
vor dem
der dir sagt
er kennt keinen Zweifel«

Der Zweifel ist deine Muse, aber du kennst auch die Schwierigkeiten der Fragen, die immer neue Fragen stellen.
Solange ich dich kenne, trägst du eine große Tasche mit dir herum. In ihr stecken die Gedichte, an denen du gerade arbeitest. Du fragst die Freunde, die dir über den Weg laufen, nach der Triftigkeit deiner Gedichte. Unser gemeinsamer Freund David Rokeah, der viel zu früh Verstorbene, der selbst auch zu allen Gelegenheiten eine Tasche mit Gedichten mit sich herum trug, sagte mir einmal: »Der Erich dichtet selbst im Schlaf!«
Du gibst das Fragen nicht auf, das für dich Schreiben ist, wohlwissend: wenn die Katze aus dem Sack ist, ist nichts mehr drin. Viele deiner Gedichte sind Fragen, so die »Drei Fragen zugleich« in deinem Gedichtband Um Klarheit – Gedichte gegen das Vergessen, 1985:

»Darf ein Gedicht
in einer Welt
die an ihrer Zerrissenheit
vielleicht untergeht
immer noch einfach sein?

Darf ein Gedicht
in einer Welt
die vielleicht untergeht
an ihrer Zerrissenheit
anders als einfach sein?

Darf eine Welt
die vielleicht an ihrer
Zerrissenheit untergeht
einem Gedicht
Vorschriften machen?«

Anstelle lyrischer Exuberanz eine schlichte, sich auf die Tatsachen beziehende Sprache, die den Leser wachzurütteln sucht, daß sich kritische, tatkräftige Gedanken im Chaos von vorgekauten Weisheiten, feigen Affirmationen und gewaltfrommen Sprüchen durchsetzen. Du hältst deine Leser – und das unterscheidet dich von vielen ändern Schriftstellern, die die Arroganz für eine ästhetische Primärstufe halten, durchaus eines kritischen Gesprächs für fähig und ernüchterst die Sprache wieder zu ihrem Sinn. Du schreibst ein Deutsch, an dem es nichts zu deuteln gibt, klar und unmißverständlich. Mit einer unbeirrbaren Beharrlichkeit klopfst du die Wörter ab, um sie von der Tünche der Lüge und der falschen Pose zu befreien. »Ich erinnere mich an meinen Zorn«, beginnst du ein Gedicht mit dem Titel »Engagiertes Gedicht«, »und an meine Suche / nach den richtigen Worten / für meinen Zorn / an die letzte Verbesserung vor der Reinschrift / an mein Lautlesen für mich allein / und zuletzt an meine / Zufriedenheit / die meinen Zorn aufhob«. Auch hier, wie in all deinen Gedichten, beschließt kein Punkt den Satz. Du willst den Gedanken eines Satzes nicht beendet wissen. Wir haben zuviele Punkte gesetzt, um nicht weiterdenken zu müssen. Wenn du von Zufriedenheit sprichst, geschieht das nicht, weil du einen Punkt machen willst. Sie wird dir nie zur Routine, nie zur Gewöhnung, nie zum Abschluß. Sie ist nichts anderes als Zufriedenheit des richtigen Wortes, als Sicherheit des Sagens. Die Welt, in der wir leben, schmerzt dich, fordert dich immer wieder heraus, Klarheit zu finden – im Gegensatz zu den metaphorisierenden Adepten, die Scheuklappen für Fernrohre halten und mit dem Punkt ihre geistige Erschöpfung angeben. Du lebst die Sprache und spürst, wie sich der Verfall der Welt in sie einnistet, wie Tod sie umlauert. Die Vögel verirren sich im Dunstgrau des Himmels, das Wild nimmt keine Fährten mehr auf, die Pflanzen erschauern vor dem Pesthauch der Industrie, die uns den Luxus als Henkersmahlzeit vorsetzt. Kriege werden aus verletzter Eitelkeit vom Zaun gebrochen, Menschen sterben, weil sie ein Vorurteil zeichnet, Menschen verhungern, weil sie keinen Posten in der Bilanz ausmachen. Welche Perversion gehört dazu, den als unbequem abzutun, der diesen Wahnsinn unmißverständlich anprangert?
Die alles verdauende Öffentlichkeit versucht den unbequemen Autor, der sagt, was zu sagen ist, zum Hofnarren zu machen und der allgemeinen Lächerlichkeit preiszugeben. Du kennst diese Versuchung und durchschaust das trübe Spiel der publikumswirksamen, aber sachlich unwirksamen Kritik, diese Solidarisierungssentimentalitäten, die nichts anderes sind als theatralische Gewissensberuhigungen. Den Mitleidspoeten, die keine historische Gelegenheit auslassen, um ihr einbringliches Mitgefühl hinterhertönen zu lassen, hast du gar ein Gedicht gewidmet:

»Auf ein großes Mitleidsgedicht

Sein Mitleid hat sicher
die schönsten Worte der Welt
und Gleichnisse
die das Ohr
und fast alle Gedanken entzücken
Er selbst muß fühlen
wie ihn das unsterblich macht
Herrlich ist dieses Mitleid
Wie schön muß es sein
zu erleiden
Folter und Tod
um solches Mitleid zu wecken!
Wer dürfte da noch verlangen
daß es auch echt sein muß?«

Echt ist heutzutage ein problematisches Füllwörtchen geworden, das man schon echt nennen muß, um seine Echtheit zu garantieren. Du kennst den Wortzweifel, die Wortskepsis, die den Juden so selbstverständlich ist, weil sie auf den Namen bestehen! Du bist dir selbst unbequem und mißtraust, was Schnelleser als Mangel bezeichnen, jeder schönen, eilfertigen Formulierung, die meist doch nur der Grabstein des Gedankens ist. Deine Sprache wirkt oft spröde und sperrig und wird zum Stolperstein für Literaturkonsumenten. Halten wir fest: Der Leser deiner Gedichte muß die Geduld aufbringen, die ihr Verfasser bei der Niederschrift besaß, um die Spannungen auszumachen, die zwischen den Wörtern und den sie bezeichnenden Sachen bestehen. H. M. Broder hat in der Wochenzeitschrift Der Spiegel dein unermüdliches Engagement als »Trauerarbeit vom lyrischen Fließband« bezeichnet und darauf hingewiesen, daß es sich auf die Konsumenten deiner Werke überträgt, die schon dadurch, daß sie »engagierte Lyrik« lesen, sich für »engagierte Leser« halten können. »Was Fried vermittelt«, so fährt er fort, »ist das Gefühl, an Auseinandersetzungen, Klassenkämpfen und Revolutionen teilzunehmen, immer auf der richtigen Seite der Barrikade und dabei mittendrin in der alternativen Wohnküche mit den Che- und Rudi-Poster an der Wand. Er ist die Mutter Teresa für den kritischen Studienrat mit SDS-Erfahrung.« Broder macht, wie viele andere Kritiker, den Fehler, von deinen mitunter etwas delirierenden Bewunderern auf dich selbst zu schließen. Begeisterung über Aufklärung wird nur zu leicht Begeisterung über Begeisterung, wird zu einem irrationalen Solidaritätsgefühl, das sich zur Wirklichkeit verhält, um ein Wort von Karl Kraus aufzugreifen, wie die Kartenlegerin zur Metaphysik.
Deinen Gedichten und Texten ist ein aufklärerischer Elan eigen, der sich gegen jede Routine und gegen jede Pose sträubt. Du suchst nicht den argumentenlosen Beifall, du eröffnest mit jedem Gedicht einen aufklärerischen Dialog. Daß du einen schwierigen Stand hast, auch vor dir selbst, das weißt du am besten. Du mißtraust dem Applaus deiner Freunde und Bewunderer, die dich nur zu gern auf dem sokratischen Sockel sehen, so daß die Bewunderung bald die Nachdenklichkeit lähmt. Deine Gutmütigkeit hat schon manches Mißverständnis aufkommen lassen. Es spricht für dich, daß du unbeirrt weitermachst. Nicht im Geringsten scherst du dich um die in der Öffentlichkeit so beliebten verbindlichen Gesten. Dem Lyriker comme il faut, der es mit allem und vor allem vor allen mit der Wahrheit treibt, schreibst du ins Stammbuch:

»Du kannst es
mit jeder
und jedem
in jeder Stellung
machen?
Da kann man
nichts machen
Gegen Hölderlin
der gegen dich
ein armer Idiot war
bist du
ein armer Idiot

Oder besser gesagt
dank deiner Weltgewandtheit
ein reicher Idiot
aber doch
ein Idiot.«

Auch in diesem Gedicht versuchst du den Dingen und Zuständen, den Verhaltensweisen den richtigen Namen zu geben. Aus dem Wirrwarr beschwichtigender, verharmlosender Bedeutungen, die wie Rauhreif über die Sprache fallen, klaubst du die Wahrheit einer Sache hervor. So sind deine Gedichte immer auch sprachliche Lehrstücke, Demonstrationen einer unbestechlichen Aufklärung: im besten Sinne Agitation und Polemik, die freilich keinen dogmatischen Namen trägt. Mehr noch: sie sind leidenschaftliche Plädoyers für die geschurigelten, gedemütigten, gequälten, verfolgten, mit Vorurteilen um ihr Selbst betrogenen, um Stolz und Arbeit gebrachten Menschen. Vietnam war für dich nicht der Anlaß für eine moralische, distanzierende Pflichtübung, vielmehr decktest du Gefahren auf, die allgegenwärtig sind. Das legt der Gedichtband Und Vietnam und programmatisch fest.
Das Schicksal deiner Familie in den Zeiten des Nationalsozialismus, dein eigenes Schicksal in der Emigration, die dich 1938 nach England führte, hat dich in deiner Liebe zum Menschen und in deiner Erinnerung an die richtigen Namen nie irre gemacht.
Die Trauer schärfte dir das Auge.

»Traurig sein
heißt vielleicht mehr bemerken
von dem was traurig ist
als vor dem Traurigsein.«

Ist es diese Trauer, die dich bei aller Ungeduld der Klage, so geduldig macht, selbst mit den Gegnern des Gespräch zu suchen. Du kannst zuhören – nicht eben eine häufige Tugend, du kannst auf den günstigen Augenblick warten.
Ich hab von dir nur als Verfasser von Gedichten geredet, was du jedoch in deinen Gedichten bist, bist du auch in deinen Erzählungen, Aufsätzen, Berichten, Pamphleten, Manifesten, Leserbriefen und in deinem Roman Der Soldat und das Mädchen, der 1960 herauskam, bist unverwechselbar Erich Fried, nach allen Seiten hin unbequem, aber ein großer Liebender, ein Dichter also, der die Kunst beherrscht, zwischen den Kulturen, zwischen den Sprachen in einer Sprache sicherer Namen zuhause zu sein, wie du es nicht zuletzt auch in deinen triftigen Übersetzungen demonstrierst, ein wahrhaftes Genie im Auffinden öffentlicher Fettnäpfchen, die die mächtigen und glatten Tonangeber der Öffentlichkeit aufstellen, um den Unbequemen zu desavouieren, ein Mutiger, der es nicht aufgibt, kleine Gedichte gegen den übergroßen Mißstand der Welt zu schreiben, der sich fast eine kindliche Naivität über viele Enttäuschungen hinweg gerettet hat, ein Freund, der andere Schicksale genauso wichtig nimmt wie sein eigenes, ein ebenso weltfremder wie weltnaher Zeitgenosse, der sich schlecht und recht mit Gedichten, Erzählungen, Kritiken, Rundfunkarbeiten und Vorträgen durch das Leben schlägt – die Erfinder neuer Waffen werden besser bezahlt –, ein Kranker, der mehr Lebenszuversicht zeigt als die Helden der Rekorde, die doch nur Automaten ihres Ehrgeizes sind, ein Millionär an Herz, Geist und Zorn, vor allem Zorn, denn heute gehört es schon zu den höchsten Tugenden des Schriftstellers, die Fassung verlieren zu können.
Georg Büchner, der Patron des Preises, der heute an dich geht, schrieb einmal in einem Brief: »Nichts kommt einen doch in der Welt teurer zu stehen als die Humanität!«
So etwas kann man nicht mit Preisen abgelten, lieber Erich, so etwas kann man nur nachahmend bewundern. Die Frage nach den Namen öffnet uns die Welt neu – und erschließt uns die Herzen. »Übrigens«, sagt Mendele Moicher Sfurim, »bin ich gar nicht mehr als ein Mensch.«
Laßt uns im Geiste vor Freude tanzen, lieber Erich – und wer mittanzen will, bitte!