Georg-Büchner-Preis

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Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Satzung

Präambel

Der Georg-Büchner-Preis, im Jahre 1923 als Staatspreis des Volksstaates Hessen gegründet und nach vorübergehender Ausschaltung von 1933 bis 1945 im Jahre 1946 durch gemeinsame Vereinbarung der Stadt Darmstadt und des Regierungspräsidenten in Darmstadt wieder eingesetzt, wurde bis zum Jahr 1950 als allgemeiner Kulturpreis für hervorragende künstlerische Leistungen verliehen. Am 15. März 1951 wurde er auf Beschluss der bisherigen Beteiligten in einen Literaturpreis umgewandelt und wird seitdem von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben.

§ 1

Der Literaturpreis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung trägt zum ehrenden Andenken an den bedeutenden Dichter den Namen Georg-Büchner-Preis.

§2

Für die Verleihung des Preises steht, vorbehaltlich der jeweiligen Zustimmung der Haushaltsgesetzgeber, ab dem Jahr 2013 jährlich ein Betrag in der Höhe von 50.000 Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Hessen und die Stadt Darmstadt tragen jeweils ein Drittel dieses Betrags.

§3

Der Georg-Büchner-Preis wird jährlich durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller vergeben. Für den Preis können von den Mitgliedern der Jury Schriftstellerinnen und Schriftsteller vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeit und Werke in besonderem Maße hervorgetreten sind und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.

Bewerbungen für den Preis sind nicht möglich.

§4

Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury. Dieser gehören neben dem Erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung je ein Vertreter des/der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und des Magistrats der Stadt Darmstadt mit beratender Stimme an.

Der Preis wird in Darmstadt in einer Feierstunde übergeben.

Die vorstehende Satzung wurde im Juli 2023 in Anlehnung an die Satzungen vom 15. März 1951, vom 15. Juli 2002 und vom September 2013 neu gefasst und von den Trägern des Preises gebilligt.

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Christa Wolf

Schriftstellerin
Geboren 18.3.1929
Gestorben 1.12.2011
Mitglied seit 1977

Sie hat mit hohem Ernst dazu beigetragen, die Finsternisse zeitgenössischer Erfahrung in erzählender Prosa aufzuhellen.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Peter de Mendelssohn
Beda Allemann, Herman Dieter Betz (Hessisches Kultusministerium), Ludwig Harig, Karl Krolow, Horst Rüdiger, Heinz Winfried Sabais (Stadt Darmstadt), Bruno Snell(Ehrenpräsident), Dolf Sternberger, Gerhard Storz (Ehrenpräsident), Hans-J. Weitz, Eva Zeller, Bernhard Zeller

Dankrede

Ich danke der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt für die Zuerkennung des Georg-Büchner-Preises in diesem Jahr. Das Ungenügen an der eignen Arbeit steigert sich aus einem Anlaß wie diesem auf einen hohen Grad; der Selbstzweifel an der gewählten Existenzform wächst. Als müßig, vielleicht eitel, übergehe ich meine Auseinandersetzung mit diesem Dauerthema und lasse auch jene Blätter unter den Tisch fallen, die meine Schwierigkeit reflektierten, heute und hier zu reden. Büchners Beispiel vor Augen, beunruhigen mich mehr denn je die untergründigen Verflechtungen von Schreiben und Leben, von Verantwortung und Schuld, welche die Person, die schreibend lebt, lebend schreibt, hervorbringen und im gleichen Arbeitsgang zu zerreißen drohen. Die, glaube ich heute, nicht nur ausgehalten, sondern angenommen werden müssen. Unschuldig und ohne Verantwortung sein – dies mag als Wunschbild in Zeiten der Schwäche aufkommen; es ist ein Fluchtbild. In den konkreten Verhältnissen, in denen wir leben und schreiben, erwachsen werden – was auch heißt: sehend –, uns einmischen, versagen, wieder aufbegehren und auf neue Erfahrung süchtig sind: In diesen konkreten Verhältnissen ist ein Zustand verantwortungsloser Unschuld nicht vorgesehen. Heute und hier! heißt es da, und im Gehen reißt es uns die Masken vom Gesicht. Da werden die Gesichter mitgehen?

Büchner wieder lesen heißt, die eigne Lage schärfer sehn.

Ich gewöhnte mein Auge an Blut, aber ich bin kein Guillotinemesser. Der Gang der Deutschen durch die Geschichte, ein mühsamer, häufig verlegter, oft schleppender, gewaltsamer, manchmal wüster Gang, ließe sich mit den Worten ihrer Dichter pflastern und ausstaffieren. Aus Sätzen Büchners wollte ich eine Rede halten, die klingen sollte, als wäre sie heute geschrieben. Doch was zu seiner Zeit unerledigt blieb, ist nicht nachzuholen.

Er selbst, Büchner, hätte nie in die Verlegenheit einer öffentlichen Danksagung kommen können. Mit welchem Recht berufen wir uns auf die Erscheinung, auf das Werk dieses sehr jungen Mannes, der – Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler – es auf jedes Risiko hin unternahm, den finsteren Verhältnissen seiner Zeit eine lebbare Alternative zu entreißen; dem ein höllischer Schmerz seine fieberhaft nüchternen Dialoge, seine hellsichtigen, drängenden Prosasätze abgepreßt haben muß. Der Schmerz fing an, ihm das Bewußtsein wiederzugeben. Er erzählte rasch, aber auf der Folter.

Das Bewußtsein, das aus dem Irrsinnsschmerz auftaucht, ist nicht mehr das frühere, und die gefolterte Sprache, mit der es sich finden muß, ist ihm fremd. Lenz wird irre über dem Verlust seiner Übereinstimmung mit der gemeinen Vernunft. Wir, ernüchtert bis auf die Knochen, stehn entgeistert vor den vergegenständlichten Träumen jenes instrumentalen Denkens, das sich immer noch Vernunft nennt, aber dem aufklärerischen Ansatz zur Emanzipation, auf Mündigkeit hin längst entglitt und als blanker Nützlichkeitswahn in das Industriezeitalter eingetreten ist. Die Metapher vom Zauberbesen, heute ein harmloses Märchen, schien an seinem Beginn Mahnung genug zu sein. Später, da jede Gewalttat nach der Verschmelzung von Profitstreben und technischem Fortschritt von der Devise »Alles ist erlaubt« gedeckt wurde, entwarf die schwer irritierte bürgerliche Literatur das Bild des alten blinden Faust, der das Geräusch der Spaten, die ihm sein Grab schaufeln, in grotesker Selbsttäuschung seiner glückhaften Zukunftsvision einpaßt: Eine Metapher, die erst uns durch Mark und Bein geht. Uns, Zeitgenossen jener Zivilisation, welche das ihr Liebste und Wertvollste – Geld und technische Perfektion – in irrsinnigem Kurzschlußdenken an die Produkte zu ihrer Selbsttötung wendet. Uns, Zeitgenossen auch jenes neuen Faust, des »Vaters der Atombombe«, in dessen humanistisch gebildetem Gedächtnis – da das Licht, heller als tausend Sonnen, ihn blendet – Zeilen aus einem heiligen indischen Epos aufsteigen: »Ich bin der Tod, der alles raubt, / Erschütterer der Welten.«

Welchem Mißbrauch von Literatur werden wir noch beiwohnen müssen? Was kann noch geschehen, ehe es uns die Sprache verschlägt? Bis in welche Verstrickungen, welche Tode hinein wird als Leichenbitter Literatur den Menschen folgen? Nicht mehr Lebens-, nur noch Sterbehilfe leisten? Gefesselt durch eine weithin unverstandene Vergangenheit, gebannt in eine fast alternativlose Gegenwart, voll böser Vorahnung – wie sollen wir sprechen? Ein neuer Zyklus geschichtlicher Widersprüche, der sich vorbereitet – wird ihm, im Zeichen des »overkill«, Zeit gelassen werden, sich zu entfalten? Eine Literatur, deren Sprache, deren Formen die Denk- und Verhaltensmuster des Abendlands ausdrückt; deren Strukturen, wenn auch an der Darstellung von Widersprüchen entwickelt, doch auf einen produktiven Zusammenhang unter uns Menschen bauen, der aber nicht mehr als gesichert gelten kann: Muß sie nun nicht, wie immer sie sich drehn und wenden, sich quälen und zermartern mag, Komplice des Entfremdungs- und Entwirklichungsprozesses sein und bleiben? Wählt sie nur noch zwischen groben und raffinierten Täuschungsmanövern? Richtet sich im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit nicht auch das Wort gegen seine Produzenten? Und sagt die Zeit, was sich über sie sagen läßt, nicht in Plaste, Beton und Stahl? Monströs, düster, selbstverräterisch: Mit einer Wucht, die Sprache nicht erreichen kann. Soll sie also, die Sprache der Literatur, sich uns versagen?

»Edel sei der Mensch!« und: »Es wurde ein Fehler gemacht, wie wir geschaffen wurden.« Zwischen Goethes Satz und dem Büchners liegen fünfzig Jahre. Büchner sah: Das Zeichen des heraufziehenden Zeitalters war das Paradox. Folgerichtig hat sein Jahrhundert, das alles andre eher angenommen hätte als dieses Stigma, ihn mit Nichtachtung gestraft. Ihm begegnete früh jener Meinungs- und Gewißheitsschwund, von dem nun wir betroffen sind und der einen Sprachekel nach sich zieht. Eine Menge von Wörtern, auf die wir angewiesen zu sein glaubten, aus der Klasse »Freiheit«, »Gleichheit«, »Brüderlichkeit«, »Menschlichkeit«, »Gerechtigkeit« sind uns entzogen und vom Zeitungswesen übernommen worden, da ihnen nichts, auch kein Glaube mehr, entspricht. Nach der Logik der Sprache entfällt auch deren Gegenteil, da mit Wörtern wie »schauerlich«, »heillos«, »grauenvoll«, »bedrohlich«, »barbarisch« die Verhältnisse nicht zu treffen sind. An ihre Stelle, an die Stelle all der bescheid- und besserwissenden, der urteilenden, auftrumpfenden oder aufgebenden Wörter tritt das schlichte stille Wort: verkehrt.

Der Zustand der Welt ist verkehrt, sagen wir probeweise, und merken: es stimmt. Den Satz könnten wir vertreten. Schön ist das Wort nicht, bloß richtig, und so ist es eine Erholung für unser vom Geschrei der großen Worte zerrissenes Gehör, eine kleine Entlastung auch für unser von zu vielen falschen, falsch gebrauchten Wörtern gestörtes Gewissen. Könnte es vielleicht ein erstes Wort einer anderen, zutreffenden Sprache sein, die wir im Ohr, noch nicht auf der Zunge haben? Vielleicht könnte sich aus ihm – ohne daß wir einen Augenblick vergessen dürften, daß Benennen nicht Zurechtrücken, Wiedergutmachen und Verändern ist –eine Kette anderer, ebenfalls zutreffender Wörter entwickeln, die nicht nur ein Negativ des alten, sondern ein andres, zeitgemäßes Wertgefühl ausdrücken sollten. Damit man einander doch wieder etwas sagen und erzählen könnte, ohne sich schämen zu müssen.

Die nach dieser Sprache fahnden wollen, müßten aber wohl ein beinah vollkommenes Schwinden ihres Selbst-Gefühls, ihres Selbst-Bewußtseins ertragen können, weil ja all die Muster, in denen zu reden, zu erzählen, zu denken und zu dichten wir gewöhnt sind, nicht mehr verfügbar wären. Sie würden wohl erfahren, was es wirklich heißt: die Fassung verlieren.

Wir sind die ersten nicht. An den Bruchstellen zwischen den Zeiten wird gebrochen: der Mut, das Rückgrat, die Hoffnung, die Unmittelbarkeit: Vieles, was zum Sprechenkönnen nötig ist. In die Hohlräume springt die Angst. Vorläufer in der Dichtung sind fast immer auch Vorempfinder einer Angst, die später über viele kommt.

Tanze, Rosetta, tanze, daß die Zeit mit dem Takt deiner niedlichen Füße geht.

Meine Füße gingen lieber aus der Zeit.

Ein Rhythmus, der in den Schlaf, in die Träume hinein klopft. Der einen festnageln kann, besessen machen. Meine Füße gingen lieber aus der Zeit.

Tanze, Rosetta.

Rosetta tanzt. Singt: Ach lieber Gram. Geht davon, da Leonce nun einmal nicht sie, nur die Leiche ihrer Liebe lieben kann. – Tränen, Rosetta?

– Wohl Diamanten, sie schneiden mir in die Augen. – Leonce, allein: Ein sonderbares Ding um die Liebe. ‒ Ich, verkündet derweil sein Bruder Danton auf der Nebenbühne, ich werde mich in die Zitadelle der Vernunft zurückziehen. Ich werde mit der Kanone der Wahrheit hervorbrechen und meine Feinde zermalmen.

Wo bleiben Rosetta, Marie, Marion, Lena, Julie, Lucile? Außerhalb der Zitadelle, selbstverständlich. Ungeschützt im Vorfeld. Kein Denk-Gebäude nimmt sie auf. Man macht sie glauben: anders als auf diese Art – verschanzt! – könne kein Mensch vernünftig denken; dazu geht die Ausbildung, aber auch die rechte Lust ihnen ab. Von unten, von außen blicken sie auf die angestrengte Geistestätigkeit des Mannes, die, je länger, je mehr darauf gerichtet ist, seine Festung durch Messungen, Berechnungen, ausgeklügelte Zahlen- und Plansysteme abzusichern. Die sich in der eisigsten Abstraktion wohlfühlt und deren letzte Wahrheit die Formel wird. Wie könnte Rosetta argwöhnen, daß es Berührungsangst ist, wenn er sich der Fülle der Wirklichkeit entzieht; daß seine Gebrechlichkeit und die Furcht, ihrer gewahr zu werden, ihn in seine wahnwitzigen Systeme hineintreibt. Daß er, seiner Ganzheit durch erbarmungslose Arbeitsteilung beraubt, ein Verwundeter, Zerrissener, sich in die halsbrecherischsten Geschwindigkeiten hineinhetzt, um nur jene »Höllenfahrt der Selbsterkenntnis« nicht antreten zu müssen, ohne die es doch, nach Kant, keine Vernunft gibt. Und daß, wer sich selbst nicht kennt, kein Weib erkennen kann.

So trennen sich ihre Wege. Rosetta schweigt. Liebt. Leidet. Wird, als Marie, umgebracht. Folgt, als Julie, dem Manne in den Tod. Treibt in den Wahnsinn als Lucile. Opfert sich. Klagt, da heißt sie Lena: Bin ich denn wie die arme, hilflose Quelle, die jedes Bild, das sich über sie bückt, in ihrem stillen Grund abspiegeln muß? – Die eine, Marion das Freudenmädchen, hat der eigenen Natur gehorcht: So weit treibt Büchner seinen Realismus.

Man hat ihn nicht lesen können. Hat nicht wissen wollen, daß der Fortschritt, den man gerade in größerem Stil anwarf, das Zeug zum neuen Mythos in sich hatte. Daß er einem Lust, nicht aber Liebe machen konnte. Und daß seine stärkste Schubkraft die Angst vor der eignen inneren Leere würde.

Büchner hat so früh, und ich glaube, mit Grauen gesehen, daß die Lust, die das neue Zeitalter an sich selber fand, an ihrer Wurzel mit Zerstörungslust verquickt war. Doch die voll ausgebildete Fratze jenes Paradoxons, das Schöpfung an Vernichtung koppelt, hat er nicht erblickt, ein Wort wie »Megatote« nicht gekannt. Die Liebe zum Tod hat er seinen Figuren eingegeben; daß man aber eine perfekte, wenn auch mörderische technische Lösung »süß« nennen; daß man auf Raketenrümpfe Frauennamen schreiben würde – das wäre auch ihm nicht in den Sinn gekommen. Was sein Leonce, dem sein Spiegelkabinett zu enge wird, alles anstellen würde, bloß um nicht ohne Spiegel zu sein, hat Büchner nicht ahnen können. Denn eine Todesangst befällt sie – Leonce und seine mächtigeren, betriebsameren Nachfahren –, sobald keine Spiegel – die Augen, der Körper einer Frau, ein Theater, ein Konzern, eine machtvolle Organisation, ein Staatswesen, der Erdball, der Kosmos! – ihnen ihr übergroßes Abbild zurückwirft.

O wer sich einmal auf den Kopf sehn könnte! Wenn einer, muß Büchner das Verlangen gekannt haben, das Unmögliche zu leisten: den blinden Fleck dieser Kultur sichtbar werden zu lassen. Er umkreist ihn mit seinen Figuren, die er bis an die Grenzen des Sagbaren treibt. Einmal versucht er es mit dem Schrei: als Lucile über dem Tod Camilles den Verstand verliert. Aber »das hilft nichts, es ist noch alles wie sonst«. Eine Dramaturgie des Schreis ist ein Unding für das Theater der mehr oder weniger lösbaren Widersprüche. Was dem Dasein entsprechen würde, ist nicht auf die Bühne zu bringen: auch darauf mußte Büchner stoßen. So schafft er in seiner Dramaturgie des Als-Ob – die er locker mit der alten Dramenstruktur verknüpft, daß die Leute sich gerade noch einbilden können, sie verstünden, was sie sehn –den Raum für jene Sätze, die tonlos, einen Atemzug vor dem Schrei zu sprechen sind: Meine Füße gingen lieber aus der Zeit.

Rosetta, das ist nun mal ihr Los, haust, sich selbst und Leonce unsichtbar, sprachlos, entwirklicht, gerade in jenem verleugneten, schalltoten, wegmanipulierten Raum, den die Welt, der doch auch sie angehört beim besten Willen nicht wahrnehmen kann. Sie wird definierbar durch das, was sie nicht ist.

Sie läßt sich um ihre Geschichte bringen. Läßt sich die Seele absprechen. Den Verstand. Das Menschsein. Die Verantwortung für sich selbst. Läßt sich verheiraten. Dient dem Mann. Schenkt ihm Erben. Muß ihm glauben, daß die Lust, die er genießt, ihr leider ein- für allemal versagt ist. Sie verbirgt ihr Unglück. Tanzt. Hört seinen Vorwurf: Ich möchte schlafen, aber du mußt tanzen.

Rosetta läßt sich ihr Recht nehmen. Den Mund verbieten. Die Trauer. Die Freude. Die Liebe. Die Arbeit. Die Kunst. Sie läßt sich vergewaltigen. Prostituieren. Einsperren. Verrückt machen. Läßt sich, als Rose, schinden, ausbeuten: »doppelt«, heißt es. Läßt sich zwingen, Kinder zu gebären. Läßt sich zwingen, Kinder abzutreiben. Läßt sich ihr Geschlecht weganalysieren. Verfängt sich in den Netzen der Ohnmacht. Wird die Nervensäge. Das Luder. Der Vamp. Das Heimchen. Geht, als Nora, aus dem Puppenheim.

Endlich, da heißt sie Rosa, beginnt sie zu kämpfen. Da wird sie totgeschlagen, in den Kanal geschmissen. Verfolgt, ist sie gleichberechtigt mit dem unterdrückten und verfolgten Mann.

Tanze, Rosetta. Sie tanzt: Jetzt heißt sie Marlene. – Lachen soll ich? Schön, dann lach ich. / Tanzen soll ich? Gut, das mach ich. / Soll ich euch den Kopf verdrehn? Bitteschön! Gern geschehn.

Ein sonderbares Ding um die Liebe. Rosetta unter ihren vielen Namen läßt sich eher zugrunde richten, als daß sie sich zugeben könnte, was ihr geschieht: Daß, wenn der denkende Leonce »Subjekt« sagt, niemals sie, die wirkliche Frau, gemeint ist. Daß sie ihm unter die Objekte geraten ist. Daß er also...

Hier hält sie ein. Reißt sich nicht um die letzte Einsicht. Verleugnet sich lieber. Unterdrückt ihr Talent. Unterstützt, unter vielen Namen, deren einige Ihnen geläufig sein werden, das Genie des denkenden, dichtenden, malenden Mannes. – Du liebst mich, Leonce? – Ei, warum nicht ? – Da kann sie sonderbar werden, auch hart, eifersüchtig, bitter. Schreit auf, schreit ihn an. Wird hysterisch. Fängt zu trinken an. Dreht den Gashahn auf.

Nach den Kriegen, als sie sich in seiner Produktions- und Vernichtungsmaschinerie bewährt, als sie den Mann ersetzt hat, erfährt sie als äußerstes Zugeständnis: Sie sei wie er. Dies wird sie ihm nun beweisen. Sie arbeitet wie ein Mann, das ist der Fortschritt. Und es ist ein Fortschritt. Steht Tag und Nacht neben ihm an der Maschine. Sitzt neben ihm im Hörsaal, an Beratungs- und Vorstandstischen (dort natürlich in der Minderzahl). Schreibt, malt, dichtet wie er – fast wie er: Da gibt es die ersten feinen Risse, die man ihrer Überempfindlichkeit zugute schreibt; oder auch nicht. Einigermaßen hält sie sich an die Denk- und Sehraster, die er ausgebildet hat. An die Formen, in die er sein Weltgefühl, auch seinen Weltschmerz faßt. So tritt sie aus dem blinden Fleck. Wird entdeckt. Druckwürdig. Kritikwürdig. Ein »Talent«. Ein Name. Unter Umständen preiswürdig.

Wird man ihr ihre zwiespältigen Gefühle glauben? Hat sie selbst doch lange gebraucht, sich zu begreifen: Warum ihr immer noch so fremd zumute ist; warum die Empfindung nicht nachläßt, daß in Lob und Tadel nicht sie gemeint ist, sondern immer noch die andre, das falsche Bild von ihr, die Neben-Frau. Und daß von ihr noch kaum die Rede war.

Paradoxerweise – ja: mit ihrem Eintritt in die Zitadelle unterliegt sie auch deren Gesetzen! – paradoxerweise hat sie der Verkennung selber Vorschub leisten müssen. Um frei zu werden, ist sie neue Verstrickungen eingegangen. Um zu sich selbst zu kommen, wurden ihr neue Arten der Selbstverleugnung abverlangt. Sie ist besten Willens gewesen. Hat ihre Hoffnung gesetzt in das wissenschaftliche Zeitalter. Hat seiner Rationalität vertraut und sieht sich dem Irrationalismus ausgeliefert, in den es sich geflüchtet hat und den es durch Gutachten der Wissenschaften unangreifbar macht. Nie, gesteht sie sich nun, niemals ist die Zeit nach dem Takt ihrer Füße gegangen. Doch auf eine merkwürdig insistierende, manchmal schon unheimliche Weise ist sie jetzt bereit, ernst mit sich zu machen. Da stößt sie auf Widerstand.

Bisher hat man sie ja, überall, wo es ernst wurde, vorsorglich mit diesem Ernst verschont. Hat sie nicht behelligt mit der Konstruktion von Waffen-, Über- und Superwaffensystemen, die dem altmodischen einzelnen Tod das Handwerk legen und in den Phantasien nuklearer Planungsstäbe jeden von uns schon sieben-, acht-, zwanzigmal zerstrahlt, zerascht, zerstäubt haben. In den geheimen Sinn der weltumspannenden militärischen, wirtschaftlichen und politischen Strategien hat man sie – Rosetta unter ihren vielen Namen – nicht weiter eingeweiht. Sie sieht den Erhalter des Gleichgewichts des Schreckens abends ausgelaugt vor dem Fernseher sitzen, den Planer wirtschaftlichen Mißwachstums dem Herzinfarkt zutreiben, den Umverteiler des Hungers in der Welt erschöpft zur Flasche greifen. Sie arbeiten nicht nur sich zu Tode. Tanze, Rosetta, tanze.

Nun aber – zugegeben: spät, zu spät vielleicht – erhebt sie ihre Stimme Fragt: Meine Herren. Freunde. Kollegen. Genossen: Meinen Sie nicht meint ihr nicht, selbst für leichte Füße wird der Boden mittlerweile etwas dünn?

So hätte sie nicht sprechen dürfen. Nun ist sie wirklich undankbar geworden. Tanzt aus der Reihe. Läßt sich aus dem Netz Ihrer Ohnmacht fallen – als sei dies eine Vergnügungsreise, die sie auch hätte unterlassen können! –, dessen Maschen doch so fein geknüpft waren, aus einem Stoff, wie Träume sind: Die Alpträume entfremdeten Denkens.

Die Angst, die jetzt einsetzt.

Ihre und seine Angst; denn nun teilen sie das schreckliche Geheimnis, das Tabu der Tabus: Daß Leonce unter seinen vielen Namen nicht lieben, daß er nur noch Totes lieben kann. (Schöne Leiche, du ruhst so lieblich auf dem schwarzen Bahrtuch der Nacht, daß die Natur das Leben haßt und sich in den Tod verliebt.) Bleibt also ihr, Rosetta unter ihren vielen Namen, nur die Wahl, in den toten Raum zurückgedrängt oder ihm gleich zu werden? Steigert nicht jeder Schritt, den sie zu ihrer Befreiung tut, seine Angst, also seine Abwehr? Soll nun etwa sie sich verschanzen und aus der Zitadelle ihrer Vernunft heraus »mit der Kanone der Wahrheit« schießen? Ihn als ihren Feind ansehen, den es zu »zermalmen« gilt? Und: Sich gemeinsam, sich gegenseitig zur Vernunft zu bringen – das gäbe es nicht? Sie beide, an das gleiche Paradox geschmiedet, wären nicht imstande, einen einzigen richtigen Schritt aufeinander zu tun? Auch dieser historische Augenblick wäre vertan?

Da klopft, besonders nachts, doch wieder laut, sehr laut, der alte Takt: Meine Füße gingen lieber aus der Zeit. Da kommen, unter der Bewußtseinsschwelle, wo die Dauerbedrohung einen Daueralarm auslöst und unaufhörlich nach lebbaren Alternativen sucht, Phantasien in Bewegung – gespeist auch aus der Gewissensnot desjenigen, derjenigen, der oder die schreiben muß. Schreiben auf diesem hauchdünnen Boden? Nicht mehr »auf Hoffnung«, nur noch auf den »Ernstfall« hin?

»Nichts mehr gefällt mir«, beginnt das letzte Gedicht der Ingeborg Bachmann.

»Soll ich

eine Metapher ausstaffieren mit einer Mandelblüte?

....

Soll ich

einen Gedanken gefangennehmen,

abführen in eine erleuchtete Satzzelle?

Aug und Ohr verköstigen mit Worthappen erster Güte?

Das Gedicht endet:

(Soll doch. Sollen die andern.)

Mein Teil, es soll verloren gehen.«

Das ist Sprache jenseits des Glaubens, aber Sprache doch auch. Mit einer Metapher wird den Metaphern entsagt, erster Güte sind die Zeilen, die sich lossagen von den Worthappen erster Güte. Das Gedicht, das die Kunst aufgibt, muß paradoxerweise ein Kunstwerk sein. Alle, beinahe alle Produkte dieses Zeitalters tragen den Keim der Selbstzerstörung in sich oder doch wenigstens in dem ihnen zuerfundenen Gegen-Produkt. Kunst kann sich als Kunst, Literatur sich als Literatur nicht selbst aufheben. Eine, die sich ganz ausdrückt, entledigt sich ihrer nicht: Der Entledigungswunsch bleibt als Zeugnis stehn. Ihr Teil wird nicht verloren gehen.

Bücher können brennen: Die Lehre sitzt tief. Doch die an sich selbst verzweifelnde, ihrer selbst überdrüssige Literatur muß – Selbstverzweiflung, Selbstekel aufhebend – bleiben. Wenn sie nicht ausfällt, indem ihre Autoren weggehn: in ein andres Land, in einen andern Beruf, einen andern Namen, in eine Krankheit, den Wahnsinn, den Tod – alles Metaphern für Schweigen, wenn es Schriftstellern widerfährt: Zum Schweigen gebracht werden. Schweigen wollen. Schweigen müssen. Endlich schweigen dürfen.

Aber – vor diesem Aber hat man sich eine lange Pause zu denken, deren Farbe, falls sie eine Farbe hätte, schwarz wäre –: Wenn die drei Sprachen, die Büchner noch unter Überanspannung von Körper und Geist in seiner Person zusammenhielt – die Sprachen von Politik, Wissenschaft und Literatur – inzwischen unrettbar weit voneinander weggetrieben sind: Die Sprache der Literatur scheint es merkwürdigerweise zu sein, die der Wirklichkeit des Menschen heute am nächsten kommt; die den Menschen am besten kennt, wie immer Statistiken, Zahlenspiegel, Normierungs- und Leistungstabellen dagegen angehn mögen. Vielleicht weil immer moralischer Mut des Autors – der zur Selbstkenntnis – in Literatur eingeht. Vielleicht, weil Übereinkünfte in ihr festgeschrieben sind, die – mühselig genug, gefährdet genug und immer wieder verletzt – doch über die Jahrhunderte hin jenes Gewebe schufen, das wir »Gesittung« nennen. Unser Befremden vor diesem überholten Wort mag uns bewußt machen wie bedroht der Bestand dessen ist, wofür es steht. Und doch hat dieses Wort, anders als die Termini von Politik und Wissenschaft, einen Hof, eine Aura, so wie die zufällig in mir auftauchenden Wörter »Frieden«, »Mond« »Stadt«, »Wiese«, »Leben«, »Tod«. Wollen wir sie wirklich fallen lassen? An ihre Stelle die Begriffe »nukleares Patt«, »Erdsatellit«, »Siedlungsgroßraum«, »Grünland«, »Bewegungsform der Materie« und »Exitus« setzen?

Die Naturwissenschaftler haben ihre Erfindungen mit Hilfe einer Spezialsprache vor ihren eignen Gefühlen in Sicherheit gebracht; scheinlogische Sprachkonstruktionen stützen die fixe Idee von Politikern, die Rettung der Menschheit liege in der Möglichkeit, sie mehrfach zu vernichten.

Literatur heute muß Friedensforschung sein.

Es schreibt sich nicht leichter, seit wir wissen, daß unsere beiden Länder, die einmal »Deutschland« hießen und diesen Namen verwirkten, als sie ihn durch Auschwitz verdarben – daß das Land zu beiden Seiten der Elbe im Fall der »Atomaren Auseinandersetzung« als eines der ersten ausgelöscht sein würde. Es wird wohl schon Landkarten geben, welche die Phasen dieser Auslöschung aufgezeichnet haben. Kassandra, denke ich mir, muß Troja mehr geliebt haben als sich selbst, als sie es wagte, ihren Landsleuten den Untergang ihrer Stadt zu prophezeien. Sind vielleicht, frage ich mich, diese beiden Länder von ihren Bewohnern nicht genug geliebt worden und neigen dazu – wie ein Mensch, der nicht geliebt wurde und daher nicht lieben kann – sich und andre zu zerstören? Dies frage ich, um mir heftig zu widersprechen, und als Beweis des Gegenteils nehme ich, wie absurd es scheinen mag, die Literatur. Es genügte nicht, ich weiß es, hätte ein Volk Heimat nur in seiner Literatur. Und doch, schlage ich vor – wie die Lage ist, sollte jeder, auch der abwegigste Vorschlag erlaubt sein –: Soll doch jener Todeskarte die Literatur ihre eigne Karte entgegenhalten dürfen. Soll, was sie an Ort- und Landschaften, an menschlichen Zusammenhängen genau, gerecht und parteiisch, schmerzvoll, kritisch, hingebungsvoll, angstvoll und freudig, ironisch, aufsässig und liebend beschrieb, von jener Todeskarte getilgt werden und für gerettet gelten. Soll endlich einmal die Literatur der Deutschen nicht folgenlos bleiben; soll, was in den beiden deutschen Staaten die Literatur über drei Jahrzehnte lang an Trauer- und Freudenarbeit geleistet, soll die »Wahrheit des Diesseits«, der sie sich gestellt hat, doch einmal zu Buche schlagen und den beiden Ländern zugute kommen. Soll Literatur endlich einmal, dieses eine Mal, beim Wort genommen und herangezogen werden, um sichern zu helfen den Bestand des Irdischen.

Heller Wahnsinn, sagen Sie. Nun gut. So fehlt mir – in der Sprache der Psychiatrie – die Krankheitseinsicht, und ich gebe mich diesem hellen Wahnsinn hin, um nicht der finsteren Seite der Vernunft anheimzufallen. Vielleicht mag es wirklich einem Generalstab schwerer werden, über einer Stadt das Kreuz zu machen, die innig und genau beschrieben wurde, als über einer, die keiner kennt. Die niemandem so nahe ging, daß er sie als seine Kindheitsstadt, als Stätte seiner Demütigung oder seiner ersten Liebe beschreiben mußte.

Nun lächeln Sie über meine Naivität. Über meine Unvernunft. Erschien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten, heißt es bei Büchner über Lenz. Er tat alles, wie es die andern taten; es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen, sein Dasein war ihm eine notwendige Last.

Auch in jenem Land jenseits des Glaubens, gerade dort, wird, wenn auch leise, gesprochen werden. Ein Gespräch über Bäume, über Wasser Erde Himmel Mensch – ein Versuch, der mir realistischer vorkommt als die strikt wahnwitzige Spekulation auf den Weltuntergang. Nachdem die Wahrheit, die das Wort »verkehrt« enthält, nach allen Seiten hin untersucht wäre, würden wohl andere Worte auftauchen, die wir nicht prahlerisch, sondern behutsam in den Mund nehmen wollten. Wüßten wir doch: Keines von ihnen, auch das redlichste nicht, wäre das letzte Wort. Hofften: Keines wäre das letzte Wort.

Auch diese Haut wird abgezogen werden und in Fetzen gehn.