Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Peter Rühmkorf

Schriftsteller und Kritiker
Geboren 25.10.1929
Gestorben 8.6.2008
Mitglied seit 1977
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Dieser Autor hat jede Zeile, auch jede Gedichtzeile, ›im Vollbesitz seiner Zweifel‹ geschrieben...

Jurymitglieder
Präsident: Präsident Peter de Mendelssohn
Vizepräsidenten Karl Krolow, Horst Rüdiger, Dolf Sternberger, Beisitzer Horst Bienek, Walter Helmut Fritz, Rudolf Hagelstange, Geno Hartlaub, Wolfgang Weyrauch, Beisitzer Gerhard Storz

Meine sehr geehrten Damen und Herren, verehrte Herren Präsidenten des Bundes und der Akademie,
die »Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung« hat mich mit einer Auszeichnung bedacht, die den Namen des hervorragenden Kunstkritikers, Rezensenten und Naturerforschers Johann Heinrich Merck trägt, und ich darf wohl annehmen, daß die Inanspruchnahme eines Preispatrons hier mit mehr Sinn und Verstand verbunden ist als bei sonstigen Geisterzitationen: Kleist-Stübchen etwa oder Walther-von-der-Vogelweide-Diskotheken, zu denken aber auch an die bekannten Schillerlocken, Dante-Öle oder Puschkin-Wässerchen. Nehme ich die namentliche Preisbindung so ernst, wie sie vermutlich gemeint ist, und versuche darüber hinaus, gewissen Wesensverwandtschaften zwischen Namensspender und Preisempfänger nachzusinnen, dann zeichnen sich sogleich gewisse Sympathiegeflechte ab, nicht bloß aus aktuellem Anlaß zurechtgefädelte, sondern längst vorgrundierte, und sie beziehen sich sowohl auf den bewunderten Paläontologen (auch ich suchte einmal nach Backenzähnen des »rosenfressenden Nashorns am Rande des Eem-Meers«, einem nahen Verwandten jenes Ihnen allen vertrauten »Rhinozeros Mercki«) – beziehen sich also auf den knochensortierenden Wissenschaftler so gut wie auf den eigensinnigen Scheidemeister und Wertermittler im Flatterreich der Belli arti und der Belletristik. Dabei waren die besonderen Zergliederungskünste des Johann Heinrich Merck gewiß alles andere als gerade zünftige. Seine Betrachtungswinkel wurden selten durch herrschende Strömungen vorgegeben, sondern stellten sich dar als im edelsten Sinne höchstpersönliche. Seine Ansichten über Malerei und Dichtkunst teilten die seinerzeit zeitgenössischen meist nur insofern, als sie sie kritisch zerteilten. Seine Korrekturstriche, mit denen er die laufende Szene begleitete, waren oft genug Gertenstreiche, zu denken etwa an sein galliges Aperçu über das geistige »Deutschland, wo man nicht glaubt, daß etwas zur Fruchtbarkeit des Landes beitragen könne, das nicht zugleich in der Gestalt von Mist auftaucht«. Und es trifft aufs Haar auch die Qualität und so das Schicksal seiner eigenen Feinstironien, wenn er über Ironie im allgemeinen schrieb, sie sei »eine Pflanze, die bei uns noch immer so wenig gedeihen will, als die Teestaude in Schweden«.
Da es allerdings läßlich wäre, sich nur mit den ansprechenden Zügen eines Namenstifters identifizieren zu wollen und die widrigen, unangenehm und unsympathischen auszusparen, möchte ich an dieser Stelle Anspruch auch auf die weniger gefälligen Charakterscharten des Johann Heinrich Merck erheben. Wie Sie wissen, war der durch viele bestechende Gaben ausgezeichnete Mann gleichwohl ein rechter Stichling und Nörgelfranz, dessen Krittelsucht die direkten Zeitgenossen lieber aus der Ferne genossen als im persönlichen Umgang. Dennoch scheint es mir unbillig, von den mehrerlei Seiten eines plastischen Vorbilds nur die ansehnlichen auf sich selbst zu beziehen; und wo ich mich bereits so innig auf mein Identifikationsmodell eingelassen habe, daß ich fast schon nicht mehr herauskomme, erkläre ich mich bereit, nun auch den Makel des bösen Mäkelzwanges auf mich zu nehmen. Er betrifft – was Wunder bei solchen magischen Ineinssetzungen und Annäherungsversuchen – freilich nicht zuvörderst das Wesen und Weben des Kulturlebens allgemein, er betrifft die Rolle selbst, in die ich mich allzu willfährig zu fügen beginne, und je zutraulicher ich mich in sie vertiefe, um so aufreizender beginnt mir das Fell zu jucken, gerade so, als hätte man mich in einen etwas zu eng geratenen Leihanzug gesteckt. Mit anderen Worten: ein Gefühl der Unpäßlichkeit macht sich breit. Mit nochmals anderen: was der eine seine Persönlichkeit nennt mit ihren durchaus eigentümlichen Ecken und Zacken und Ausbeulungen und Einbuchtungen, vermag sich zwar bis zu einem gewissen Grade in den Persönlichkeitsverkantungen eines Vorgängers zu erkennen, irgendwo ist dann aber auch Schluß mit den Spiegeltricks, und der Nachfolger hat sich ernstlich zu überlegen, wo das Vorbild aufhört und das eigene Wesen anfängt. Jenes endet und endete dort, so wage ich zu behaupten, wo dieses erst richtig loslegt.
Hören wir noch einmal Merck: »Die Ausübung war vor der Theorie« (so schreibt der bis an den Rand der Selbstverleugnung reflektierende Theoretiker), »und sobald diese ausgebildet war, verlosch jene.« Ein heikler Gedanke für den, dem er in den Sinn kam, durch dessen Kopf er fuhr. Es ist ja kein Geheimnis, daß Johann Heinrich Merck, der sich ständig im Widerspruchsfeld zwischen Kunsttheorie und Kunstproduktion bewegte und dessen Anforderungen an die Schöpfung sich an höchsten Wertmaßstäben orientierten, eben diesen idealischen Rangvorstellungen praktisch nicht nachzukommen vermochte und daß er sich, unter dem Ansturm quälender Selbstbezweiflungen, mit 49 Jahren erschoß. Ich bin, meine Damen und Herren, heute 47 Jahre alt, ich habe mich mein ganzes literarisches Leben lang sei es mit den unüberbrückbaren Antagonismen, sei es mit den heimlichen dialektischen Verklammerungen von Produktion und Programmatik, Aufklärung und Ausdruck, Theorie und Darstellung beschäftigt, und ich kenne die tiefgehenden Selbstentzweiungen, denen ein einerseits produzierender, andrerseits reflektierender Geist sich auszusetzen hat, aber diesen Schuß-da ziehe ich mir nicht zu. Lieber möchte ich Ihnen, wo gerade noch ein wenig Platz ist, mit einigen Gedanken über das gespannte Verhältnis von Schöpfungslust und Scheidesucht nahetreten und Ihnen, nebenbei, auch etwas von den Verlegenheiten eines Poeten mitteilen, der mit dem hier preisgekrönten Prosaaufklärer immerhin in einer Art von Wohngemeinschaft lebt. Bedauert es der Lyriker, daß nicht ihm die Palme oder, meinetwegen, der Apfel des Paris zuerteilt worden ist? Von mir-hier aus gesehen, möchte ich eigentlich sagen: es besteht kein Anlaß zur Aufregung. Sie wollen ja doch bitte bedenken, daß der Bruch bei uns zuhause sich etwas anders ausnimmt als bei dem unglückseligen Merck, insofern nämlich der angekränkelte oder doch labile Teil eines dividierten Individuums, als nämlich der zu allerlei lebensbedrohlichen Eskapaden neigende Poet immer noch diesen getreuen Eckhart und Impresario an seiner Seite hat, der sich mal kritischer Essayist, mal Rezensent, mal Aufklär- und Entlüftungstechniker nennt und der in allen Krisensituationen hilfreich in die Bresche springt. Ohne den im Augenblick Belobigten über Gebühr gegen den durch Nichtvorhandensein glänzenden Depressionsartisten ausspielen zu wollen – festzuhalten bleibt dennoch, daß jener Poet von sich allein aus überhaupt nicht lebensfähig wäre und daß dessen extravagante Luftsprünge und introvagante Höllenstürze erst durch die vergleichsweise anspruchslosen Tätigkeiten des nennen wir ihn jetzt einmal einfach Schreibmaschinisten ermöglicht werden. Mißgunst von Seiten der Poesie, die sich trotz allem für die eigentliche und wesentliche Produktivkraft hält, scheint mir jedenfalls nicht angebracht. Nehmen wir nur einmal ein Beispiel aus der Praxis. So an die drei Jahre etwa veranschlagt der Poet für die Erstellung eines Lyrikbuches oder, richtiger, -bändchens, das die erheblichen Aufwendungen an Zeit und Lebenskraft allgemein nicht im entferntesten wieder einspielt, und für deren Abgeltung letzten Endes kein Gott, Verleger und Tribun aufkommen. Wer aber denn sonst? Kunststück, meine Herrschaften, Kunststücke, die sich natürlich wunderbar leicht als gottgesandt und schaumgeboren alterieren können, wenn einfach verschwiegen wird, daß nebenbei noch eine andere Schreibkraft tätig ist, die sich mit Nutzprosen hier und Gebrauchstexten dort um das einfache tägliche Brot sorgt. Um das tägliche Brot auch für jenen Tagedieb von Selbstdarsteller, der selbst seine Verhaltensstörungen noch für ausdruckswürdig erachtet und seine höchst subjektiven Anfälle und Ausschläge für einen objektiven Zeitanzeiger hält.
Dank Ihnen also, meine Damen und Herren Juroren, daß Sie in diesem Fall einmal für die Ordentlichkeit und Tüchtigkeit und für das weltzugewandte Tätigsein einer Person votiert haben, genauer gesagt, für einer komplexen Persönlichkeit stillen Teilhaber, der sich zu lange schon vor den Prioritätsansprüchen und Erstgeburtsphantasien der Poesie verneigen mußte. Halten Sie mich bitte nicht für larmoyant, wenn ich diese an sich internen Persönlichkeitsspaltungen vor Ihnen ausbreite – es sind vielleicht gar nicht bloß private. Ist es nicht häufig so, daß das, was unser aufgeklärter und auf weitere Aufklärung hinwirkender Verstand sich an Weltensinn erarbeitet, von diesem poetischen Irrwisch in uns infrage gestellt und, vollkommen vernunftwidrig, aus der Wucht gebracht wird? Ist es nicht öfter an der Tagesordnung, als wir uns eingestehen, daß wir auf der einen Seite eine sehr wohl systematisch verunklärte Gesellschaft zu entnebeln und zu drainieren trachten, und etwas in uns geht um wie der schlimmste Auswuchs des Systems persönlich, und es stellt diese Mißbildungen sogar noch auf öffentlichen Bühnen aus?! Es ist ja beinah noch ärger. Scheinbar untröstlich Melancholien, beziehungsweise prinzipiell verantwortungslose Rauschzustände beginnen gelegentlich den für uns wichtigen gesellschaftlichen Landgewinn nach links infrage zu stellen und sich, wenn im kleineren Kreise, als das eigentliche Ich aufzuspielen.
Seien wir dennoch nicht illiberal, nein, seien wir edleres. Räumen wir zur Feier des Tages großzügig ein, daß wir uns aus gegebenem Anlaß in erörternder Prosa bewegen und daß wir diesen taktischen Vorteil nicht gegen einen abwesend Beteiligten ausmünzen wollen. Der Poet, naja, seine närrischen Hochfahrenheiten und seine jeremianischen Hypochondrien sind doch wohl bloß etwas verdrehte Kompensationen sozialer Unsicherheiten. Und was wir an der unsoliden Erscheinung als, eben, bodenlos empfinden, hängt schon mit ihrer wackligen ökonomischen Basis zusammen. So möchte ich Ihnen, möchte ich uns vielleicht sogar den erweiterten Vorschlag machen dürfen, einen alt-unseligen Familienzwist von uns aus zu befrieden und – tolerant noch gegenüber absonderlichsten Minoritäten – den materiellen Teil der mir zugedachten Ehren an diesen meinen Antipoden weiterzuleiten. Möglich, daß aus dem verbiesterten Desperado doch noch mal ein gesellschaftsfähiger Jemand wie Sie und ich wird. Möglich freilich auch, daß Mister Hyde in seiner Unterwelt vertut, was Doktor Jeckyll in dessen soziale Rehabilitation investiert.
Ich danke noch einmal höflich für die Medaille mit ihren zwei Seiten – auch im Sinne des mir Schutzbefohlenen Daheimgebliebenen.