Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Marie Luise Knott

Essayistin und Kritikerin
Geboren 11.8.1953

Mit analytischer Kraft und durch die Kunst minutiöser Lektüre legen ihre Kritiken und Essays Erfahrungen der Krise, Gewalt und Migration frei.

Jurymitglieder
Ingo Schulze, Rita Franceschini, Olga Martynova, Lothar Müller, Lukas Bärfuss, Maja Haderlap, Felicitas Hoppe, Joachim Kalka, Daniela Strigl, Michael Walter

Ungebetene Gäste

"Fliege mit Tränen wäre eine Sensation"
Friederike Mayröcker

I

Einer meiner Spitznamen in der Kindheit lautete Spinne. Vielleicht hege ich deswegen eine gewisse Faszination für Fliegen, genauer: für das, was sie so lästig macht. Fliegen kommen immer ungerufen. Wie Fragen. Sie sind Störenfriede, ungebetene Gäste, penetrant und wehrlos zugleich. Wie Fragen kann man auch Fliegen nur schwer verscheuchen, sind sie erst einmal da. Manche Menschen stellen grelle Scheinwerfer auf, um die Tiere in ihren Flugrouten zu manipulieren, sie auf Abwege zu lotsen. Doch Fliegen sind hartnäckig bei der Sache. Und noch etwas haben sie mit Fragen gemein: sie verderben gern den Brei.

Schon so manches Mal habe ich mich gefragt: Was wissen Fliegen voneinander? Sprechen sie miteinander, sprechen sie sich ab? Die Bahnen, die sie ziehen, sind unberechenbar, Kehrtwendungen inklusive. Wie nur gelingt es ihnen, mal seelenruhig, mal hektisch immer ihrer Wege zu ziehen, meist ohne sich oder einander je zu stoßen? Offensichtlich besitzen diese Tiere spezielle Sensorien, mit denen sie sich Luftbewegungen zunutze machen, die wir nicht einmal erahnen. Eine Verdichtung. Doch jedes Sich-Niederlassen, jedes Sich-Einrichten ist ihnen lebensgefährlich. Menschenhand, Kuhschwanzpeitsche, Leimpapier.

Apropos Leim. Kürzlich dachte ich an die Stube in jenem Bauernhof zurück, wo ich in meiner Kindheit einen Sommer verbrachte. Über dem Tisch an der Lampe hing eine dieser süßlich duftenden Leimpapierschlangen. Und so sehr ich nicht wahrhaben wollte, was darauf geschah: es geschah. Und ich lebte im Bann dieses Geschehens, selbst draußen bei den Kühen. Später las ich irgendwo den Satz: "Am Morgen danke ich meinen Augen dafür, dass sie mich vieles nicht sehen lassen." Meine halten sich nicht immer daran.

Vielleicht weil man sie anders als den Fuchs im Kleinen Prinzen nicht zähmen kann, sind Fliegen immer wieder Gegenstand existenziellen Kopfzerbrechens. Hier drei Beispiele:

Bei Ludwig Wittgensteingeben sie einem zentralen Dilemma Gestalt: Der Mensch, das sprachbegabte Wesen, steckt trotz aller Aufklärung immer noch im Fliegenglas der Sprache. Ein "Durchstich" der Sprache zu den seelischen Vorgängen und Zuständen will nicht gelingen. Nicht seiner Fliege, und nicht uns. Ein Drama.

Bei Ilya Kabakov setzen Fliegen das Nachdenken über den Sowjetmenschen ins Bild. Kabakov hat ganze Fliegenpopulationen erfunden, die lauter aus der Luft gefischte Allgemeinplätze und sprachliche Fertigbauteile in den Raum stellen. Sind wir tatsächlichalle vom Wirbel irgendwelcher Sprachreservoirs geschüttelte Fliegenleiber?

Der dritte, René Char, französischer Dichter und Résistance-Kämpfer, erfand inmitten finsterster Zeiten eine Fliege, um zu zeigen, dass es den Nazis mit all ihrem Terror nicht gelingen würde, die Hoffnung auf ein zukünftiges Miteinander aller Geschöpfe zu vernichten. Einer von Chars Aphorismen lautet: “Zwischen zwei Schüssen, die sein Schicksal besiegelten, fand er Zeit, eine Fliege mit `Madame` anzureden." Madame Mouche. Wir sehen, meine Damen und Herren: Wir müssen uns in Fliegenkunde schulen – in ihrer Kunst, niemanden in Ruhe und nichts auf sich beruhen zu lassen.

II

In meiner Zeit als Lektorin im Rotbuch-Verlag Anfang der 1980er Jahre hatte ich mir in den Kopf gesetzt, mich mit allen verlegerischen Möglichkeiten nur für Bücher einzusetzen, die so manchem Mainstream den Brei verdarben, etwa Anne Dudens "Übergang", Herta Müllers "Niederungen", Irene Böhmes "Die da drüben"oder die von Götz Aly initiierten "Beiträge zur NS-Gesundheits- und Sozialpolitik".

Dass ich irgendwann selbst zu schreiben begann, verdanke ich einer konkreten Begegnung. Einer Lesenden. Noch als Lektorin stieß ich in einer abgelegenen Zeitschrift auf einen Essay von Hannah Arendt. "Besuch in Deutschland. 1950". Gleich mit dem ersten Satz war mir mein Nachkriegskindheitsbrei verdorben. Ich las: "In weniger als sechs Jahren zerstörte Deutschland das moralische Gefüge der westlichen Welt." Und dennoch, so hieß es weiter, werde dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken nirgends weniger verspürt und nirgends werde weniger darüber gesprochen als in ebendiesem Deutschland. Das war 1950.

Plötzlich, bei Arendt, sah ich die Bundesrepublik, wie ich sie nie gesehen hatte. Hier kam zur Sprache, wovon nie die Rede gewesen war: wie die Menschen sich die Wirklichkeit vom Leibe hielten, Wirklichkeiten in Möglichkeiten umbogen, Tatsachen in Meinungen verdrehten und ihre Meinungen als Tatsachen ausgaben. Arendt diagnostizierte eine tiefe "moralische Verwirrung" und einen "nihilistischer Relativismus gegenüber den Tatsachen". (Das kommt uns gerade traurig bekannt vor.) Die Menschen, denen sie begegnete, schrieben sich Ansichtskarten von Kirchen und Marktplätzen, die es nicht mehr gab, und taten auch sonst alles, um das, was geschehen war, was sie getan hatten oder was sie hatten geschehen lassen, nicht zu realisieren. Das also war er, der Eiskern jenes verdrucksten Schweigens, in das hinein ich aufgewachsen war.

Ich las wieder und wieder und war erstaunt, wie frei sich Arendt von der Nachkriegswirklichkeit verstören und erschüttern ließ. Diese 1933 aus Deutschland geflohene Jüdin, der sich mit den Todeslagern "der Boden der Tatsachen in einen Abgrund verwandelt" hatte, setzte alle ihre Sinne – Augen, Ohren und Geist – dem Schock aus, dass und wie das alles hatte geschehen können.

Wie, so frage ich mich, kommt man gegen alle gemachten Erfahrungendazu, immer wieder und immer wieder neu seinen Augen zu trauen?Arendt traute den ihren. Sie wollte verstehen, was sie nicht verstand, immer neue Facetten der Wirklichkeit bedenkend. Damals erkannte ich Schreiben als einen Versuch zu verstehen, und Verstehen als die spezifisch menschliche Weise, lebendig zu sein, um sich mit jener Welt zu versöhnen, in die man als Fremde hineingeboren ist. Mein erster Text, das Nachwort zu einer Sammlung von Arendt-Essays ("Zur Zeit") endete prompt mit Kants Aufforderung zum Selberdenken, für das es, wie ich bei Arendt las, keinen Ersatz gibt.

III

Doch noch einmal zurück zu den Fliegen. Es gibt Lieder- und Gedichtzeilen, die bewegen sich immer irgendwo in meinem Hinterkopf. So auch der Refrain aus dem Gedicht "Long-Legged Fly" (Langbeinfliege) von William Butler Yeats. Das Gedicht aus dem Jahr 1938 besingt und besinnt die Stille in sich verfinsternden Zeiten: "Like a long-legged fly upon the stream⁄ Her mind moves upon silence."(Ü: Wie eine Langbeinfliege über das Wasser, so bewegt sich ihr Geist über der Stille.) Warum nur kommen mir diese Zeilen in den Sinn, wenn ich über das Schreiben nachdenke?

Langbeinfliegen haben Facettenaugen. Sie nehmen wahr, was sie nicht gesucht, was sie nicht fokussiert haben. Sie enthierarchisieren, sie pluralisieren den Blick. Facettierte Aufmerksamkeit entschlagwortet und entkorridorisiert das Denken. Doch wichtiger noch fast erscheint mir die Art und Weise, wie Yeats Langbeinfliegen sich bewegen: sie betänzeln die Wasseroberfläche, sie betasten den Strom der Zeit, und jeder Hüpfer weiß – wie der Essay, möchte man sagen – um die Gefahr des Scheiterns, des Ertrinkens. Diese Fliegen bewegen sich kaum über dem Wasser, sie erkunden die Abgründe und sehen dabei auf der spiegelnden Oberfläche gleichzeitig in den Himmel hinein.

"Tu etwas! beruhige den Hund, bring das Pony in Sicherheit, auf dass die Zivilisation nicht untergeht, auch wenn die großen Schlachten verloren sind“, lauten die ersten Zeilen bei Yeats sinngemäß. Tatsächlich war die Zivilisation 1938 schon ziemlich im Untergehen begriffen, und Yeats Fliegen wussten davon. Mit ihren besonderen Sensorien und mit ihrer zwischen Himmel und Wasser schwebenden Tanz- und Tastkunst waren sie offensichtlich empfänglicher als ihre menschlichen Zeitgenossen für die Erschütterungen in der zum Zerreißen gespannten Stille der Vorkriegszeit. Der Fluss, er wusste, was die Menschen nicht wussten.

IV

Theodor Adorno zufolge rangiert der Essay unter den Fremdlingen, den Allotria; noch in der größten Anstrengung widerspiegele er die Muße des Kindlichen. Essays bedienen sich, wo sie können, sie entflammen sich ohne Skrupel an dem, was andere schon getan haben, und sie brechen dort ab, so Adorno, wo sie selbst "am Ende sich fühlen", und nicht dort, wo kein Rest mehr bleibt.

Der Rest, den es nicht und doch gibt, ist bekanntlich beim Schreiben immer mit in Bewegung und bestärkt das Gefühl, frei zu sein. Die Dichterin Anne Carson, meine Gewährsfrau in Sachen Langbeinfliegentanz, redet wiederholt über den Rest: "Dieser Rest, den es nicht gibt – an ihn zu denken, erfrischt mich. An seinen Platz zu denken, daran, wie er diesen seinen Platz mit klatschnassen Schichten des Nichts teilt." Carsons Essays sind in gebundener Sprache verfasst, und weil die Sprache so einen eigenen Zusammenhalt stiftet, können ihre Denkwege "losiger" werden. Leichter. Doch noch etwas andres fasziniert mich an ihrer Art des Schreibens: Ihre Essays sind Versuche, Worte und Gedanken im Schreiben wieder und wieder zu drehen und zu wenden, sodass wir Leser an ihren Erkundungsflügen unmittelbar teilhaben.

Um nicht verrückt zu werden, um den Blick immer neu zu verrücken, liest und denkt Carson mit vielen Gehirnen. So kann viel Ungeahntes in der Sprache mitgetragen und in Bewegung gesetzt werden. Wissenschaft, Alltagsbeobachtungen und Dichtkunst inspirieren einander. In jeder Zeile spürt man, was für ein Angang es ist, beim Schreiben die vielen Scheinwerfer des Erwartbaren und Erwarteten auszublenden und die Wirklichkeit in eigenwilligen Bahnen zu befliegen. Unglaublich, wie ungelenk man beim Schreiben manchmal werden muss, um zur Sprache zu kommen.

Wie wir alle sind auch die Menschen bei Carson der Gewalt gängiger Sprach- und Geschlechterverhältnisse ausgesetzt. Wieder und wieder verfangen sie sich und bekriegen einander, nach Nähe hungernd. Im Mittelpunkt ihres „Glas Essays“ etwa steht die Trauer über eine verflossene Liebe. Ein bekanntes Thema, und doch jedes Mal neu. Auf dem Höhepunkt liegen die beiden Liebenden zwei kurze Zeilen lang auf einem Bett und singen sich Lieder in einer selbsterfundenen Sprache – "wie die Kinder, die sie einmal waren". Eine Sprache, die ganz aus sich heraus spricht und so "unter des Sommerhimmels Herrlichkeit", wie es an einer Stelle heißt, die unerdachtesten Dinge sagen kann – immer in dem Vertrauen, dass das, was wir berühren, uns, auch wenn wir es nicht durchdringen, Auftrieb verschafft fürs Weiterschweben, Weiterdenken und Weiterschreiben.

Mit unendlicher Zartheit betasten Carsons Sprachbeinchen die Gewässer der Wirklichkeit und betänzeln die Stille unser aller Ratlosigkeiten, immer in der Hoffnung, dass es gelingen könnte, der Wahrheit ein wenig näher zu kommen. Dichtung kann das. Und so Carsons Essays.

V

Ich komme zum Schluss. Danken ist denken, ist ein den Begegnungen hinterherdenken. Ich danke den Stiftern sowie dem Namensgeber des Preises, dem Literaten und Kriegsrat Johann-Heinrich Merck, dem ich leider nie begegnet bin. Goethe zufolge war er ein Mensch, "in dessen Umgebung sich Gefühle entwickeln und Gedanken bestimmen". Offensichtlich hatte er starke Positionen, aber die Angewohnheit, zwischen den Zeilen die eigenen Aussagen zu hintertreiben. Insofern fühle ich mich besonders geehrt durch die Auszeichnung der Jury und der Deutschen Akademie. Danke sehr. Vor allem danke ich Cécile Wajsbrot – merci beaucoup! Du weißt: Deine Kunst, Worte zu befragen, Grenzen zu ignorieren und Dich Immer aufs Neue beirren zu lassen, begleitet mich schon viele Jahre. Außerdem danke ich allen meinen Schreib- und Denkgefährt.innen, gerade auch für's stetige Breiverderben. Sie alle sprechen – und sie wissen es – in meinen Texten mit. Nicht zuletzt danke ich meinen Verlegern und Lektorinnen, Andreas Rötzer, Doris Plöschberger, Anja Seliger und Thierry Chervel.

Und noch etwas: Ich gratuliere Karl-Heinz Kohl zum Sigmund-Freud-Preis und Oswald Egger zum Georg-Büchner-Preis. Herzlichen Glückwunsch.