STATUT
§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.
Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.
Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.
§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.
§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.
§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.
Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.
Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021
Literaturkritikerin und Journalistin
Geboren 2.6.1959
Seit vielen Jahren beeindruckt Iris Radisch als Kritikerin und Essayistin durch profunde Kenntnis der deutschsprachigen und internationalen Literatur.
Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Ernst Osterkamp
Vizepräsidenten: Aris Fioretos, Wolfgang Klein, Monika Rinck, Beisitzer: Elisabeth Edl, László Földényi, Michael Hagner, Dea Loher, Ilma Rakusa, Marisa Siguan
Jeder Mensch hat einen Moment, in
dem alles beginnt. Versuche ich herauszufinden,
was es war, das mich dazu gebracht
hat, mein Leben zum allergrößten
Teil lesend zu verbringen und mich
für Romane, Erzählungen und Gedichte
mehr zu interessieren als für die meisten
anderen Dinge auf der Welt – wenn ich also an
den Anfang meines Lebens als Leserin und Literaturkritikerin
zurückkehre, ist dort nicht viel.
Der Zweite Weltkrieg war, als ich geboren wurde,
seit 14 Jahren vorüber. Mein Vater hatte zu Hitlers
letzten Kindersoldaten gehört, das Berliner Elternhaus
meiner Mutter war das einzige, das in der Straße
vom Bombenkrieg verschont geblieben war. In
der Neubauwohnung in der Kreuzberger Otto-Suhr-Siedlung, in die meine Eltern zogen, gab es für sie
zum ersten Mal im Leben fließendes warmes Wasser
und Zentralheizung. Bücher gab es nicht. Bücher
spielten in der auf den Trümmerfeldern errichteten
Siedlung nicht die geringste Rolle. Das lesende Bildungsbürgertum
lebte, kompromittiert und tief
blamiert, im fernen Beverly Hills des Berliner Südwestens,
während das Zentrum der eingemauerten
Stadt, aus der ich komme, von Kriegskindern beherrscht
wurde, die nur ein Notabitur und meiner
Erinnerung nach erhebliche Probleme mit der Beherrschung
und Modellierung ihrer Affekte hatten.
Die ehemaligen Hitlerjungen waren Kettenraucher,
die ehemaligen Hitlermädel verbrachten halbe Tage
mit der Herstellung unendlich komplizierter Hochsteckfrisuren,
die aus dem Ancien Régime zu stammen
schienen. Die Erzählung von der Unfähigkeit
zu trauern und vom besinnungslosen Wohlstandsmaterialismus,
die nachträglich über diese Zeit in
Umlauf kam, trifft die Sache in meinen Augen nicht
richtig. Die Trauer war nicht verdrängt und vergessen.
Sie sprach nur eine andere als die für Traueranlässe
vorgesehene Sprache. Es wurde viel und unkontrolliert
geschrien. Die Nerven lagen blank. Die Otto-Suhr-Siedlung grenzte direkt an die Berliner Mauer.
Keine 500 Meter hinter meinem Kinderzimmer galt
der Schießbefehl. Aus dem Fenster unserer Wohnung
konnte man den Todesstreifen beobachten, auf dem
irgendjemand jeden Tag auf einer Leine frische Wäsche
aufhängte, die im Wind flatterte. Man ist für
immer ein Kind seiner Zeit. Ich bin davon überzeugt,
dass meine spätere Hinwendung zur Pariser Theorie
von der Absurdität des Daseins auch etwas mit diesem
Wohnzimmerausblick zu tun hat.
Wenn ich also zu erforschen versuche, warum die
Literatur für mich und viele andere der Kriegsenkel-Boomer so viel bedeutet, lande ich nicht in den gut
gefüllten Buchregalen eines kunstsinnigen deutschen
Nachkriegshaushaltes. Meine Liebe zur Literatur kam
nicht aus der Literatur, was vielleicht gar keine großartige
Erkenntnis ist, denn wer lässt sich schon mit
Büchern zu Büchern bekehren. Ich glaube, es war in
meinem Fall eher so, dass ich gar nicht zur Literatur
bekehrt werden musste, weil die – und jetzt kommt
ein Wort von Wilhelm Genazino, in dem ich mein
frühestes Lebensgefühl gut (und vielleicht sogar ein
bisschen zu gut) unterbringen kann –, weil die Gesamtmerkwürdigkeit
des Daseins in der deutschen
Frontstadt bereits literarisches Urmaterial war, hochprozentige
atmosphärische Absurdität, die überall zu
spüren war und sich in der Stille der wild wuchernden
Unkrautfelder unmittelbar vor der Mauer nur noch
einmal verdichtete.
Als ich später las, wie Albert Camus im Mythos des
Sisyphos das Einbrechen des Absurden in das Leben
beschrieben hat, kam mir das vollkommen vertraut
vor. Man steht auf, man trinkt Kaffee, duscht, liest die
Zeitung, fährt zur Arbeit, und plötzlich sieht man sich
dabei zu und versteht nicht mehr, warum man tut,
was man tut. Das Nachdenken beginnt in diesem Fall
nicht mit dem Eintauchen in die majestätische Tradition
kultureller Kostbarkeiten, sondern mit dem
Staunen über ihre Sinnlosigkeit. Der absurde Mensch
rechnet nicht mit der Zukunft, sondern mit dem Tod.
Er betrachtet jeden langweiligen Tag, jeden banalen
Nachmittag am Wohnzimmerfenster mit dem Blick
auf die flatternde Wäsche im Todesstreifen, als wäre
es sein letzter, und kann sich über dessen Kläglichkeit
nicht hinwegtrösten im urchristlichen Vertrauen
darauf, dass man für alles irgendwann entschädigt
wird: Das richtige Leben beginnt, wenn ich endlich
reich bin, Ferien
habe, in Rente gehe. Oder, falls auch
das wieder nicht klappt: wenn ich in den
Himmel komme.
Der Ursprung des Schreibens und des
Lesens und vielleicht auch des Schreibens
über Literatur, das mein Beruf wurde, war
also eher ein Fremdheitsgefühl als die Vertrautheit
mit was auch immer. Dieser ästhetische
Existenzialismus wächst sich nie
mehr ganz aus. Bis heute denke ich, dass
Literatur und Poesie nichts ist, was dem
Leben hinzugefügt werden muss, im
Sinne eines erzählenden Überbaus, dessen
Bauleiter sein Expertenwissen mit Fleiß
und Ausdauer in entsprechenden Ausbildungsstätten
erworben hat. Natürlich stehen wir alle auf den Schultern
unserer Vorgänger und Vorgängerinnen, aber
wenn es um meine Vorlieben geht, misstraue ich dem
Poeta doctus, der sich vollmundig als Miteigentümer
des großen abendländischen Kanons in Szene setzt.
In meiner inneren Bibliothek stehen vor allem Autoren
und Autorinnen, die sich dem Staunen anvertraut
haben. Albert Camus, Imre Kertész, Péter Nádas,
Andrzej Stasiuk, Peter Handke, Ilse Aichinger, Friederike
Mayröcker, Ingeborg Bachmann, Sarah Kirsch,
Marguerite
Duras, Nathalie Sarraute,
Ágota Kristóf,
Olga Tokarczuk, Eugène
Ionesco, Sascha Sokolow
und, für mich eine sehr späte Entdeckung, auch der
norwegische Eigenbrötler Dag Solstad.
Es ist nicht zu
übersehen: Die Autoren und Autorinnen dieser inneren
Bibliothek kennen sich bestens aus in den
Schuttbergen des 20. Jahrhunderts und sind umso
mehr bei sich, desto weniger sie sich selbst vertrauen.
Die erhebliche Einseitigkeit dieser Liste
erklärt sich daraus, dass die Avantgarde
für mich und viele meiner Generation
nie nur eine Kunstepoche
unter anderen, sondern so etwas wie
eine unsichere Heimat war, die zu der Zeit passte, in
der die Normalität für uns ihr Normalsein verloren
hatte – eine Erfahrung, die man sicherlich jederzeit
und überall und auch jetzt wieder machen kann. Bis
heute habe ich oft das Gefühl, wenn ich den Leuten
im Zug oder sonst wo zuhöre, als würden die Sprechenden
nicht selbst sprechen, sondern ihren Text
irgendwo ablesen, von einer Texttafel oder einem
inneren Bildschirm, den sie vor Augen haben. Dann
kommt es mir vor, als sei das Gesprochene nicht
selbst erlebt und erdacht, sondern nur zitiert und
wiederholt, so wie eine Schallplattenaufnahme, von
der niemand zu sagen weiß, wann sie stattgefunden
hat und wer damals der Dirigent war. Es war Péter
Nádas, der mir aus der Seele gesprochen hat, als er
in einem seiner Essays schrieb, dass die Leute »nicht
sprechen, wie sie empfinden, sondern empfinden,
wie die gesprochene Sprache es von ihnen erwartet«.
Auch die Essays, die Nathalie Sarraute
nach dem
Zweiten Weltkrieg unter dem Titel Zeitalter des Argwohns
veröffentlichte, waren eine Art Heimkehr zur
Stille und zum Geschrei der Nachkriegskinderwelt:
Sarraute,
eine Jüdin, die den Krieg getarnt als Kindermädchen
ihrer eigenen Kinder in der französischen
Provinz überlebt hatte, erklärte darin, wie
schwer es ihr falle, auf der Wortoberfläche der Vorkriegsliteratur
das Erlebte wiederzufinden, das ihrer
Meinung nach darunter pulsierte. Die opulente
Konversationssprache des großen französischen
Gesellschaftsromans erschien ihr wie
eine allzu ausführlich geratene Grabinschrift,
weil ihr selbstgewisser Ton plötzlich
auf nichts mehr zutraf. Sarraute war
aufbruchsgestimmt und davon überzeugt,
dass die Literatur sich wie die
Malerei aus der Zentralperspektive der
angemaßten Objektivität befreien und
zu einem viel genaueren, subjektiven Stil
finden werde.
Diese Erwartung hat sich aber nicht
erfüllt. Der unpersönliche Kammerton
des Storytellings, der im Bedarfsfall auch
ins Humorige oder Sentimentale umschalten kann,
ist noch immer der Standard des Erzählens. Auch
wenn dieser Ton niemandem aus dem Herzen spricht
und einem nach übermäßigem Genuss das Hirn verstopft
wie die Werbung den Briefkasten, in dem man
die richtige Post kaum findet, gewöhnt man sich mit
der Zeit daran, das zu denken, was sich in diesem Ton
aussprechen lässt, das zu fühlen, was er auf den Tisch
bringt, und das zu ignorieren, was er nicht erfasst.
Und weil der schöne Anlass einer Dankesrede für
einen großartigen Preis für literarische Kritik und
Essay mich zu persönlichen Bekenntnissen herausfordert,
muss ich nun von der inneren Stimme sprechen,
die mich als rettendes Gegengift zum kollektiven
Sprachbetrieb von jeher so fasziniert. Ich bin
davon überzeugt, dass das Hörbarwerden der inneren
Stimme darüber entscheidet, ob man es bei einem
Text mit großer Literatur zu tun hat. Und ich glaube,
dass das aufmerksame Gespür für die innere Stimme
eines Textes die Literaturkritik von der inhaltistischen
Nacherzählung von Romanhandlungen unterscheidet,
die bedauerlicherweise ebenfalls unter dem Etikett
Literaturkritik im Angebot ist.
Aber woran erkennt man die eigene Stimme?
Und gibt es sie überhaupt? Oder handelt es sich
dabei nur um einen kindischen und zivilisationsmüden
Traum von einer unbefleckten Sprache, die
die Schriftsteller und Schriftstellerinnen pfingstwunderhaft
aus der Masse der sprachlich Dressierten
und Gehirngewaschenen hervorhebt und sie
vor der, ich zitiere Martin Walser, »Macht des Vorgesagten« schützt, das alle anderen bereits »geistigseelisch
stubenrein« gemacht hat?
Ich glaube, dass es diese unverstellte Stimme gibt
und dass sie jeder Mensch unter dem Sprachmüll im
Briefkasten seines Inneren finden kann, auch wenn
es schwer ist, sie genau zu bestimmen, denn es gibt für
sie weder ein Anforderungsprofil noch eine Herstellungsanleitung.
Deswegen kann ich jetzt auch nicht
einfach eine Hörprobe einspielen, obwohl ich viele
Sätze im Ohr habe, in denen ich die unverstellte
Stimme gehört zu haben meine, Sätze über Abende,
an denen man bei grauem Licht mit dem Fahrrad in
ein Wäldchen hineinradelt, oder über Menschen, die
abends im Pyjama noch einen Blick in die Löschwasserfässer
mit dem blühenden Wasser in ihrem
Garten werfen. Aber solche Sätze beweisen gar nichts.
Viel besser kann man sagen, was die innere Stimme
nicht tut. Sie hütet sich davor, den allgemeinen Standard
und das Gewohnte schon für das Universale zu
halten. Sie misstraut der Homogenität, sie befreit von
Illusionen und Beschwichtigungen. Für Albert Camus
war sie die »Quelle im tiefsten Inneren jedes Künstlers,
die sein Leben lang speist, was er ist und was er sagt«.
Und für seinen Lieblingskritiker Roland Barthes
war
sie eine neue, von Mode und Meinungen unberührte
Schreibweise, die so elementar und stark ist, dass sie
es sich erlauben kann, auf das »komplexe System
unsichtbarer Anführungszeichen« zu verzichten.
Wenn ich mir von der Literaturkritik
etwas wünschen darf, dann
wünsche ich mir, dass sie den
zahllosen inneren Stimmen mehr
Aufmerksamkeit schenkt als den
abertausend Storys, die die Kritiker und Kritikerinnen
in der übernächsten Woche selbst wieder vergessen
haben, weil viele dieser angeblich unfassbar
relevanten Geschichten in einer der handelsüblichen
Konfektionssprachen erzählt wurden.
Auf die Gefahr hin, ein bisschen zu pathetisch zu
werden, würde ich gerne hinzufügen: Die eigene
Stimme ist kein Dekorartikel der Literatur, für den
eine höfliche Kritikerfloskel, im Vorbeigehen fallen
gelassen, schon ausreicht, um sich gleich wieder dem
gewichtigen Hauptgeschäft der Romanhandlung zuzuwenden,
deren Bedeutsamkeit doch nur ausgeliehen
wird bei den Debatten der Gegenwart. Obwohl eigentlich
die eigene Stimme der Stoff ist, aus dem alles
andere kommt: eine Art Urschrei des Schreibens.
Für mich war die Entdeckung der starken literarischen
Stimmen der Augenblick, der mir ein zweites
Leben geschenkt hat, das mir oft sogar lebendiger und
intensiver zu sein scheint als das erste. Denn die Sätze,
die solche starken Stimmen hervorbringen, fallen
nicht leblos zu Boden und vermüllen anschließend
die inneren Speicherplätze, sondern sie wirken nach
und enthüllen Wahrheiten, die man nicht lehren,
sondern nur erfahren kann. So wie man nach einer
schweren Krankheit zu einem zweiten, demütigeren
Leben kommen kann, in dem die Gesundheit nicht
mehr selbstverständlich ist, sieht man nach der Lektüre
großer Bücher klarer und erträgt die Zerbrechlichkeit
und Absurdität des Lebens gelassener.
Ich bedanke mich bei Péter Nádas, von dem ich über die Kraft der eigenen Stimme so viel gelernt habe, für seine Lobrede. Ich bedanke mich bei der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung für den Johann-Heinrich-Merck-Preis, der mir eine große Ehre ist.