Johann-Heinrich-Merck-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay pflegt seit 1964 das für die Literatur unverzichtbare Gegenüber der herausragenden Literaturkritik und der essayistischen Erkundung intellektuellen Neulands.

Der Preis trägt den Namen von Johann Heinrich Merck als eines Verfassers vorbildlicher Kritiken und Essays.

Der Preis wird von der Merck KGAa gestiftet und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Johann-Heinrich Merck-Preis wird vergeben für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literaturkritik und der Essayistik.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Anita Albus

Schriftstellerin und Malerin
Geboren 2.10.1942
Mitglied seit 2004

... die bei ihren Berichten die Präzision der Poesie und die Phantasie der Naturwissenschaft vereint...

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Klaus Reichert
Vizepräsidenten Peter Hamm, Uwe Pörksen, Ilma Rakusa, Beisitzer Friedrich Christian Delius, Heinrich Detering, Harald Hartung, Joachim Kalka, Peter von Matt

Laudatio von Martin Mosebach
Schriftsteller, geboren 1951

Das tatsächliche Eigenwesen der Farben

Die Heimat des Schriftstellers ist nicht unbedingt der Ort, an dem er geboren wurde. Manche Schriftsteller werden durch ein unglückliches Geschick aus ihrem Land in ein anderes vertrieben, das dann ihr neuer Resonanzboden wird, die Muschel, aus der heraus sie tönen. Andere etablieren sich in einer Wahlheimat und werden deren typischste Bewohner. Wieder andere emigrieren nur in ihrem Kopf in ein Reich, das nicht ganz von dieser Welt ist, dafür aber ihnen ganz allein gehört.
Wenn man hört, daß Anita Albus lange Zeit des Jahres in Burgund lebt, kann man sich aussuchen, welcher der genannten Gruppen man sie zuordnen möchte: natürlich liegt es nahe, in der Wahl eines solch anmutigen Exils auch eine Abkehr von deutscher Gegenwart, deutscher Geschmacklosigkeit, deutschem Lärm, deutschem Fortschritt zu vermuten. Populär sind solche Ausweichmanöver nicht. Strafend spricht man gern vom »Flüchten«. Die öffentliche Moral verlangt vom Künstler, daß er dort, wo ihn die Häßlichkeit bedrängt, auszuharren habe; Künstler sollen Rekorde brechen im Aushalten des ihnen Unzuträglichen. Der Künstler soll leiden, also darf der Künstler nicht fliehen.
Am Beispiel von Anita Albus studiere man, wie sinnvoll und nützlich das Fliehen sein kann, wie förderlich dem Werk. Man muß nur ins richtige Land fliehen. Und Burgund hat den immensen Vorteil, ein reales, mit seinen Weinbergen und Kuhweiden wirklich bewohnbares Land und zugleich ein unwirkliches, erträumtes, nur anhand von Kunstwerken und alten Büchern und in der Phantasie zu bereisendes Land zu sein, und dieser letzte Aspekt ist es wahrscheinlich, der es für Anita Albus unwiderstehlich gemacht hat.
Kaum ein Reich wurde derart in die Phantasie gegründet wie Burgund. Wenn man seinen letzten Herzögen zuhörte, waren die Burgunder Trojaner, die nach der Zerstörung Ilions alle Kultur der von Göttern gemauerten Feste übers Mittelmeer in ein Reich überführten, das von der Nordsee bis zum Genfer See reichte. Zugleich waren sie Abkommen der Argonauten und hatten das goldene Vließ im Format einer großen Heuschrecke nach Dijon gebracht, wo es jetzt an den schönsten Ketten, die jemals von der Goldschmiedekunst ersonnen worden sind, um die Hälse der Edlen gehängt wurde. Burgund ist das Land der romanisch-germanischen Hochzeit: die nordische Ästhetik des Ornamentalen, des Distel- und Ilexkranzes, spitz-stachliger Gotik, gefältelt und gezackt, des klettenartig Verzahnten und Verklammerten verbindet sich hier aufs schönste mit einem ruhig leuchtenden Realismus, miniaturesker Monumentalität, urbaner Menschenbeobachtung und Menschenerforschung. Einem Blick, der sich für die unerschöpfliche Vielgestaltigkeit der Vögel begeistert, muß der Versuch des burgundischen Adels, sich in seinen Ornaten und Rüstungen in ein phantastisches Vogelheer zu verwandeln, mit Federbüschen und Eisenschnäbeln, gespreizten und gespitzten Pantoffeln, geflügelten und geschwänzten Hauben, geplusterten und ausgestopften Ärmeln und Bäuchen, mit Storchenbeinen und Truthahnschenkeln, zutiefst sympathisch sein. Und daß dieses artenreiche Heer modern-uniformer Waffentechnik zum Opfer fiel, erhebt sein Schicksal zum Gleichnis für den Verlauf der europäischen Geschichte mit ihrem beispiellosen Zugewinn an technischer Effizienz und ihrem ebenso beispiellosen Verlust an sinnlich erfahrbarer Form. Für das essayistische Werk der Burgunderin Anita Albus scheint der Ausgang dieses ungleichen Kampfes jedoch noch nicht vollständig entschieden zu sein. Wie eine mythische Schlacht wogen die Truppen der bedeutungserfüllten Vielgestaltigkeit und der utilitaristischen Abstraktion gleichsam ewig und womöglich gar in jedem noch irgendwie europäisch gebildeten Lebewesen hin und her. Anita Albus trägt die Überreste einer zerschlagenen Kultur nicht wie eine Archäologin oder fromme Totengräberin zusammen, sondern wie das Mädchen aus dem von Runge den Brüdern Grimm mitgeteilten »Machandelboom« die vom Vater abgenagten Knochen des eigenen Bruders aufbewahrt: »... mein Schwesterlein klein / hub auf mein Gebein / da ward ich ein lichtes Waldvögelein / fliege fort!« Daß neues Leben in die schön angeordneten disjecta membra fährt, das ist die Hoffnung, vielleicht sogar die Gewißheit der Anita Albus.
Die Essayistin Anita Albus wird heute geehrt, nicht die Erzählerin und nicht die Malerin. Aber es wäre wohl allzu pedantisch, wenn man die Malerei, so wie sie sie betreibt, von ihrem Schreiben trennen wollte. Es geht in den Prosa- wie in den Temperastudien in hohem Maße um Erkenntnis. Goethes Satz: »Was ich nicht gezeichnet habe, habe ich nicht gesehen« könnte auch über den Blättern und kleinen Tafeln der Anita Albus stehen. So ist es kein Wunder, daß sie sich als Malerin in einem Genre ausgebildet hat, daß in der alten Welt mit ihren von uns hochmütig verachteten Kategorien noch gar nicht zum eigentlichen Bereich der Kunst gezählt wurde: dem wissenschaftlichen Aquarell, das ein Höchstmaß an Objektivität anstreben muß, um überhaupt brauchbar zu sein. Daß diese Objektivität von der maschinellen des Photos weit entfernt ist, enthüllt erst ein genaues Studium eines solchen Blattes, auf dem sich die porträtierte Pflanze in einer Vollständigkeit und Faßbarkeit präsentiert, die in der Natur gar nicht anzutreffen ist: die einzelne Pflanze ist die Summe vieler, die in sie eingegangen sind. Zur Ästhetik des wissenschaftlichen Aquarells gehören auch kleine Verfallsspuren auf Blättern und Blüten, eine welke Knospe, ein von Schnecken angefressenes Blatt; die Pflanze wird gleichsam wie auf einem mittelalterlichen Bild, das eine gesamte Heiligenlegende erzählt, in all ihren Lebensphasen zugleich dargestellt. Und dabei reckt und spreizt sie sich unzweifelhaft anthropomorph, sie ist sozusagen psychologisch gesehen, als eigenwilliges Lebensbündel voll Stolz oder Schmiegsamkeit oder Geduld. Anita Albus sucht in ihrer Analyse von Blatt und Stengel – jetzt neuerdings auch wieder von Feder und Schnabel – den Punkt, in dem die Beseelung und eine geradezu abstrakt werdende Zeichenhaftigkeit im Gegenstand zusammen fallen. Man kann sich bei Betrachtung dieser Studien, die sich in aller Eindringlichkeit mit der realen Erscheinung befassen, die Epoche der Menschheitsgeschichte vorstellen, in der aus den Bildern von Pflanzen und Tieren die Schriftzeichen wurden – in dieser Hinsicht gleicht Anita Albus beinahe jenen frühen Chinesen, für die das Malen und das Schreiben ein und derselbe Vorgang war.
Von verlorenen Farben heißt ein für unsere Zeit ganz besonders heilsamer Essay von Anita Albus aus dem weithin dankbar gelesenen Band Die Kunst der Künste, die für sie die Malerei ist, und zwar in besonderem Maß die Malerei aus dem Zwischenbereich zwischen Frankreich und Deutschland, die Malerei zwischen van Eyck und Vermeer. »Ich würde mein linkes Auge für die Zusammensetzung von Vermeers Malmittel geben«, hat Salvador Dali geschrieben. Er wußte freilich, daß sein Auge nicht in Gefahr war, denn Vermeers Bilder sind so verschwiegen wir ihre Sujets. Anita Albus ist weit davon entfernt, alle solche Ateliergeheimnisse der größten Zeit westlicher Malerei enthüllen zu wollen, aber sie weiß, welch erzieherischer Nutzen für unsere Gegenwart darin liegt, wenigstens etwas von der Fülle des Wissens dieser Zeit zu ahnen. Wer ihr in die Welt der »verlorenen Farben« folgt, erkennt die erschreckende Armseligkeit der wissenschaftlich-technisch-industriellen Kultur, die ihre Verluste gern mit ihrer angeblichen technischen Omnipotenz wettmachen möchte. Kulturen entwickeln dieselbe schlaue Geschicklichkeit, sich über ihre Unvollkommenheiten hinwegzuströsten wie der einzelne Mensch. Nachdem man die Überzeugung gewonnen hatte, daß die aufwendigen handwerklichen Methoden der europäischen Tradition gemessen an industrieller Fertigung teuer waren, entwickelte man eine pauperistische Ästhetik, die behauptete, all das Handgeschöpfte, Goldgepunzte, Mundgeblasene, Feuervergoldete, Handgeschnitzte, und -brodierte auch gar nicht mehr schön zu finden und haben zu wollen. Ich wüßte bei dieser Gelegenheit gern, wann eigentlich der reflexive Gebrauch des Wortes »rechnen« aufgekommen ist, wonach ein fotomechanisch gedrucktes Buch zum Beispiel brav ist und »sich« rechnet, während das danebenstehende bleigesetzte frecherweise keine Anstalten macht, »sich« zu rechnen. Vielleicht liegt ein Rest schlechtes Gewissen in dieser Verbiegung: die Gegenstände sollen ihre Unfähigkeit, »sich« zu rechnen, selbst eingestehen, so daß das Publikum der Entscheidung darüber enthoben ist.
Demgegenüber lenkt Anita Albus unsere Aufmerksamkeit auf das tatsächliche Eigenwesen der Farben. Wir lernen wieder, daß es absolute Farbe nicht gibt. Farben gehören stets zu Substanzen, sie konkretisieren sich in Gestalt von Blütenblättern, Blutstropfen, Tränen aus Blei, Erden, Kristallen, Steinen. Sie sind Landschaften zugeordnet, in denen sie gewonnen werden. Sie werden geerntet und ausgegraben und sie werden nach Rezepten zubereitet, die an die Küche erinnern: gemahlen und in Essig gekocht und durchgeseiht und in den Ofen geschoben und wie ein oberhessischer Handkäse unter Pferdedung vergraben. Unsichtbare Substanzen wie das poetisch benannte Marienglas oder Quarzsand, die ihnen beigemischt werden, fangen das Licht ein und leiten es gleichsam ins Innere der Farbe, die selbst im scheinbar opaken Auftrag noch wie ein Kristall von gespeichertem Sonnenlicht erstrahlt. Nach der Lektüre von Anita Albus erscheinen die Gemälde van Eycks wie aus Edelsteinen intarsiert in einer gleichsam doppelten Materialität: der vom Maler imaginierten und suggerierten des Fleisches, der Stoffe und Pelze und in der Materialität der kostbaren Farbmaterie selbst. Konservative Kulturkritik pflegt den Materialismus unserer Gegenwart zu beklagen, während wir uns doch eigentlich vorwerfen müßten, die Materien viel zu wenig zu lieben, zu feiern und zu verherrlichen. Lesen wir also Anita Albus’ Plädoyer für das Verlorene, das jeder einzelne, wenigstens in einem Akt hingegebener und neugieriger Betrachtung wieder zu sich zurückholen kann.