Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Jürgen Osterhammel

Historiker
Geboren 1.6.1952

... dem es gelingt, in einer Verbindung von Detailgenauigkeit und epischer Souveränität politische, sozioökonomische, kulturelle und mentale Geschichte in einer wahrhaft globalen, nicht mehr auf Europa oder »den Westen« ausgerichteten Perspektive zu erzählen.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Heinrich Detering
Vizepräsidenten Aris Fioretos, Gustav Seibt, Nike Wagner, Beisitzer Peter Hamm, Joachim Kalka, Navid Kermani, Per Øhrgaard, Michael Stolleis, Jan Wagner

Laudatio von Lutz Raphael
Historiker, geboren 1955

Welthistoriker mit Leidenschaft und Präzision

»Ich war [...] früh zu der Einsicht gelangt, daß ohne den ernsten Hang nach der Kenntniß des Einzelnen alle große und allgemeine Weltanschauung nur ein Luftgebilde sein könne.« Alexander von Humboldts Bemerkung – in der Vorrede zum 1845 erschienenen ersten Band von Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, einem Bestseller des 19. Jahrhunderts – eröffnet einen aufschlussreichen Vergleichspunkt, um Denkstil und Sprache des Historikers Jürgen Osterhammel zu beschreiben. Alexander von Humboldt fügte in seinem berühmten Spätwerk die Erkenntnisse der längst in ihre Einzeldisziplinen ausdifferenzierten Naturwissenschaft seiner Zeit über die natürliche Beschaffenheit unseres Globus für den Leser wieder zu einem Gesamtbild zusammen. Ihm gelang dies dank souveräner Kenntnis der Spezialforschung und kritischer Auswahl der bereits vorliegenden Stoffmassen. Erfolgreich war dies aber nur, weil er auch über die sprachlichen Gestaltungsmittel verfügte, eine solche Daten- und Materialfülle zur Anschauung zu bringen.
Jürgen Osterhammels Bücher, voran Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, leisten Analoges für die aktuelle Geschichtsforschung. Ihm wird heute der Sigmund-Freud-Preis verliehen, weil er Ernst macht mit dem Anspruch, Weltgeschichte auf der Höhe unseres gegenwärtigen Problembewusstseins und gleichzeitig auch auf dem Stand gegenwärtiger Geschichtswissenschaft zu schreiben. Jürgen Osterhammel mobilisiert dazu Fähigkeiten und Tugenden, die bereits die Zeitgenossen bei Alexander von Humboldt bewunderten: enge Vertrautheit mit der Spezialforschung und Reflexion über die Entstehung und Entwicklung der Begriffe und Erklärungsmodelle in den beteiligten Wissenschaften. Antriebskraft einer solchen Fähigkeit zur synthetisierenden Zusammenschau ist bei Jürgen Osterhammel – auch hier sei der Seitenblick auf Alexander von Humboldt gestattet – eine existentielle Leidenschaft für die kritische Erforschung der Welt, für »Wirklichkeitswissenschaft«, wie dies ein anderer Zeitgenosse des späten 19. Jahrhunderts, Max Weber, genannt hat.
Die Wirklichkeit, mit der sich Jürgen Osterhammel in seinen Forschungen beschäftigt, das waren von Anfang an die Prozesse, Kräfte und Zusammenhänge, die seit dem 18. Jahrhundert die Kulturen und Regionen der Welt miteinander verflochten haben. Chinas sogenannte Öffnung und spätere Unterwerfung unter die Machtambitionen und Wirtschaftsinteressen imperialer Mächte zwischen den 1830er Jahren und dem Zweiten Weltkrieg war der erste Beobachtungsraum des künftigen Universalhistorikers.
Bereits mit dem aus seiner Dissertation erwachsenen Buch China und die Weltgesellschaft. Vom 18. Jahrhundert bis in unsere Zeit verließ Jürgen Osterhammel die enge Welt der hochspezialisierten Fachkreise, suchte und fand den allgemeinen Leser. Ihm blieb er in seinen weiteren Buchprojekten treu. Stets hatte er beide, die Fachkollegen und die neugierigen Weltbürger, im Blick. Beide profitierten von dieser Doppelstrategie, und so wuchsen die Leserschaft und das intellektuelle Echo in Fachkreisen. Schritt für Schritt wagte sich unser Autor weiter vor. Sein nächstes großes Buch, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, weitet den räumlichen Horizont bereits auf die gesamte asiatische Welt aus, spannt den Bogen von Ägypten bis Japan und entdeckt gleichzeitig ein verschüttetes Kapitel aufklärerischer Anstrengungen zu kritischer Wirklichkeitsaneignung und sensiblem Fremdverstehen.
Den Weg hin zu seinem dritten Hauptwerk, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, markieren zahlreiche Aufsätze und Bücher zu Kolonialismus und Globalisierung, zu Methoden und Konzepten einer Global- oder Weltgeschichte. In ihnen entfaltet der Historiker seine Fähigkeit, auf knappstem Raum ebenso dichte wie präzise Grundlagentexte zu Schlüsselthemen der aktuellen Geschichtsforschung zu formulieren. Sprachlich kommen sie »ohne ein Gramm Fett« aus – wie er selbst einmal in anderem Kontext formuliert hat: schnörkellos, analytisch scharf und intellektuell anregend. Bereits zu diesem Zeitpunkt war der Historiker Osterhammel nach Neigung, Wissensstand und Erkenntnishorizont über die engen Grenzen seiner Spezialforschung längst hinausgewachsen, hatte den Mut gefasst, das scheinbar Unmögliche zu wagen und allen Unkenrufen skeptischer Kollegen zum Trotz den alten Vorbildern einer aufklärerisch-kritischen Wirklichkeitswissenschaft zu folgen und eine Gesamtdarstellung weltumspannender Prozesse und Kräfte im langen 19. Jahrhundert zu wagen.
Der Erfolg hat ihm recht gegeben, und wir Leser sind dankbar für eine Darstellung, die uns das 19. Jahrhundert erstmals so zeigt, wie es aus heutiger Problemlage angemessen ist: als Epoche, in der alle Regionen und Zivilisationen der Welt in einen immer dichteren historischen Zusammenhang traten und die vielen Knäuel von Verflechtungen, Abhängigkeiten und Konflikten entstanden, welche die Globalgeschichte bis heute zu entwirren versucht.
Diese große Forschungsleistung ist untrennbar mit einer beeindruckenden Darstellungsleistung verbunden. Sie beschränkt sich längst nicht auf die vielgepriesenen Erzählkünste von Geschichtsschreibern, verstanden als literarische Techniken und Kniffe des Erzählens. Dieser Sprachkunst kommt man in unserem Fall – dem Werk Jürgen Osterhammels – näher, wenn man den Blick weitet und den Stil des Autors in den Blick nimmt. Ich folge den Anregungen Peter Gays, des großen amerikanischen Kulturhistorikers der westlich-europäischen Bürgerwelten im 19. Jahrhundert und Autor der wohl bekanntesten Freud Biographie. Ihm zufolge muss der professionelle Historiker als Autor »dem Leser Vergnügen bereiten, ohne die historische Wahrheit zu kompromittieren«, er muss also schreiben können; als Forscher entwickelt er einen unverwechselbaren Stil eigener Forschungsarbeit und Wirklichkeitsaneignung. Hinter alldem können wir schließlich einen spezifischen Denkstil und sogar einen emotionalen Stil entdecken.
Klarheit, Eleganz, Geschmeidigkeit – diese Trias scheint mir geeignet, der Wortwahl und Satzgestaltung der Osterhammelschen Prosa näherzukommen. Adornos Diktum »das lax Gesagte ist schlecht gedacht« kann als Motto für die unermüdliche Begriffsarbeit des Autors Osterhammel dienen. Beharrlich kämpft er gegen die Folgen solcher Laxheit, die begriffliche Unklarheiten produziert. Unermüdlich klärt er die vielen überflüssigen Debatten, die aus der unzureichenden Klärung von Begriffen und Sachverhalten entspringen. Dem Leser präsentiert der Autor seine eigenen, präziseren Definitionen als freundliche Angebote ohne spektakulären Werbeaufwand.
Dieser Klarheit der Begriffe entspricht spiegelbildlich die Anstrengung, bei der Beschreibung der vielfältigen Wirklichkeiten der Vergangenheit Gemeinsamkeiten über kulturelle Distanzen hinweg zu verdeutlichen. Dazu wählt unser Geschichtsschreiber eine Sprache, die jeden Jargon, aber auch Manierismus meidet und nur wohldosiert couleur locale oder exotische Fachtermini verwendet. Der Autor vertraut auf die Verlässlichkeit und Geschmeidigkeit einer deutschsprachigen Wissenschaftsprosa, die den großen Texten unserer Wissenschaftstradition, aber auch den demokratischeren Gepflogenheiten englischsprachiger Historik verpflichtet ist. Sätze sind so kurz wie möglich. Auch Komplexes wird ohne Hast erklärt. Daraus ergibt sich der Gesamteindruck zurückhaltender Eleganz. Diese Eigenschaft tritt spätestens in dem Augenblick hervor, wenn es im Text darum geht, die weitgespannten, detaillierten Beschreibungen weltweiter Trends konzis zusammenzufügen.
Klarheit der Begriffe und lakonische Prägnanz der Beschreibungen schaffen Platz für Stilwechsel: Wenn es darum geht, das Für und Wider unterschiedlicher Ansätze und Theorien abzuwägen und gängige Meisterzählungen in ihre Schranken zu weisen, sucht unser Autor den Dialog mit seinem Leser, er verführt ihn geradezu zum Mitdenken darüber, welche Theorie tragfähig, welche Typologie angemessen sei. Dem Leser wird diese reflexive Aufmerksamkeit für die wissenschaftlichen Konstruktionsleistungen bei der weiten Reise durch die Verwandlung der Welt im 19. Jahrhundert zu einer treuen Begleiterin.
Geschichtsschreibung, die sich den zeit- und raumgreifenden Verbindungen einzelner Ereignisse, Sachverhalte in globalgeschichtlicher Absicht widmet, braucht vor allem tragfähige Formate, um diese verschiedenen Stränge der Darstellung zu bündeln und in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Um Osterhammel selbst zu zitieren: »Auf der einen Seite braucht er [der Weltgeschichtsschreiber] ein Gespür für Proportionen, für Größenverhältnisse, für Kraftfelder und Beeinflussungen, einen Sinn auch für das Typische und Repräsentative. Auf der anderen Seite muss er sich ein demütiges Abhängigkeitsverhältnis zur Forschung bewahren.« Unser Autor hat dafür eine Reihe von Darstellungstechniken entwickelt, die alle dem Ziel dienen, dem Leser eine Art panoramatische Sicht zu vermitteln. Das komplexe Zusammenwachsen der Welt im langen 19. Jahrhundert entfaltet sich in achtzehn Kapiteln, die klar umgrenzte Sachthemen bzw. übergreifende Zusammenhänge behandeln. Der Leser kann mit jedem dieser Kapitel seinen Einstieg in die komplexe historische Welt des 19. Jahrhunderts finden, von jedem Einstiegspunkt ergeben sich vielfältige Querverbindungen zu den anderen Kapiteln. Die Vielfalt der Entwicklungen wird in der Gliederung nachvollziehbar, dem Leser wird der Abschied vom linearen Erzählmuster einer Weltgeschichte leichtgemacht. Wer sich auf den Rhythmus dieses Buches einlässt, gewinnt einen Eindruck davon, wie unterschiedlich die Geschwindigkeiten waren, denen die vielen »feinen Prozesse« – ein typischer Begriff von Osterhammel – an den verschiedenen Orten der Welt folgten. Der Autor weiß aber auch um unsere Schwächen, unsere nachlassende Konzentration, die Gefahren einsetzender Mattigkeit. Immer wieder verdichtet er seine Beschreibungen der historischen Welten des 19. Jahrhunderts in Nahbeschreibungen von »Sonderwelten«; er präsentiert uns Weltgeschichte in »Pillenform«, wie dies Giorgio Manganelli genannt hätte. Moby Dick ist so eine Blitzreise in die Welt des Walfangs und der Walfänger überschrieben, und der Leser erfährt, quasi nebenbei, auch noch vieles über den großen Roman des 19. Jahrhunderts. Solche Vignetten, kurzen Dokumentarfilmen vergleichbar, schaffen Anschauung und Farbigkeit.
Hinter dem Prosastil ist auch ein Denkstil zu entdecken. Es ist der Denkstil eines Historikers, der die intellektuellen Herausforderungen seines Faches ernst nimmt, einen festen Platz im Ensemble der Wirklichkeitswissenschaften einzunehmen. Dazu gehören die kritische Prüfung und die argumentative Nutzung von Theorien großer wie mittlerer Reichweite. Dazu gehört aber auch die Entwicklung eigener Typologien und Begriffe als Bündelung historischer Vielfalt jenseits der Spezialforschung. Der Historiker Osterhammel diskutiert in seinen Texten immer wieder mit den Kollegen der Nachbardisziplinen und den Klassikern der modernen Sozialwissenschaften. Dies verbindet sich mit zwei Grundannahmen, die heutzutage keineswegs mehr Allgemeingut in den Geisteswissenschaften sind: zum einen der Annahme, dass Geschichtsschreibung Teil des umfassenderen Vernunftunternehmens genannt Wissenschaft sei. Die zweite Säule dieses Denkstils beruht auf der Erkenntnis, dass geschichtswissenschaftliche Beschreibung und sozialwissenschaftliche Theoriebildung nur zwei Seiten einer Wirklichkeitswissenschaft sind. Ob als Weltsystemtheorie oder historische Soziologie, die Versuche universalisierender Systematisierung finden ihre Grenze an der Vielgestalt der Vergangenheit, und nur die hinreichend nahe historisch-kritische Beschreibung der »feinen Prozesse« und ihrer Eigenzeitlichkeiten wird ihnen gerecht.
Die Prosa in den Werken Jürgen Osterhammels dient der Entfaltung einer solchen historischen Vernunft, die um das eigene Scheitern weiß, sobald sie den schwankenden Grund mühsamer Spezialforschung verlässt, sich von den Sirenenrufen eleganter Theoriegebäude verführen oder von dem Erzählfluss der großen Meistererzählungen mitreißen lässt.
Diese wissenschaftliche Prosa dient letztlich einem politisch-moralischen Zweck, ist sie doch aufs engste mit dem alten Projekt westlicher Aufklärer, aber auch Gelehrter anderer Zeiten und Kulturen verbunden, die Chancen kulturüberschreitender Vergleiche zu nutzen und eine Globalgeschichte jenseits der Scheuklappen der eigenen kulturellen Vorannahmen zu schreiben. Ihre emotionale Haltung fußt auf der wachsamen Empathie für die vielen, die den Lauf der Geschichte mehr ertrugen als gestalteten.
Letztlich beruhen Klarheit, Eleganz und Geschmeidigkeit des Stilisten Osterhammel darauf, dass er mit den von ihm bewunderten Pionieren kulturellen Fremdverstehens und wissenschaftlicher Neugierde im 18. Jahrhundert, mit den Aufklärern, die Wertschätzung für Urteilskraft, Erfahrung und common sense teilt. Aber hier ist er nicht allein, wie die wohlverdiente Aufmerksamkeit und wachsende Wertschätzung seines Werks durch Leser in der ganzen Welt und nicht zuletzt durch die Jury der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zeigt.
Lieber Jürgen, herzlichen Glückwunsch.