Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

IIse Grubrich-Simitis

Psychoanalytikerin
Geboren 22.2.1936

... für ihr über Jahrzehnte sich erstreckendes Bemühen um die Lesbarkeit des Werkes von Sigmund Freud, dem ihre Sorge ebenso in philologischer wie in hermeneutischer Hinsicht gilt.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Christian Meier
Vizepräsidenten Elisabeth Borchers, Peter Hamm, Norbert Miller, Beisitzer Giuseppe Bevilacqua, Kurt Flasch, Adolf Muschg, Erica Pedretti, Klaus Reichert

Laudatio von Walter Boehlich
Literaturkritiker und Publizist, geboren 1921

Kein Wandelstern, sondern ein Fixstern

Liebe Frau Simitis,
zu gerne möchte ich frei von der Leber weg, wie mir der Schnabel gewachsen ist, zu Ihrem Lobe anheben, nirgendwo aus meinem Herzen eine Mördergrube machen, sondern meinen Mund sprechen lassen, wessen mein Herz voll ist, aber es ist ja nicht bloß das volle Herz, sondern auch das so viel schwerer zu durchschauende Hirn, das Ihnen und Ihrem Werk zugewandt ist. Um dem Verdacht zu entgehen, der Subjektivität die Zügel schießen zu lassen und bei unserem ehrenhaften Publikum den Anschein zu erwecken, wir könnten eine gemeinsame Leiche im Keller haben, wo wir doch weder einen gemeinsamen Keller noch gar eine dort verborgene Leiche unser eigen nennen, wo wir doch allenfalls einige gemeinsame Vorlieben teilen und unter ihnen vor allem diejenige für den Mann, unter dessen Namen Ihnen heute ein Preis verliehen wird, dem Sie ein hochdifferenziertes wissenschaftliches Werk gewidmet haben, ich dagegen nur wenige dilettantische Bemühen – da sich dies also alles wie geschildert verhält, möchte ich einen anderen Weg suchen, der das Subjektive meines Ansatzes objektiviert, ohne daß mir ja gelingen könnte, Subjektives und Objektives in analytischer Schärfe zu trennen.
So kehre ich erst einmal zu den Formalien der etablierten Lobrede zurück und bekunde einerseits das wunderbare Vergnügen, die übergroße Wohltat, jemanden loben zu können, zu dürfen, ja selbst zu sollen, der in meinen Augen längst jedes Lob verdient hat, dem man getrost eine Lobrede widmen darf, ohne bei gerechter Betrachtung irgendwo den Verdacht erwecken zu können, sich nur bei dem Gelobten oder den Auslobern des Preises beliebt machen zu wollen oder gar lediglich einer lästigen Pflicht nachzukommen und dabei das übliche Arsenal der Laudatio auszuschöpfen.
Gerade das ist nicht mein Problem, sondern vielmehr, wie man jenseits Ihres unbestrittenen Werkes heutzutage gerade sollte darstellen können, daß dieses Werk, wie der Titel des Preises einfordert, nicht nur ein wissenschaftliches sei, lobenswert als solches, sondern auch in einer Prosa geschrieben, die gleichfalls Lob verdient, etwas das bei Freud keine Schwierigkeiten bereitete, nach den alten Verabredungen, die zu seiner Zeit noch galten – aber heute, wo alle Verabredungen Stil und Sprache betreffend über Bord geworfen sind, Prosa alles ist, was sich als Prosa ausgibt, so wie alles, was sich Gedicht nennt, ein Gedicht ist, außerhalb von Gelingen oder Mißlingen?
Zwei Jahrtausende lang hat Europa Kriterien besessen, was von der Prosa verlangt werde: sie sollte durch Redefiguren geschmückt sein, der Poesie nahestehen und rhythmisiert sein, als Kunstprosa, über die uns vor hundert Jahren Eduard Norden unterrichtet hat, mit all seiner Vorliebe für den Atticismus und seiner Abneigung gegen den Asianismus. Diese Tradition ist weitgehend mit dem einsetzenden Subjektivismus ausgelöscht worden, aber selbstverständlich ist eine neue Tradition an ihre Stelle getreten, die sich im deutschen Sprachraum vor allem an Winckelmann und den unüberwindlichen Goethe knüpft. Auf deren Spuren wandelten die Gelehrten, deren Texte wir noch heute bewundern, vor allem Alexander Humboldt, Leopold Ranke und Jacob Burckhardt, ein wenig auch Theodor Mommsen. Ihre Werke waren und sind lesbar, für jedermann. Aber ihre Wissenschaft ist seit einiger Zeit diskreditiert worden als vorwissenschaftlich, was besagen soll, den heutigen Standards nicht mehr genügend – den wissenschaftlichen, versteht sich, nicht den sprachlichen.
Daß wir ihnen in dieser Hinsicht jetzt mehr oder minder distanziert entgegenstehen sollen, hat seinen Grund in der zunehmenden Spezialisierung und in deren Gefolge der Ausbildung von Fachterminologien, die eben nicht mehr allgemeinverständlich sind. Hinzukommt die von Lustrum zu Lustrum wechselnde Abhängigkeit von theoretischen Moden, die etwas verschämt als jeweils neue Paradigmen kaschiert werden und die Gefahr in sich bergen, daß unter ihrem Einfluß die Sprache, die wissenschaftliche Prosa zum Jargon mutiert.
Diesem Schicksal konnte auch die Psychoanalyse mit ihrem stets weiterentwickelten Vokabular kaum entgehen, und da ist es nun interessant zu sehen, wie Sie sich bemüht haben, zwischen der Skylla der erwünschten Lesbarkeit und der Charybdis des geforderten wissenschaftlichen Theorieinstruments hindurchzusteuern – je nach Textsorte freilich und unter der erstaunlichen Forderung: zurück zu Freuds Texten, der Sie Ihre besten Arbeiten verdanken. Nicht nur diese Arbeiten, sondern auch völlig neue Einsichten, für die es in der deutschen Freud-Literatur nur wenige Beispiele gibt.
Intensiver als andere haben Sie darauf bestanden, Freud erst genau zu lesen, möglichst in seinen Handschriften, was Ihnen zu bedeutenden Einsichten verholfen hat, besonders in Ihrer Studie über den Mann Moses, und Ihnen hier und da zu Funden verhalf, mit denen niemand mehr gerechnet hat. Von diesen Texten ausgehend, haben Sie sich vorurteilsfrei Schritt vor Schritt weitergetastet, um endlich zu einer neuen Erkenntnis vorzustoßen, die uns alle bereichert hat.
Von dem genauen Lesen, das Sie ebenso vor dem reinen Nachbeten wie vor der vorschnellen Ablehnung bewahrt hat, war es nur ein Schritt, die Lesbarkeit des Freudschen Werkes in den Mittelpunkt ihrer Studien zu stellen, und das in der doppelten Hinsicht der philologischen Textherstellung und der hermeneutischen Klärung. Sie haben nicht allein das Corpus der zugänglichen Freud-Texte bereichert, durch Einzelstudien ebenso wie durch den voluminösen Nachtragsband zu den Gesammelten Werken, sondern auch sein Leben in Ihrer opulenten Bildmonographie anschaubar gemacht, die so viele Nachahmer gefunden hat. Mit andern Worten: wir haben Ihnen zu danken, für vielfältiges Mühen um den Mann, der das Selbstgefühl der Bourgeoisie so tief gekränkt hat wie vor ihm wohl nur noch Darwin. Man könnte auch sagen: Sie haben ihn gerettet.
Freud als Vorbild, Freud als Forschungsgegenstand, Freud wohl auch als Mentor – das muß Spuren auch in Ihrer Prosa hinterlassen haben. Wer gut liest und gut schreibt, der wird auch gut sprechen, im Sinne des εὖ λέγειν von dem Josef König 1937 in seiner Göttinger Antrittsvorlesung gehandelt hat. Unter ihm, sagte er, könnte man offenbar nur eben dies verstehen, daß jemand seinen Gegenstand im weitesten Sinn gut oder angemessen behandelt. Die Sprache sei das Darstellungsmittel der Wissenschaft und das theoretische Denken werde sichtbar nur im Wort. Das, denke ich, ist viel, wenn nicht schon alles, soweit es die Einzelwissenschaften betrifft.
Und nun endlich, nach dem einleitenden Einerseits das Anderseits: Was für ein unsinniges Unterfangen mit den dürren Worten, die mir allenfalls zur Verfügung stehen, eine loben zu wollen, die, wie sich gezeigt hat, über mein und anderer Lob lange hinausgewachsen ist, kein Wandelstern, sondern ein Fixstern. Man sollte das Unmögliche und das Unangemessene meiden, ein Versuch, der dazu geführt hat, daß diese Lobrede keine Lobrede im herkömmlichen Sinne werden konnte. Dafür entschuldige ich mich.