Friedrich-Gundolf-Preis

STATUT

§ 1
Der 1964 begründete Friedrich­Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland dokumentiert den Anspruch der Akademie, aktiv den Kulturaustausch zwischen den deutschsprachigen Ländern und anderen Nationen (insbesondere Europas) zu fördern und mitzugestalten.

Der Preis wird aus dem Jahreshaushalt der Akademie finanziert. Er ist mit 20.000 Euro dotiert und wird jährlich im Rahmen der Frühjahrstagung vergeben.

§ 2
Der Friedrich-Gundolf-Preis würdigt hervorragende Leistungen bei der Vermittlung deutscher Kultur, insbesondere der deutschen Sprache und Literatur in nicht deutschsprachigen Ländern. Dabei können auch Übersetzungsleistungen berücksichtigt werden, die der deutschen Literatur in anderen Sprachen Wirksamkeit verschafft haben.

§ 3
Der Preis darf nicht geteilt werden.

Kann der Preis aus zwingenden Gründen nicht ausgehändigt werden, so bleibt es dem Erweiterten Präsidium überlassen, die Verleihung des Preises auf das nächste Jahr zu verschieben.

§ 4
Eine Fachkommission der Akademie berät über Kandidatinnen und Kandidaten für den Friedrich-Gundolf-Preis. Sie besteht aus sieben sachkundigen Mitgliedern, die von der Mitgliederversammlung gewählt werden.

Auf der Grundlage des Vorschlags dieser Kommission für den Friedrich-Gundolf-Preis entscheidet das Erweiterte Präsidium über den Träger bzw. die Trägerin des Preises.

Eigenbewerbungen sind nicht möglich.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 24. März 2021

Kwang-Kyu Kim

Übersetzer, Germanist und Lyriker
Geboren 1.1.1941

... den eminenten Übersetzer, der deutsche Poesie von Heine bis Brecht und Günter Eich ins Koreanische überträgt...

Jurymitglieder
Kommission: Heinrich Detering, Norbert Miller, Ilma Rakusa, Lea Ritter-Santini, Jean-Marie Valentin

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Laudatio von Harald Hartung
Lyriker und Literaturwissenschaftler, geboren 1932

Der dritte Leser

In der prekären Lage der Poesie − aber wann war ihre Lage nicht prekär? – möchte man sich mit einem kleinen Gedicht trösten, einem Gedicht von Günter Eich. Es heißt »Zuversicht«, stammt aus dem Jahre 1967 und geht so:

»In Saloniki
weiß ich einen, der mich liest,
und in Bad Nauheim.
Das sind schon zwei.«

Der Vierzeiler läßt offen, ob und wieviele Leser noch hinzutreten. Das ist sein Optimismus, ist seine Hoffnung wider alle Hoffnung. Lassen wir den Leser in Bad Nauheim, eine innerdeutsche Sache, doch da ist noch der zweite, der Leser in Saloniki. Merkwürdig genug: ihn kennen wir sogar. Es war der damalige Leiter des Goethe-Instituts in Thessaloniki. Den dritten Leser aber, den wir schon aus zahlensymbolischen Gründen erwarten, hat Eich ausgespart. Und das nicht bloß, weil er sonst seine Pointe verfehlt hätte. Doch auch diesen dritten Leser gab es, besser: ihn gibt es. Er ist sogar unter uns.
Dieser dritte Leser war zu der Zeit, als Eich sein Gedicht schrieb, nämlich Mitte der sechziger Jahre, noch Student. Er lebte weit, weit hinter Saloniki. Er studierte Germanistik in der fernen großen Stadt Seoul. Seit 1950 war dieser Name uns vertraut, ein Städtename, den wir mit dem Koreakrieg verbanden, mit dem 38. Breitengrad, mit jener Demarkationslinie, die bis heute das Land teilt. Doch reden wir von unserem dritten Leser. Er war in Seoul geboren und neun Jahre alt, als dieser Krieg begann, zwölf als er endete. Zu Anfang seines Studiums nahm er 1960 an den ersten Demonstrationen gegen das korrupte System Syngman Rhees teil. Am 19. April 1960 brachen Studentenunruhen gegen den zum vierten Mal gewählten Präsidenten aus. Oberschüler und Bürger schlossen sich dem Aufstand an. Syngman Rhee trat zurück, Neuwahlen erfolgten, doch ein Jahr später gab es einen verhängnisvollen Militärputsch des General Park Chung-hee und in dessen Gefolge das autoritäre System der Dritten Republik.
Unser Protagonist, der das alles miterlebt hatte, schrieb später ein Gedicht über ein Zusammentreffen von Studenten. Darin heißt es:

»Dumm genug glaubten wir
für etwas anderes leben zu können
für etwas außerhalb von Politik
Das Treffen endete ohne Ergebnis
und abends tranken wir Reiswein
und sorgten uns ganz naiv

um Liebesprobleme und Teilzeitjobs und auch Militärdienst
Wir sangen so laut wir konnten
wir sangen Lieder, die niemand hören
und die niemand nachahmen konnte
Diese Lieder sangen wir unbelohnt
Sie stiegen auf in den Winterhimmel
und fielen wie Sternschnuppen«

Soviel über Studentenrevolte und Poesie. Der dritte Leser Eichs ist damals zum Dichter geworden; denn nur Dichter singen unbelohnte Lieder. Als Germanist nahm er die Möglichkeit wahr, in Deutschland zu studieren, und zwar in München, von 1972 bis 1974. Wir wissen auch, was ihn interessierte und woran er arbeitete. 1983 promovierte er an der Nationaluniversität Seoul über die Lyrik und die Hörspiele Günter Eichs. Höchste Zeit, ihn bei seinem Namen zu nennen.
Lieber Herr Kim, Sie sind der dritte Leser Günter Eichs, und mehr: Sie sind sein Übersetzer, sein Vermittler in der koreanischen Kultur; Sie schrieben eine Eich-Monographie, und es gibt seit 1978 die Gedichte Botschaften des Regens auf Koreanisch, seit 1986 einen Band mit Eichs Hörspielen, und das Hörspiel Sabeth machte als Schauspiel an koreanischen Theatern Furore. Und da ich schon beim Aufzählen bin: Sie sind der Übersetzer der Lyrik Heinrich Heines und Bertolt Brechts, und in diese realistische Linie – eher eine plebejische als eine pontifikale – passen auch Ihre Übersetzungen Peter Bichsels, Albert Ostermaiers und einiger anderer deutschsprachiger Gegenwartsautoren.
Das alles hat ein erstaunliches, ein überaus solides historisches Fundament, nämlich Ihre Anthologie Deutsche Gedichte des 19. Jahrhunderts. Sie reicht von Franz Grillparzer bis Detlev von Liliencron, von Friedrich Rückert bis Friedrich Nietzsche und behauptet einen Kanon, den wir in Deutschland schon nicht mehr voraussetzen können, der aber in Korea nach wie vor auf reges Interesse stößt.
Loben wir Ihren Weitblick, Ihre milde Insistenz, lieber Her Kim, Ihre weisheitsvolle Energie, so loben wir auch den Lehrer der Poesie, der das bürgerliche Habit eines Professors gewählt hat. Als Professor an der Hanyang Universität in Seoul sind Sie der Lehrer nun schon etlicher Generationen von Studierenden der deutschen Sprache und Literatur. Sie sind derjenige, der seit den neunziger Jahren immer wieder deutschsprachige Autoren nach Südkorea einlädt und Lesungen und Symposien organisiert. Sie haben, zusammen mit Ihrer Frau, mit Heyong Chong, diese Schübe von notorischen Einzelgängern − wie heißt das deutsche Wort? – betreut, bemuttert. Viele von uns haben Ihre Gastfreundschaft genossen und waren überrascht und angetan von dem schönen und genauen Deutsch, das Ihre Studenten und Studentinnen sprechen. Nicht minder von der Empathie, dem Enthusiasmus, den sie der deutschen Literatur entgegenbringen. All das ist auch deshalb erwähnenswert, weil wir als Gastfreunde die zureichende Antwort auf die koreanische Kultur schuldig bleiben mußten. Um so schöner und sinnfälliger finde ich, daß die Jury des Gundolf-Preises Ihnen diesen Preis zuerkannte, diese Ehrung für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland.
Nein, lieber Herr Kim, dies ist noch nicht die Stretta Ihrer Verdienste. Ich habe etwas Entscheidendes ausgespart. Die Tatsache, daß Sie ein Dichter sind, ein Lyriker eigener Art, der Autor von sieben Gedichtbänden und ausgezeichnet mit bedeutenden Literaturpreisen; ein Autor, der die politische Widerständigkeit in das koreanische Gedicht einführte; der einen realistischen, manchmal auch ironisch-satirischen Ton in die Zeichnung der Gesellschaft brachte; der als erster koreanischer Dichter die ökologische Thematik aufnahm und der – immer noch und immer wieder – Tradition und Moderne zu einer Synthese führt.
Von diesem in Europa noch zu wenig bekannten Dichter sei hier die Rede. Und was immer wir Ihnen und dem Bücherland Korea schuldig bleiben − es gibt Anzeichen von Resonanz.
Eine englische Ausgabe der Gedichte von Kim Kwang Kyu erschien 1991 in London und heißt Faint Shadows of Love. Das Titelgedicht ist eben jenes über die »Aprilrevolution« von 1961, über die »Dünnen Schatten der alten Liebe« und über die unbelohnten Lieder. Eine erste deutsche Auswahl aus dem lyrischen Werk erschien 1999 unter dem Titel Die Tiefe der Muschel, in der Übersetzung von Heyong Chong und Mathias Göritz.
Wie tief also ist die Muschel, aus der uns die Stimme der koreanischen Poesie, die Stimme Kwang-Kyu Kims tönt?
Es ist das Älteste und das Neueste zugleich. Wie ein Beispiel zeigen soll, das Gedicht »Lied für fünf Freunde«:

»Felsen und Bäume verdeckten uns
als wir zum ersten Mal unsere Liebe teilten
Weder geschlossene Türen noch dichte Gardinen
Nur Steine hier und da und Bambusblätter haben uns versteckt

Als wir im Kiefernwald bäuchlings den Atem unterdrückten
schützten uns vor den unermüdlichen Verfolgern
weder Handgranaten noch Maschinengewehr
Sondern das Dröhnen des Wasserfalls

Als wir, das Sternbild des Großen Bären im Rücken
verhungernd unsere Schritte nach Haenam beschleunigten
war das, was uns den Weg in der Dunkelheit wies
nicht die harte Ideologie, sondern der milde Mondschein«

Ist das ein Naturgedicht oder ein politisches? Ein modernes oder ein eher traditionelles? Es ist auf jeden Fall die Formulierung einer Erfahrung, der Erfahrung einer ganzen Generation, die es lernte oder lernen mußte, sich der Unterdrückung zu entziehen. Sie lernte die Tarnung, sie fand Schutz und Stille im Dröhnen des Wasserfalls. Wer aber wies ihr den Weg − den Weg nach dem rätselhaften Ort Haenam?
Kwang-Kyu Kim spielt auf ein altes Gedicht an, auf das Lied des Gelehrten Sondo Yun aus dem 17. Jahrhundert. Er lebte lange in Haenam, ganz im Süden Koreas, am Meer. Noch heute lernen die jungen Koreaner sein »Lied für fünf Freunde« auswendig – es sind die Freunde Wasser, Felsen, Kiefer, Bambus und Mond. Sie kehren bei Kwang-Kyu Kim wieder, als Felsen, Bambusblätter, Kiefernwald und Mondschein – immer noch lebendig, wenn auch unter den Bedingungen finsterer Zeiten. Kim als Übersetzer Brechts hält ein Gespräch über Bäume für möglich; und setzt auf das Wasser, das den Stein der Ideologie besiegt, auf den milden Mondschein, der den Weg nach Haenam erleuchtet.
Der moderne Dichter als die Inkarnation eines alten erzählt uns von seinen fünf Freunden, den Elementen, er spricht zu uns, und wir dürfen uns wiederum als Freunde gemeint fühlen – als Freunde, die er in seine Poesie einlädt wie in jenes Land, aus dem die geheimnisvolle grüne Keramik stammt, deren Farbe trotz jahrhundertelanger Bemühungen bis heute nicht nachgemacht werden konnte. Sie heißt nach dem alten Koryo, und die Staatsbezeichnung »Korea« soll aus diesem Reich stammen. Der Dichter Kwang-Kyu Kim bringt uns seine klare, grüne, geheimnisvolle Poesie als Gastgeschenk, und wir danken ihm von Herzen.